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Urbanisierung

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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von Manfred Krapf

Die überproportionale Zunahme der Stadtbevölkerung und die Herausbildung einer urbanen Lebensform sind wesentliche Kennzeichen der Urbanisierung. Die Urbanisierung der modernen Neuzeit ab etwa 1800 ist dabei nicht mit dem Städtewachstum im Hochmittelalter oder in der Frühen Neuzeit zu verwechseln. Die Kommunen in Deutschland und Bayern verzeichneten im Zuge von Industrialisierung und damit zusammenhängender Landflucht ein zum Teil exorbitantes Bevölkerungswachstum. Mit der Urbanisierung eng verbunden ist der Ausbau kommunaler Leistungsverwaltung (u. a. Bildung, Energie, Fürsorge, Verkehr) in den Städten. Das Phänomen der Urbanisierung führte nicht nur in Bayern dazu, dass der Grad der Verstädterung stark angestiegen ist. Die Folge daraus ist die Suburbanisierung der Regionen um die alten Stadtzentren (Schlafstädte, Trabantenstädte) sowie in den vergangenen Jahrzehnten eine zunehmende Post-Suburbanisierung.

Einführung

Entwicklung der Stadt München seit dem 12. Jahrhundert. (Karte aus: Spindler/Diepolder: Bay. Geschichtsatlas, 43)
1880 waren auch heute innerstädtische Stadtteile Münchens wie hier das Lehel noch relativ locker bebaut. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-011646)

Unter Urbanisierung versteht man zum einen eine überproportionale Zunahme der Stadtbevölkerung und zum anderen die Herausbildung einer urbanen Lebensform mit erheblicher Auswirkung auf die Gesamtgesellschaft, also einen qualitativen Prozess. Quantitativ ist Verstädterung demzufolge das schnellere Wachstum der Bevölkerung in den Städten im Vergleich zur Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Diese "Urbanisierung im exakten Sinn" (Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 510) unterscheidet sich prinzipiell von der Städteausbreitung seit dem Hochmittelalter und in der Frühen Neuzeit. In Deutschland erlebte die vor allem von der Industrialisierung vorangetriebene Urbanisierung ihren Höhepunkt in den Jahren des Kaiserreichs. In der Zwischenkriegszeit ebbte das städtische Wachstum wieder ab. Die Urbanisierung setzte bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein und klang erst in den 1960er Jahren aus. Nur als Hinweis auf die gesamtdeutsche Entwicklung in der Kernphase der Urbanisierung sei genannt: 1871 lebten noch 63,9 % aller Deutschen in Gemeinden mit bis zu 2.000 Einwohnern, 1910 war deren Anteil auf 39,9 % zurückgegangen. Am stärksten wuchsen die Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern: 1871 lebten in den acht Großstädten lediglich 4,8 % der Gesamtbevölkerung, 1910 waren es in den nunmehr 48 Großstädten bereits 21,3 %.

Die Urbanisierung und der Ausbau der kommunalen Leistungsverwaltung

Die Hochphase der Urbanisierung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts brachte den massiven Ausbau der kommunalen Leistungsverwaltung als Reaktion auf den enormen Einwohnerzuwachs. Die Versorgung der Städte mit Gas, Strom und Wasser wurde erheblich ausgebaut und vielfach in kommunale Hand überführt. Auch Verkehrsinvestitionen wie Straßenbahnen und ein deutlicher Ausbau der Schulen zählen hierzu. Des Weiteren stieg die Anzahl sozialpolitischer Einrichtungen wie Krankenhäuser, Beratungsstellen oder Bäder. Zudem begann eine vielfach aktive kommunale Wohnungspolitik. Dieser Gesamttrend, der auch in Bayern zur Geltung kam, führte aber zu einer wachsenden Verschuldung der Städte, da deren herkömmliche Einnahmen diesen Aufgabenzuwachs nicht mehr decken konnten.

Urbanisierung in Bayern: Gesamtverlauf

Entwicklung der Stadt Nürnberg seit dem 11. Jahrhundert. (Karte aus: Spindler/Diepolder: Bay. Geschichtsatlas, 44f.)
Um 1880 überschritt Nürnberg die 100.000-Einwohner-Grenze. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-030872)
Entwicklung der Stadt Augsburg seit dem 10. Jahrhundert. (Karte aus: Spindler/Diepolder: Bay. Geschichtsatlas, 44f.)
Entwicklung der Stadt Würzburg seit dem 10. Jahrhundert. (Karte aus: Spindler/Diepolder: Bay. Geschichtsatlas, 44f.)

