Autobiographien (Weimarer Republik)
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Für die Weimarer Republik liegt eine Fülle von bayerischen literarischen Darstellungen der eigenen Lebensgeschichte vor. Das stilistische und inhaltliche Spektrum ist äußerst vielfältig. Die Texte behandeln meist auch markante Ereignisse wie Revolution und Räterepublik, den Hitlerputsch, den Aufstieg der Nationalsozialisten oder Inflation und Weltwirtschaftskrise. Für die Erforschung dieser bewegten Epoche sind Autobiographien daher eine wichtige Quelle, insbesondere bei kultur-, alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen.
Der Quellenwert der Autobiographie
Als Quelle genießt die Autobiographie in der Geschichtswissenschaft oft einen denkbar schlechten Ruf. Zu offensichtlich treten die gattungstheoretischen Nachteile hervor; scheitert doch der Authentizitätsanspruch des Autobiographen nur zu leicht an der Wirkungsmacht des Subjektiven, sodass absichtliche oder unbewusste "Modifizierungen" häufig zu einer verzerrten und mehr oder weniger konstruierten "Wirklichkeit" führen. Der Wunsch nach einer logisch-positiven Darstellung und Interpretation des eigenen Lebenslaufs als Motiv für autobiographisches Schreiben kann die tatsächliche Abfolge der Ereignisse und Erfahrungen daher meist überdecken. Will der Historiker also wissen, wie sich die Dinge "wirklich" zugetragen haben, wird er die Sachakten den Autobiographien vorziehen.
Die Autobiographie muss aber dennoch als seriöse und wertvolle Quelle ernst genommen werden. Ihr spezifischer Quellenwert erschließt sich besonders in anthropologischen sowie kultur-, alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen. Im besten Fall bilden Lebenserinnerungen die Atmosphäre einer Zeit und Gesellschaft, in ihr herrschende Mentalitäten sowie das Geflecht persönlicher Netzwerke und Beziehungen ab. Der bloße Wahrheitsgehalt der geschilderten Ereignisse tritt dabei in den Hintergrund, interessant und aufschlussreich sind nicht die Fakten an sich, sondern die Art und Weise, wie die Autobiographie sie darstellt und interpretiert.
Die Autobiographik der Weimarer Zeit
Die Erforschung der Autobiographik der Weimarer Zeit kann wertvolle Beiträge zur geschichtswissenschaftlichen Analyse dieser besonders bewegten Epoche leisten. Gerade wenn man nach Ursachen und Gründen für die Entstehung, Gestaltung und Vernichtung der ersten deutschen Republik fragt, empfiehlt sich ein Blick in Autobiographien. Die zeitgenössischen politischen Diskussionen und Kontroversen, die gesellschaftlichen Spannungen und Spaltungen, die wirtschaftliche Krisensituation mit Inflation und Arbeitslosigkeit, das Kulturleben und Lebensgefühl der "Goldenen Zwanziger" lassen sich daraus sehr genau erschließen. Auch die zeitgenössische Brisanz eines politischen Themas kann durch Lebenserinnerungen erhellt werden, zum Beispiel durch Stellungnahmen zum Versailler Vertrag.
Von größtem Interesse für den Historiker ist daneben die "Beurteilung" der "Systemzeit" sowie die Selbstverortung des Autobiographen. Hier zeigt sich aber auch exemplarisch die quellentheoretische Problematik der Gattung, dienen Autobiographien, die den Weimarer Zeitraum abdecken, doch oft der nachträglichen Rechtfertigung eigenen Verhaltens. So muss die weltanschauliche Selbsteinordnung des Autobiographen mit Vorsicht aufgenommen werden, sie bedarf der Verifizierung oder Korrektur durch andere Quellen.
Die bayerische Autobiographik der Weimarer Zeit
Das geschichtswissenschaftliche Interesse an einer spezifisch bayerischen Autobiographik, welche die Weimarer Republik aus ihrer Sicht beurteilt und einordnet, liegt auf der Hand: insbesondere München als wohl bedeutendste süddeutsche Großstadt, als aufstrebende Kunst- und Kulturmetropole, spiegelt das politische Krisenszenario der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in besonderer Weise wider.
