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Dolchstoßlegende

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Titelblatt der Süddeutschen Monatshefte, April 1924.
Titelblatt der Süddeutschen Monatshefte, Mai 1924.

von Rainer Sammet

Der Ausdruck "Dolchstoß-Legende" steht für das Bemühen vor allem der politischen Rechten, nach dem Ersten Weltkrieg die Niederlage Deutschlands mit verräterischen Handlungen bzw. politischen Fehlern innerhalb des Reiches selbst (Defätismus der Bevölkerung, Novemberrevolution 1918, Passivität des Staates) zu erklären. Die Linksparteien sowie die deutschen Juden wurden pauschal dafür verantwortlich gemacht. Auf der anderen Seite sah die gemäßigte Linke in den expansiven Kriegszielen der Rechten eine Ursache der Niederlage. Vertreter der radikalen Linken bekannten sich offen zu den Vorwürfen der Rechten. Ab Ende 1918 versuchten die großen Parteien mit unterschiedlicher Intensität, den vermeintlich von den jeweiligen innenpolitischen Gegnern verübten "Dolchstoß" zu instrumentalisieren; eine herausragende Bedeutung erlangte dieses Thema bis 1933 jedoch nicht. Innerhalb des rechten Lagers bemühte man sich allerdings, Lehren aus den als "Dolchstoß" wahrgenommenen Ereignissen von 1918 zu ziehen, was zum Teil nach 1933 und insbesondere im Zweiten Weltkrieg seinen Niederschlag in der nationalsozialistischen Politik fand.

Ursprung des Dolchstoßvorwurfs

Bereits lange vor dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 wurden Vorwürfe laut, eine siegreiche Kriegführung werde durch Vorgänge in Deutschland selbst gefährdet. Anlässlich der Streiks Ende Januar 1918 beispielsweise war in zahlreichen Tageszeitungen von "Landesverrat" die Rede, so etwa im Miesbacher Anzeiger (Nr. 26, 3. Februar 1918).

Während die Vorstellung eines "Dolchstoßes" im Kern bereits vor Kriegsende formuliert war, kann der Begriff selbst in der Öffentlichkeit ab Dezember 1918 sicher nachgewiesen werden (Deutsche Tageszeitung, Nr. 641, 17. Dezember 1918; Kreuz-Zeitung, Nr. 665, 31. Dezember 1918). Die Dolchstoß-Legende lässt sich jedoch nicht auf diesen Begriff reduzieren. Vielmehr sind dazu auch inhaltlich eng verwandte Formulierungen wie "in den Rücken fallen" oder "Verrat" zu zählen, die in der Alltagssprache allgemeine Verwendung finden. Die Entstehung des Dolchstoßvorwurfs ist demnach weder einer Einzelperson zuzuordnen noch auf ein bestimmtes Datum festzulegen.

Die militärischen Ursachen der Niederlage 1918

Im Gegensatz zu 1945 waren am Ende des Ersten Weltkriegs die deutschen Streitkräfte nicht zerschlagen und das Reich mit Ausnahme kleiner Gebiete im Elsaß nicht von gegnerischen Truppen besetzt; Russland, Rumänien und Serbien waren geschlagen. An der Westfront waren jedoch im Frühjahr 1918 mehrere verlustreiche deutsche Offensiven nach spektakulären Anfangserfolgen gescheitert, seit Mitte Juli befanden sich die deutschen Truppen auf dem Rückzug. Das von der militärischen Führung initiierte Friedens- und Waffenstillstandsangebot vom 3. Oktober 1918 beruhte auf der Einsicht, dass Deutschland angesichts der zunehmenden quantitativen und teilweise auch qualitativen Überlegenheit seiner Gegner – zumal nach dem Kriegseintritt der USA – keine Aussichten mehr hatte, deren Vormarsch längerfristig aufzuhalten. "Alle Tapferkeit des Heeres", so stellte ein deutscher Armeeführer am 14. November 1918 fest, "konnte, als die Amerikaner hinzukamen, nicht über die Schwäche der Bataillone hinweghelfen" (General von der Marwitz, Weltkriegsbriefe, Berlin 1940, 347). Bereits seit dem Frühjahr hatte der bayerische Kronprinz Rupprecht (1869-1955) als Führer einer Heeresgruppe das sich verschlechternde Kräfteverhältnis konstatiert, mit dem sich die deutsche Niederlage hinreichend erklären lässt (vgl. Mein Kriegstagebuch. 3 Bände, München 1929).

Defätismus und Revolution: Zentrale Ursachen der Niederlage aus Sicht der Rechten

Im Zentrum der rechten Vorwürfe standen der Defätismus und die Novemberrevolution. Die Förderung des Defätismus habe langfristig die Moral von Heer und Heimat "unterhöhlt"; damit sei der als ausschlaggebend angesehene Wille zum Sieg entscheidend geschwächt worden. Als erster Höhepunkt galt hierbei die Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917.