Auch in Bayern erfolgte das stärkste Bevölkerungswachstum zwischen 1871 und dem Ersten Weltkrieg. Wuchs die Einwohnerzahl von 1816 bis 1870 um 36,6 %, so stieg sie zwischen 1871 und 1910 um 41,2 %, wobei ebenfalls die großen Städte - München, Nürnberg, Fürth, Würzburg - am meisten profitierten. Das Bevölkerungswachstum war von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1939 auch in Bayern ein Städtewachstum; insbesondere die Industriestädte und München nahmen am stärksten zu. Somit fand auch in Bayern der Prozess der Urbanisierung statt, wobei die Landflucht als "Voraussetzung der Urbanisierung" (Fehn, Bevölkerung, 12) fungierte. Die Wanderungsbewegungen bildeten die Grundlage für das Städtewachstum und das Entstehen der Industrie.

Bei allen Wanderungen dominierte die Nahwanderung aus dem unmittelbaren Umland der Städte oder aus benachbarten Regierungsbezirken; Fernwanderungen spielten in Bayern keine besondere Rolle. Nur in Augsburg gab es nennenswerte Zuwanderung aus einem anderen Land (Württemberg). Lebten 1871 noch 76,4 % der bayerischen Bevölkerung in Gemeinden mit bis zu 2.000 Einwohnern, waren dies 1910 nur noch 55,3 %. Von 1855 bis 1910 stieg die Zahl der Bewohner in Gemeinden mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern von 178.000 auf 742.000 und diejenige mit 100.000 und mehr Einwohnern wuchs sogar von 132.000 auf 1.053.000. Ausschlaggebend für diesen Zuwachs waren Wanderungsbewegungen. Gab es 1840 in Bayern noch keine Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern, so waren es bis 1910 bereits drei: München übertraf die Marke 1854, Nürnberg um 1880 und Augsburg im Jahre 1910. Um 1935 folgte Würzburg und nach 1945 Regensburg und Ingolstadt. Mitte der 1970er Jahre schafften Fürth und Erlangen diese Grenze. Zu diesem Zeitpunkt lebte fast ein Viertel der Bayern in den erwähnten Großstädten gegenüber 17 % noch im Jahre 1950.

Aber auch Mittelstädte wie Schweinfurt, Aschaffenburg, Landshut oder Weiden wuchsen stark. Im Jahre 1985 lebten in den zehn größten Städten Bayerns 2,7 Mio. Einwohner. Allein in der Region München waren es 27 % der bayerischen Gesamtbevölkerung; damit übertraf sie deutlich den Großraum Nürnberg-Fürth-Erlangen. Bis 1939 wuchsen die kreisfreien Städte mehr als dreimal so stark wie die Landkreise. Von 1910 bis 1939 dehnten sich im Übrigen die größten Städte am stärksten aus, und dies waren zugleich die wichtigsten Industriestädte: München, Nürnberg, Augsburg, Würzburg, Ludwigshafen, Regensburg, Fürth, Kaiserslautern, Bamberg, Schweinfurt, Bayreuth, Hof, Aschaffenburg, Pirmasens, Erlangen und Ingolstadt. In der Phase von 1939 bis 1961 profitierten die Landkreise stärker vom Wachstum als die kreisfreien Städte; man spricht von einem "Trendbruch" (Bätzing). Dass nunmehr die Landkreise in der Umgebung einer größeren Stadt wie München, Nürnberg, Fürth, Erlangen, Augsburg, Aschaffenburg oder Ulm stärker wuchsen, verdeutlicht den Prozess der Suburbanisierung (vom engl. suburbanization oder suborbanisation). Von 1961 bis 1987 intensivierte sich dieser Vorgang der Suburbanisierung.