Die Fülle der für München vorliegenden Autobiographien (zwischen 1918 und 1933) ist quellenmäßig kaum zu bewältigen. Ihr hauptsächlicher gemeinsamer Nenner ist die Zugehörigkeit ihrer Autoren zu einer bestimmten politischen, sozialen, kulturellen und intellektuellen Elite. Die große Masse publizierter Autobiographien kommt aus ausgesprochen bürgerlichen Schichten, eine spezifische "Arbeiterautobiographik" hingegen lässt sich kaum ausmachen. Soweit vorhanden, scheinen von Arbeitern verfasste Autobiographien in der inhaltlichen und formalen Gestaltung nicht eklatant von der "bürgerlichen" Autobiographik abzuweichen (siehe Heim, Josefa Halbinger).
Inhaltliche Bandbreite
Der Blick des Autobiographen auf sein Umfeld, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, ist hauptsächlich von seinen persönlichen Interessen und charakterlichen Prägungen abhängig. Daraus ergibt sich auch die breite Streuung der Gattung: Thematisiert werden in den Autobiographien nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern auch Kunst, Kultur, Alltag, Berufsleben, Ehe und Familie, Hobbies und Freizeit. Markante, immer wieder geschilderte Ereignisse sind Revolution und Räterepublik, der Hitlerputsch, Adolf Hitler (1889-1945) und die NS-Bewegung, "Machtergreifung" und Inflation. Aber auch gesellschaftlich-politische Kontroversen, wie die Einschätzung des Ersten Weltkrieges und die Kriegsschuldfrage, kommen häufig zur Sprache. Fast einhellig durch alle weltanschaulichen Lager lehnen die Autobiographen die These der deutschen Alleinschuld am Weltkrieg ab. Dies mag für die Forschung ein wichtiger Ansatzpunkt in der Frage nach Abwehrhaltungen gegenüber der Weimarer Republik und Offenheit für nationalistische Strömungen sein.
Aber auch das Münchner Kultur- und Gesellschaftsleben lässt sich gut aus Autobiographien erschließen, besonders die soziale Vernetzung: Wer kannte wen und verkehrte miteinander? Solche Themen und lebensweltliche Bereiche werden je nach Vorliebe und Profession akzentuiert. Manche Autobiographien etwa blenden politische Ereignisse völlig aus und beschränken sich auf die bloße Schilderung des eigenen Berufs- und Privatlebens. Hier offenbart sich möglicherweise sowohl eine Abwehrhaltung als auch eine Rechtfertigung: einmal die Weigerung, sich mit den Bedingungen eines politischen Systems, das man innerlich ablehnte, zu befassen; zum anderen das Totschweigen und Verdrängen des Nationalsozialismus, den man damals nicht wahr- und ernst genommen haben will.
Stilistische Bandbreite
Interessant ist auch die stilistische Bandbreite der Autobiographien. Sie reicht von memoirenhaften über anekdotisch-biographische und eher selbstreflexiv-psychologisierende bis hin zu literarisch gefärbten Lebenserinnerungen, die stark ins Fiktionale umschlagen.
Beispiele "linker" Autobiographien
Aus der weltanschaulichen Einordnung der Münchner Autobiographien scheint sich eine quantitative Dominanz "linker" Lebenserinnerungen zu ergeben. Besonders eine Reihe von Protagonisten der Revolution und Räterepublik haben Autobiographien vorgelegt.
Der Dramatiker Ernst Toller (1893-1939) beschreibt in seinen Lebenserinnerungen "Eine Jugend in Deutschland" (1933) seinen durch die Ablehnung des Ersten Weltkrieges bedingten Weg in den Sozialismus (USPD), die Beteiligung an der Räterepublik, die Verhaftung nach der Zerschlagung der Räteherrschaft und seine Verurteilung zu fünf Jahren Festungshaft. Rückblickend zieht er dabei den Schluss, dass die Räterepublik an den Fehlern aller Beteiligten, USPD und KPD, gescheitert sei, wodurch beide Parteien große Schuld vor der deutschen Arbeiterschaft auf sich geladen hätten (S. 155).
Wilhelm Hoegner (1887-1980), Jurist und während der Weimarer Republik Landtags- und Reichtagsabgeordneter der SPD, 1933 in die Schweiz emigriert, setzt sich in seiner Autobiographie "Der schwierige Aussenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten" (1959) mit den wichtigsten politischen Ereignissen der Weimarer Zeit auseinander. Als Träger und Befürworter der republikanischen Staatsform analysiert er auch die verschiedenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ursachen für den Aufstieg des Nationalsozialismus und die "Machtergreifung" 1933 (S. 127ff.).