Als Symptom des bewusst herbeigeführten moralischen Verfalls machten die Rechten ferner die deutliche Zunahme von "Drückebergerei" und Desertion im letzten Kriegsjahr aus. Die Revolution habe dann im Herbst 1918 schlagartig jedes Weiterkämpfen unmöglich gemacht und damit die Annahme von Waffenstillstandsbedingungen erzwungen, die einer Kapitulation gleichkamen. Durch eine Fortsetzung des Krieges, so das Argument, hätte das Deutsche Reich zumindest bessere Bedingungen erkämpfen können.

Linksparteien und Juden: Hauptschuldige aus Sicht der Rechten

Für Defätismus und Revolution machten die Rechten diejenigen politischen Gruppen verantwortlich, denen sie bereits vor 1914 eine "vaterlandslose" beziehungsweise "reichsfeindliche" Gesinnung unterstellt hatten. Dazu zählten in erster Linie sozialdemokratische, später auch kommunistische Organisationen, aber auch die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei sowie das katholische Zentrum. Die Juden als rassisch definierte Gruppe wurden beschuldigt, die Linksparteien zur Durchsetzung jüdischer Interessen einzusetzen. Darüber hinaus wurde den Juden pauschal unterstellt, die Kriegswirtschaft zu sabotieren und damit für Schwarzmarkt und Hunger verantwortlich zu sein. So führte Alfred Rosenberg (1893-1946) die "Schöpfung der volksauswuchernden Kriegsgesellschaften, deren Tätigkeit u. a. der Zusammenbruch zu verdanken ist" (Novemberköpfe, München 2. Auflage 1939, 11) auf den von Rechtsextremisten ermordeten Juden Walther Rathenau (1867-1922) zurück.

Die politische Führung: Mitschuldige aus Sicht der Rechten

Neben den genannten Gruppen machte die Rechte auch die politische Führung der Kriegsjahre für die Niederlage verantwortlich, darunter auch Georg Graf von Hertling (1843-1919), der 1917/18 Reichskanzler gewesen war. Sie legte diesem Personenkreis in erster Linie das Eintreten für einen Verständigungsfrieden zur Last, das als Schwächung des Siegeswillens angesehen wurde. Zudem habe die deutsche Propaganda versagt, da sie es nicht vermocht habe, die Moral der Deutschen positiv, also im Sinne des von rechts propagierten Siegfriedens, zu beeinflussen. Ein weiterer Kritikpunkt war das Engagement für eine Demokratisierung der Verfassung. Der Vorwurf, vor 1914 seien notwendige Rüstungsmaßnahmen durch den Reichstag verhindert worden, zielte schließlich auf die Institution des Parlaments und damit auf das politische System als solches.

Die Schuld der Rechten: Vorwürfe der demokratischen Linken

Bereits in den letzten Kriegswochen wurden im linken Lager Stimmen laut, die die Rechte für die sich abzeichnende Niederlage verantwortlich machten. Im Mittelpunkt dieser Vorwürfe standen die expansiven Kriegszielforderungen und der angestrebte Siegfrieden, die jegliche Verständigung mit den Gegnern unmöglich gemacht hätten. Im Kampf gegen den innenpolitischen Gegner und wohl auch als Reaktion auf dessen Angriffe machte sich die Linke dabei die Terminologie der Rechten zu eigen, wie ein Artikel der Frankfurter Zeitung belegt: "Die Männer, die um dynastischer oder aus nationalistischer Großmannssucht keinen Frieden ohne Annexionen dulden wollten, die waren die Dolchstößler" (Nr. 815, 1. November 1925).

Das Kriegsende aus Sicht der radikalen Linken

Ein Randphänomen stellt der Umgang radikaler Linker mit dem Thema "Dolchstoß" dar. Im Gegensatz zur Mehrheitssozialdemokratie bekannte sich beispielsweise der USPD-Politiker Kurt Eisner (1867-1919) ausdrücklich zu den von rechts erhobenen Vorwürfen. Aus dieser Perspektive stellte jedoch nicht die Revolution ein Verbrechen dar, sondern der Krieg an sich. Der Kampf gegen den Krieg aber galt nicht nur als ein Recht, sondern regelrecht als Pflicht. Vor allem die Kommunisten bezogen den Begriff "Dolchstoß" schließlich auf den vermeintlichen Verrat der SPD an den Interessen der Arbeiterklasse.

Die Dolchstoßthese in der Innenpolitik

Die Dolchstoßthese war in der Öffentlichkeit bis 1933 präsent, doch spielte sie in den Wahlkämpfen auf Reichsebene von Anfang an keine ausschlaggebende Rolle. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verlor sie zunehmend an Bedeutung. Während vor allem die Rechte ihren innenpolitischen Gegner mit dem Vorwurf des "Dolchstoßes" zu diffamieren suchte, reagierte die gemäßigte Linke mit einer Kombination aus eigenen Vorwürfen und sachlichen Gegenargumenten.