Entwicklung der Gemeinden in Bayern von 1855 bis 2005

Zunächst sei ein Blick auf die Entwicklung der Gemeindegrößenklassen in Bayern von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1925 geworfen, die den im Vergleich zu Gesamt-Deutschland etwas verlangsamten Urbanisierungsprozess zeigt (Tenfelde, Krisenzeiten, 41):

Tabelle 1: Urbanisierung in Bayern 1855 bis 1925
Gemeindegrößenklassen Bayern 1855 Bayern 1905 Bayern 1925 Reich 1925
weniger als 2.000 79,5 % 57,7 % 51,7 % 35,6 %
2.000 bis unter 5.000 6,9 % 10,2 % 10,6 % 10,9 %
5.000 bis unter 20.000 6,8 % 8,0 % 8,2 % 13,4 %
20.000 bis unter 100.000 3,9 % 11,4 % 11,3 % 13,4 %
100.000 und mehr 2,9 % 12,8 % 18,2 % 26,7 %
Gesamtbevölkerung in 1.000 4.507 6.524 7.379 62.348

Die folgende Übersicht über die Zahl der Gemeinden von 1855 bis 2005 verdeutlicht den Gesamtverlauf der Verstädterung, wobei die Zäsur durch die Gebietsreform der 1970er Jahre zum Ausdruck kommt (gekürzte Tabelle nach Roth, Politische Landeskunde. Freistaat Bayern, 199).

Tabelle 2: Gemeinden in Bayern nach Größenklassen 1855-2005 (von 1855-1939 unter Einschluss der Pfalz)
Gemeinden mit ... Einwohnern 1855 1939 1950 1978 2005
500 bis unter 1.000 1.924 1.923 2.121 259 126
1.000 bis unter 2.000 536 781 1.166 691 594
2.000 bis unter 3.000 81 280 337 372
3.000 bis unter 5.000 34 311 168 356 412
5.000 bis unter 10.000 23 76 112 254 327
10.000 bis unter 20.000 12 24 35 120 158
20.000 bis unter 50.000 5 20 18 31 48
50.000 bis unter 100.000 1 5 6 11 9
100.000 bis unter 500.000 1 4 3 5 5
500.000 und mehr 1 1 1 1 2
insgesamt 8.052 7.882 7.116 2.057 2.056
Es fehlen die Gemeinden mit unter 500 Einwohnern. 5.435 4.438 3.206 2 2

Charakteristik der Urbanisierung in Bayern bis zum Ersten Weltkrieg

Der Urbanisierungsprozess in Bayern wies charakteristische Abweichungen vor allem im Vergleich zu Preußen auf, wenngleich der Verlauf des gesamten Prozesses in beiden Staaten ähnlich war. Preußen, das sich strukturell von Bayern allerdings unterschied, vergroßstädterte (1910 hatte es 33 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern), während in Bayern nur wenige verdichtete urbane Regionen entstanden: Nürnberg-Fürth, München, Ludwigshafen und Augsburg. In den bayerischen Land- und Kleinstädten von 2.000 bis 20.000 Einwohnern wuchs die Einwohnerschaft bis 1910 sogar um 4,1 %, während sie in Preußen konstant blieb. Hingegen erlebten die Mittelstädte von 20.000 bis 100.000 Einwohnern in beiden Staaten eine Verdoppelung. Neben der nachhaltigen Urbanisierung Preußens ist auch auf den Verstädterungsprozess Sachsens zu verweisen. Bis 1910 umfasste die Stadtbevölkerung Sachsens 55 % der Gesamtbevölkerung und es gab vier Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Einen Überblick über die acht größten bayerischen Städte bis zur Schwelle des Ersten Weltkrieges bietet folgende Übersicht (Tabelle verkürzt nach Treml, Geschichte des modernen Bayern, 152):

Entwicklung der acht größten bayerischen Städte 1840-1910 (gerundet)

1840 1871 1880 1890 1910
München 96.000 170.000 230.000 351.000 596.000
Nürnberg 47.000 83.000 100.000 143.000 333.000
Augsburg 37.000 51.000 61.000 76.000 123.000
Würzburg 27.000 40.000 51.000 61.000 84.000
Ludwigshafen 1.500 7.900 15.000 33.000 83.000
Fürth 15.000 25.000 31.000 43.000 67.000
Kaiserslautern 8.000 18.000 26.000 37.000 55.000
Regensburg 22.000 29.000 35.000 38.000 53.000