Der Politiker und Redakteur Josef Felder (1900-2000) gründete unter dem Eindruck der in München 1918/19 erlebten Revolution und Räterepublik im Juli 1919 in Mindelheim eine Ortsgruppe der USPD. Nach deren Anschluss an die Kommunistische Internationale wechselte er aber aus Protest zur SPD. 1924 bis 1933 arbeitete er als Redakteur für die sozialdemokratische "Schwäbische Volkszeitung" in Augsburg. 1932 wurde er in den Reichstag gewählt, wo er mit seiner Fraktion 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmte. Er kam nach seiner Verhaftung 1934 bis 1936 ins Konzentrationslager Dachau. Seine aus Reden, Interviews und Zeitungsartikeln zusammengestellten Memoiren "Warum ich Nein sagte. Erinnerungen an ein langes Leben für die Politik" (2000) schildern Felders politischen und publizistischen Kampf gegen den Nationalsozialismus während der Weimarer Republik.
Philipp Loewenfeld (1887-1963), jüdischer Rechtsanwalt in München und SPD-Mitglied, wurde in der Weimarer Republik wegen seiner politischen Strafprozesse berühmt, in denen er vorwiegend jüdische Bürger und die Münchner SPD vertrat. So verteidigte er nicht nur zahlreiche Revolutionäre und Räterepublikaner, darunter Ernst Niekisch (1889-1967) und Felix Fechenbach (1894-1933), er führte auch einen publizistischen Kampf gegen Missstände des Weimarer Rechtssystems. Als überzeugter Republikaner und Gegner des Nationalsozialismus musste er 1933 emigrieren. Mit seiner Autobiographie "Recht und Politik in Bayern zwischen Prinzregentenzeit und Nationalsozialismus. Die Erinnerungen von Philipp Loewenfeld" (1942 verfasst, 2004 veröffentlicht) will Loewenfeld einen Beitrag zur Aufhellung der Ursachen des Nationalsozialismus leisten (S. 3).
Max Hirschberg (1883-1964), wie sein Freund Philipp Loewenfeld jüdischer Rechtsanwalt und SPD-Mitglied in München, vertrat Anfang der 1920er Jahre gemeinsam mit Loewenfeld erfolgreich Felix Fechenbach (1894-1933), den Sekretär Kurt Eisners (1867-1919). Im Dolchstoßprozess verteidigte Hirschberg 1925 einen sozialdemokratischen Redakteur der Tageszeitung "Münchener Post", der die Dolchstoßlegende als Geschichtsfälschung bezeichnet hatte. Als aktiver Gegner des Nationalsozialismus wurde Hirschberg 1933 in Schutzhaft genommen, 1939 emigrierte er in die USA. Seine Autobiographie "Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts 1883 bis 1939" (1998 aus dem Nachlass veröffentlicht) thematisiert paradigmatisch die Wirren der Weimarer Republik und deren Scheitern.
Der Schriftsteller Oskar Maria Graf (1894-1967) schildert in seiner Autobiographie "Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt" (1927) die Ereignisse um Revolution und Räterepublik, wie er sie 1918/19 selbst auf der Straße erlebte. Die sehr literarischen, häufig mit dem Mittel der direkten Rede arbeitenden Lebenserinnerungen bilden drastisch die proletarischen Lebensumstände mittelloser Literaten und sonstiger Künstler ab. Von der Revolution erhofft sich Graf eine Verbesserug seiner materiellen Situation, ideologische Ismen betrachtet er mit Spott und Misstrauen. Erst durch die gemeinsame Haft mit Arbeitern nach der Räterepublik entwickelt er ein solidarisches Klassenbewusstsein (S. 475). Mit der Fortsetzung "Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933" (1966) will Graf anhand eigener Erlebnisse, die ihm exemplarisch erscheinen, den Niedergang der Weimarer Republik erhellen (S. 7).
Beispiele liberaler Autobiographien
Der liberale Staatswissenschaftler Julius Moritz Bonn (1873-1965) wandelte sich – obwohl ursprünglich kein Republikaner – während der Weimarer Zeit zum Befürworter der neuen Staatsform. Seine Lebenserinnerungen "So macht man Geschichte. Bilanz eines Lebens" (1953) beschreiben sein Engagement für die "Erfüllungspolitik", die er politisch und publizistisch unterstützte (S. 252).