In Bayern führte die "verzerrte Analyse der Revolutionsursachen" bereits 1919 zu Überlegungen der Behörden, "das Ausländerrecht unter dem Vorzeichen der Revolutionsprävention zu verschärfen" und insbesondere sogenannte Ostjuden auszuweisen (Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999, 54f., 246f.).

Auf die Angriffe der von Paul Nikolaus Cossmann (1869-1942) herausgegebenen Süddeutschen Monatshefte im April und Mai 1924 reagierte die sozialdemokratische Münchener Post innerhalb der zwei Wochen vor den Reichstagswahlen vom 4. Mai mit rund einem Dutzend Beiträgen. Die Post attackierte dabei nicht nur ihrerseits die Rechte, sondern führte auch die "zahlenmäßige Überlegenheit unserer Gegner an Menschen und Kriegsgerät" als sachliches Argument gegen die von rechts vertretene Dolchstoßthese an (Nr. 99, 28. April 1924). Die Auseinandersetzungen zwischen Cossmann und der Münchener Post fanden 1925 ihre juristische Fortsetzung im "Dolchstoß-Prozess". Mit der Endphase des Krieges beschäftigte sich von 1919 bis 1928 auch ein Untersuchungsausschuss des Reichstags.

Rechte Lehren aus dem vermeintlichen "Dolchstoß"

Innerhalb des rechten Lagers und vor allem für den Nationalsozialismus spielte die Frage nach den Ursachen der Niederlage von 1918 eine größere Rolle als in der Öffentlichkeit insgesamt. So sprach Adolf Hitler (1889-1945) vor 1933 von der "ausschlaggebende[n] Bedeutung" dieser Frage für eine politische Bewegung, "deren Ziel ja eben die Überwindung dieser Niederlage sein soll" (Mein Kampf, München 538.-542. Auflage 1940, 247), und setzte sich das Ziel, "Deutschland in seinen Grundlagen so sauber und kräftig und stark" zu machen, "daß es für alle Zukunft Katastrophen wie am 9.11.1918 nicht mehr erleben kann" (Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. 3. Band, 1. Teil, München 1994, 192).

Nach dem 30. Januar 1933 wurden mit dem parlamentarischen System und dem Parteienpluralismus schnell zentrale Faktoren des vermeintlichen "Dolchstoßes" von 1918 beseitigt. Die Gründung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda beseitigte ein weiteres Manko, das im Kontext der Dolchstoß-Legende immer wieder genannt wurde. Zahlreiche Äußerungen führender Nationalsozialisten weisen darauf hin, dass die Absicht, die Gefahr eines neuen "Dolchstoßes" auszuschalten, auch bei der Genese des Holocaust eine wichtige Rolle spielte. Joseph Goebbels (1897-1945) beispielsweise notierte nach einem Gespräch mit Hitler im Mai 1942, auch "im November 1918 wäre noch einiges zu machen gewesen, wenn ein energischer Mann brutale Machtmittel angewandt hätte". Um "subversiven Bewegungen" in Deutschland Einhalt zu gebieten, seien die Juden zu "liquidieren" (Tagebücher. 4. Band, München 1992, 1805).

Literatur

  • Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration: das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, Düsseldorf 2003.
  • Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, "Dolchstoß"-Diskussion und "Dolchstoß"-Legende im Wandel von vier Jahrzehnten, in: Waldemar Besson/Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen (Hg.), Geschichte und Gegenwartsbewußtsein. Historische Betrachtungen und Untersuchungen. Festschrift für Hans Rothfels, Göttingen 1963, 122-160.
  • Joachim Petzold, Die Dolchstoßlegende. Eine Geschichtsfälschung im Dienst des deutschen Imperialismus und Militarismus, Berlin [Ost] 1963.
  • Rainer Sammet, "Dolchstoss". Deutschland und die Auseinandersetzung mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg (1918-1933), Berlin 2003.
  • Rainer Sammet, Judenmord als Mittel der Kriegführung. Die mörderische "Lehre" aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 23 (2010), 201-233.

Quellen

  • Elke Fröhlich (Bearb.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, München [u. a.] 1993-2008.
  • Erich Ludendorff, Kriegführung und Politik, Berlin 1921.
  • Walter Schücking u. a. (Hg.), Das Werk des Untersuchungsauschusses der Deutschen Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstags 1919-1926. Verhandlungen/Gutachten/Urkunden, im Auftrag des Reichstags. 4. Reihe: Albrecht Philipp (Hg.), Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918, 12 Bände, Berlin 1925-1929.
  • Süddeutsche Monatshefte, April 1924 ("Der Dolchstoß") und Mai 1924 ("Die Auswirkungen des Dolchstoßes. Neue Dokumente").

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Rainer Sammet, Dolchstoßlegende, publiziert am 31.05.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Dolchstoßlegende (28.03.2024)