Die zum Teil enorme Wachstumsdynamik bayerischer Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg kommt auch in den Zuwachsraten der Städte mit mehr als 25.000 Einwohnern (1910) zum Ausdruck. Hierbei spielte die jeweils unterschiedliche wirtschaftliche Dynamik eine Rolle. München profitierte enorm vom Faktor "Zuwanderung": Das Wachstum der Stadt von 1800 bis 1950 betrug rund 825.000 Einwohner, was sich aus dem Geburtenüberschuss mit 165.000, den Eingemeindungen mit 160.000 und vor allem dem Wanderungsgewinn mit 500.000 Einwohnern zusammensetzte (die beiden folgenden Übersichten nach Krapf, Entwicklung und Verwaltung, 37, 39).

Zuwachsraten der bayerischen Städte 1811/12-1910 1855-1910
München 1066,4 % 351,5 %
Nürnberg 773,4 % 490,7 %
Augsburg 247,8 % 151,8 %
Würzburg 321,9 % 159,2 %
Fürth 415,9 % 283,8 %
Regensburg 178,2 % 104,0 %
Bamberg 164,9 % 114,7 %
Hof 561,0 % 323,9 %
Bayreuth 183,2 % 98,9 %
Aschaffenburg 246,6 % 217,6 %
Amberg 288,8 % 133,0 %
Landshut 221,7 % 122,1 %

Verstädterung der Regierungsbezirke in Bayern bis 1910

Betrachtet man den Verstädterungsgrad der bayerischen Regierungsbezirke bis 1910, also den Anteil der Bevölkerung in Gemeinden mit mehr als 2.000 Einwohnern, ergibt sich folgendes Bild:

Verstädterungsgrad der bayerischen Regierungsbezirke 1890 1900 1910
Oberbayern 43,7 % 53,7 % 58,0 %
Mittelfranken 42,3 % 53,4 % 58,5 %
Pfalz 38,0 % 48,0 % 54,0 %
Schwaben 29,9 % 37,2 % 43,3 %
Niederbayern 13,3 % 18,0 % 20,1 %
Oberpfalz 21,4 % 25,3 % 30,3 %
Oberfranken 25,6 % 31,5 % 35,0 %
Unterfranken 23,1 % 28,1 % 33,1 %
Bayern (gesamt) 31,8 % 39,6 % 44,7 %

Die Bezirke Oberbayern und Mittelfranken mit ihren Metropolen München und Nürnberg waren die führenden Verstädterungsregionen, denen sich bis 1910 noch die Pfalz annäherte. Schwabens Entwicklung verlief ungefähr parallel zum gesamten Verlauf Bayerns, während die übrigen bayerischen Regierungsbezirke bis 1910 eher ein unterdurchschnittliches Städtewachstum aufwiesen. Insgesamt waren auch in Bayern die Zuwanderungen, die Geburtenüberschüsse sowie in etwas geringerem Maße die Eingemeindungen für das Städtewachstum verantwortlich.

Urbanisierung in Bayern nach dem Ersten Weltkrieg bis 1945

Im Ersten Weltkrieg hatten die Städte vielfältige und neue Aufgaben zu bewältigen (Kriegswohlfahrtspflege, Ernährungsversorgung, Personalknappheit in der Verwaltung). In der Weimarer Republik wurden die Städte im Zusammenhang mit der Reichsfinanzreform 1920 finanziell eingeengt, d. h. es wurde ihnen ihre finanzielle Selbstbestimmung weitgehend genommen und sie wurden von Finanzüberweisungen des Reichs und der Länder abhängig. Die kommunale Selbstverwaltung, obgleich in der Weimarer Verfassung garantiert, befand sich nunmehr in einem "permanenten Rückzugsgefecht" (Krabbe, Stadt, 180) gegenüber staatlichen Anforderungen. In den Kommunen wurde endgültig das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingeführt. Die NS-Herrschaft suspendierte weitgehend die kommunale Selbstverwaltung. Insgesamt ebbte auch in Bayern das Städtewachstum in der Zwischenkriegszeit ab. Die Städte brachen aber massiv in ihr Umland ein; es folgten Eingemeindungen größeren Umfangs. Katalysator dieses Vorgangs war die verbesserte Verkehrsinfrastruktur, aufgrund der sich der Bereich der Städte weiter ausdehnte. Der Wohnungsbau stellte nach 1918 eine der wichtigsten Aufgaben der Städte dar. Kleinsiedlungen an den Stadträndern wurden angelegt. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs kam der Wohnungsbau fast ganz zum Erliegen. Die Großstädte erlitten durch die Angriffe der Alliierten die meisten Schäden in ihrer Bausubstanz.