Ernst Müller-Meiningen (1866-1944), 1919-1920 bayerischer Justizminister (DDP), rechnet in seiner Autobiographie "Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit" (1923) mit den Urhebern von Revolution und Räterepublik ab. Zwar gesteht er der Arbeiterschaft darin das Recht auf materielle und rechtliche Besserstellung zu, die russische und die deutschen Revolutionen führen in seinen Augen aber letztlich zur Vergewaltigung von Geist, Kultur und Religion (S. 6).
Die radikalen Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg (1857-1943) und Lida Gustava Heymann (1868-1943), die beide keiner Partei angehörten, befürworteten die Weimarer Republik und engagierten sich für Völkerfrieden und völlige Gleichstellung der Frau. In ihrer gemeinsamen Autobiographie "Erlebtes – Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden 1850-1940" (1972) beschreiben sie ihr politisches und publizistisches Wirken (S. 157ff.).
Hermann Luppe (1874-1945), 1920 bis 1930 Nürnberger Oberbürgermeister und einer der Väter der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), wandte sich in seiner Amtszeit immer wieder gegen die aufkommende nationalsozialistische Bewegung, wurde deswegen 1933 zum Rücktritt gezwungen und musste die Stadt verlassen. Seine 1936 bis 1939 entstandene Autobiographie "Mein Leben" (1977) befasst sich mit bayerischer Politik und Nürnberger Lokalpolitik während der Weimarer Zeit und beschreibt Luppes Engagement gegen den Nationalsozialismus.
Beispiele katholischer Autobiographien
Von katholischer Seite gibt es vergleichsweise wenige Autobiographien. Kaum ein BVP-Politiker scheint Lebenserinnerungen veröffentlicht zu haben.
Zwar existiert eine Autobiographie des Rechtsanwalts Josef Müller ("Ochsensepp", 1898-1979), der seit 1920 BVP-Mitglied war. Müller bekannte sich zur republikanischen Staatsform und fand schnell Eingang in den Freundeskreis des Ministerpräsidenten Heinrich Held (1868-1938). Seine Lebenserinnerungen "Bis zur letzten Konsequenz. Ein Leben für Frieden und Freiheit" (1975) berichten aber verhältnismäßig wenig über die Weimarer Republik. Sie schildern hauptsächlich Müllers Rolle im militärischen Widerstand gegen das NS-Regime und sein politisches Wirken in der Zeit nach 1945 (S. 51ff.).
Der Journalist Erwein von Aretin (1887-1952), konservativer Monarchist und überzeugter Katholik, war 1925 bis 1928 Vorsitzender des "Bayerischen Heimat- und Königsbundes". Der Bayerischen Volkspartei (BVP) gehörte er nicht an, da sie in seinen Augen zu wenig Engagement für die Wiederherstellung der Monarchie zeigte. Der Schwerpunkt seiner Autobiographie "Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes" (1955) liegt in der Schilderung seiner Hafterlebnisse im KZ Dachau 1933 (S. 133ff.).
Kardinal Michael von Faulhaber (1869-1952), 1917-1952 Erzbischof von München und Freising, verfasste in den Kriegsjahren 1942-1944 eine umfangreiche Autobiographie, die kurz vor der Veröffentlichung steht.
Der zwar protestantische, dennoch der BVP angehörende Gustav von Kahr (BVP, 1862-1934), der als Regierungspräsident von Oberbayern, Ministerpräsident und Generalstaatskommissar die bayerische Politik in den Jahren 1918 bis 1923 entscheidend prägte, verfasste 1925 bis 1928 Erinnerungen, die unter anderem auch Politik und Gesellschaft in München und Bayern zwischen 1921 und 1923 thematisieren, wobei die Rolle Bayerns im Reich, die Wahrnehmung von Revolution und Räterepublik durch die alten Machteliten sowie der Aufstieg des Nationalsozialismus und der Hitlerputsch im Mittelpunkt stehen. Die Memoiren Kahrs werden derzeit am Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München zur Edition vorbereitet.
Der BVP-nahe Carl Sittler (1882-1963), 1919 bis 1933 Oberbürgermeister von Passau, wurde nach der "Machtergreifung" durch die Nationalsozialisten zum 2. Bürgermeister zurückgestuft und verblieb bis 1945 in diesem Amt. Getreu seiner Überzeugung, dass ein Stadtrat kein Parlament darstelle, sondern in Vertretung der Bürger Verwaltungsaufgaben zu erledigen habe, thematisiert Sittler in seinen Erinnerungen aber kaum gesamtbayerische und deutsche Politik während der Weimarer Republik. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Darstellung konkreter kommunaler Verwaltungsarbeit während seiner Amtszeit.
Beispiele nationalkonservativer Autobiographien
Neben den "linken" Autobiographien dominieren zahlenmäßig solche, die man einer nationalkonservativen Richtung zuordnen kann. Allerdings muss man hier mit Etikettierungen vorsichtig umgehen, da es sich um eine sehr heterogene Gruppe handelt, die diffuse, wechselhafte und manchmal schwer deutbare Haltungen zur Weimarer Republik vertritt. Allen gemeinsam scheint das Bekenntnis zum untergegangenen Reich, zu Kaiser und Vaterland sowie die Trauer um den verlorenen Krieg, die verlorene Weltstellung Deutschlands. Das nationale Denken ist dabei unterschiedlich stark akzentuiert, es reicht von einer gemäßigten bis zu einer betont nationalen Richtung, die mehr oder weniger schon zum Nationalsozialismus tendiert. In der Beurteilung des Nationalsozialismus unterscheiden sich diese Autobiographien am offensichtlichsten: von der offenen Ablehnung bis zur gerade noch verhüllten Sympathie.
Der jüdische Chemiker Richard Willstätter (1872-1942), ab 1915 Professor in München, beschreibt sich in seiner Autobiographie "Aus meinem Leben. Von Arbeit, Muße und Freunden" (1949) als treuer Anhänger von Monarchie und Vaterland, ohne allerdings die Demokratisierung Deutschlands in der Weimarer Republik abzulehnen. Sein Lehramt an der Universität München legte er 1924 nieder, um so gegen die zunehmende Nichtberücksichtigung von Juden bei Neuberufungen zu protestieren. Der Schlusssatz seiner Erinnerungen, die er im Schweizer Exil verfasste, ist dennoch ein Bekenntnis zur deutschen Heimat (S. 407).
Der Historiker Karl Alexander von Müller (1882-1964), seit 1917 Privatdozent, seit 1928 Ordinarius für mittlere, neuere und bayerische Geschichte an der Universität München kann als Vertreter einer stark nationalkonservativ-monarchistischen Richtung gelten. Er lehnte die Weimarer Republik ab, symphatisierte offen mit dem Nationalismus und vorgegebenen Konservatismus der nationalsozialistischen Bewegung und wurde auch deren bereitwilliger Diener, wovon er beruflich maßgeblich profitierte. So äußert er sich in seiner Autobiographie "Im Wandel einer Welt" (1966) immer wieder zustimmend zu den "vaterländischen" Zielen der Nationalsozialisten (S. 133ff., S. 169ff.).
Beispiele nationalsozialistischer Autobiographien
Ernst Franz Sedgwick "Putzi" Hanfstaengl (1887-1975), Schriftsteller und Historiker, entstammte einer Münchner Verleger- und Kunsthändlerfamilie. Fasziniert von Adolf Hitlers Reden wurde er in den 1920er Jahren ein begeisterter Anhänger des Nationalsozialismus. Von Hitler zum Auslandspressechef der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ernannt, war es Hanfstaengels vorrangiges Ziel, durch seine internationalen Kontakte ein positives Bild des Nationalsozialismus zu vermitteln. Nach Differenzen mit Joseph Goebbels (1897-1945) und wachsender Entfremdung zu Hitler floh Hanfstaengel 1937 nach England. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er vom Weißen Haus und Pentagon als politischer und psychologischer Berater eingesetzt. In der stark apologetisch gefärbten Autobiographie "Zwischen Weißem und Braunem Haus. Memoiren eines politischen Außenseiters" (1970) schildert Hanfstaengel seine Rolle in der Münchner NS-Bewegung, wobei er immer wieder versucht haben will, einen mäßigenden Einfluss auf Hitler auszuüben und besonders die rassistischen, antisemitischen und antiklerikalen Ideen Alfred Rosenbergs (1893-1946) zu verdrängen (S. 47ff.).
Ernst Röhm (1887-1934), Militär und NS-Ideologe, schloss sich 1919 dem Freikorps von Franz Xaver Ritter von Epp (1868-1947) an, um sich an der militärischen Liquidation der Räterepublik zu beteiligen. Er trat 1920 der NSDAP bei, war mitverantwortlich für die Anlage geheimer Waffenlager und beteiligte sich mit seinem Wehrverband "Reichskriegsflagge" 1923 am Hitlerputsch. Seit 1931 baute er die Sturmabteilung (SA) zu einer Massenorganisation aus. Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten 1933 fiel er durch seinen Versuch, die SA als neues Volksheer neben der Reichswehr zu etablieren, bei Hitler in Ungnade und wurde 1934 im Zuge des „Röhm-Putsches“ ermordet. Mit seiner Autobiographie "Die Geschichte eines Hochverräters" (1928) will er seinen politischen Kampf dokumentieren, dem deutschen Frontkämpfertum einen maßgeblichen Platz im Staat zu verschaffen und ein zukünftiges völkisches Großdeutschland zu errichten (S. 10ff.).
Literatur
- Dagmar Günther, "And now for something completely different". Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), 25-62.
- Jürgen Lehmann, Bekennen, erzählen, berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988.
- Günter Niggl, Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 2. Auflage 1998.
- Albrecht Weber (Hg.), Handbuch der Literatur in Bayern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretationen, Regensburg 1987.
Quellen
- Erwein von Aretin, Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, hg. von Karl Buchheim und Karl Otmar von Aretin, München 1955.
- Anita Augspurg/Lida Gustava Heymann, Erlebtes Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden 1850-1940, hg. von Margrit Twellmann, Meisenheim am Glan 1972.
- Nicola Becker, Bürgerliche Lebenswelt und Politik in München. Autobiographien über das Fin de Siécle, den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik (Münchener Historische Studien. Abteilung Bayerische Geschichte 22), Kallmünz in der Oberpfalz 2014.
- Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte. Bilanz eines Lebens, München 1953.
- Josef Felder, Warum ich Nein sagte. Erinnerungen an ein langes Leben für die Politik, hg. von Nele Haasen unter Mitwirkung von Hannelore und Kurt Felder, Zürich 2000.
- Oskar Maria Graf, Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933, München 1966.
- Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt, München 1927.
- Ernst Hanfstaengl, Zwischen Weißem und Braunem Haus. Memoiren eines politischen Außenseiters, München 1970.
- Carlamaria Heim, Josefa Halbinger, Jahrgang 1900. Lebensgeschichte eines Münchner Arbeiterkindes, nach Tonbandaufzeichnungen zusammengestellt und niedergeschrieben, München 2. Auflage 1981.
- Max Hirschberg, Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwaltes 1883 bis 1939, bearbeitet von Reinhard Weber (Biographische Quellen zur Zeitgeschichte 20), München 1998.
- Wilhelm Hoegner, Der schwierige Außenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten, München 1959.
- Peter Landau/Rolf Rieß (Hg.), Recht und Politik in Bayern zwischen Prinzregentenzeit und Nationalsozialismus. Die Erinnerungen von Philipp Loewenfeld (Münchener Universitätsschriften Juristische Fakultät, Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 91), Ebelsbach 2004.
- Hermann Luppe, Mein Leben (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 10), Nürnberg 1977.
- Josef Müller, Bis zur letzten Konsequenz. Ein Leben für Frieden und Freiheit, München 1975.
- Karl Alexander von Müller, Im Wandel einer Welt. Erinnerungen 1919-1932, Stuttgart 1966.
- Ernst von Müller-Meiningen, Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin/Leipzig 1923.
- Ernst Röhm, Die Geschichte eines Hochverräters, München 1928.
- Carl Sittler, Erinnerungen, in: Ostbairische Grenzmarken 2 (1958), 9-25.
- Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland, Amsterdam 1933.
- Richard Willstätter, Aus meinem Leben. Von Arbeit, Muße und Freunden, hg. und mit einem Nachwort versehen von Artur Stoll, Weinheim 1949.
Weiterführende Recherche
Externe Links
- Ernst-Toller-Gesellschaft
- Hentig, Hans Wolfram von, "Müller, Karl Alexander von" in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), 440-442
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Empfohlene Zitierweise
Nikola Becker, Autobiographien (Weimarer Republik), publiziert am 11.05.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Autobiographien_(Weimarer_Republik)> (5.10.2024)