Urbanisierung in Bayern nach 1945

Die 1960 zur Stadt erhobene Vertriebenensiedlung Waldkraiburg entstand auf dem Gelände des ehemaligen Rüstungswerks Kraiburg. (Luftbild von Hansueli Krapf lizensiert durch CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs war es zunächst zu einer Abwanderung aus den größeren Städten gekommen. Von 1946 bis Mitte der 1950er Jahre stieg wieder die Zuwanderung in die größeren Städte, danach wuchs die Einwohnerzahl der Umlandgemeinden. Nach 1970 schwächte sich das Bevölkerungswachstum allgemein und auch im Umland der großen Agglomerationen ab. Zunächst verzeichneten die Städte vielfach schwere Kriegszerstörungen und wurden mit dem Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen konfrontiert. Zu Beginn der 1950er Jahre kam der städtische Wohnungsbau in Gang. Die städtebauliche Grundstruktur, d. h. die Lage der Wohn- und Geschäftsviertel, blieb aber zunächst nahezu unverändert. Aufgrund der allmählich beengten Raumverhältnisse in den Städten wurden die alten Burgfriedensgrenzen überschritten. Große städtische Ballungsräume entstanden, vor allem um München oder Nürnberg, aber auch bei anderen Groß- und Mittelstädten. Eine neue Erscheinung bildeten die sog. Flüchtlingsstädte am Ort ehemaliger früherer Rüstungsbetriebe (Neugablonz, Geretsried, Waldkraiburg, Neutraubling).

Stadtentwicklung in den 1960er und 1970er Jahren

Der Nürnberger Stadtteil Langwasser, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf Teilen des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes entstand, gilt als einer der Prototypen von Trabantenstädten in Bayern. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F010856-0010 / CC-BY-SA 3.0)

Im Vorfeld der historisch gewachsenen Stadt entstand in den 1960er und 1970er Jahren die sog. Trabantenstadt mit Hochhausbebauung. Es bildeten sich "Wohnghettos", die vielfach in völligem ästhetischen Kontrast zu den historisch gewachsenen alten Städten standen (Beispiel der Stadtteil Königswiesen in Regensburg). In den 1970er Jahren rückte das Problem der Stadtsanierung zunehmend in den Fokus städtischer Entwicklung. Fragen der Erhaltung und Modernisierung spiel(t)en dabei eine große Rolle. Ebenfalls bereits in den 1950er und 1960er Jahren ist als neue Erscheinung die Suburbanisierung zu erkennen. Vereinfacht formuliert, versteht man darunter die Randwanderung der Bevölkerung in das Umland größerer Städte. Dabei kam es zur Ausbildung stadtplanerisch entworfener "Schlafstädte" im Umland der Großstädte. Der Traum vom Eigenheim außerhalb der Kernstadt war ein wesentlicher Faktor diese Prozesses. Die Innenstadt wandelte sich in eine Gewerbezone um, und die dortige Wohnbevölkerung nahm ab ("Citybildung"). Man arbeitete zwar in der City oder kaufte ein, aber der Wohnsitz befand sich am Stadtrand oder im Umland. Diese weitere Entzerrung von Wohn- und Arbeitsstätte wurde ermöglicht durch eine ausgebaute Verkehrsinfrastruktur. Die Suburbanisierung erzeugte neue stadtplanerische Probleme (Parkplatznot, "Verkehrsinfarkt" in den Stoßzeiten). Ab 1963 realisierte in München der Stadtentwicklungsplan den Bau- bzw. Ausbau der Stadtautobahnen und U-Bahnlinien zum Teil in großen Projekten. Der Autoverkehr rückte nah an die Innenstädte heran, und man versuchte, die Vision der autogerechten Stadt umzusetzen.

Urbanisierung und Gebietsreform

Der Regensburger Stadtteil Königswiesen entstand ab 1972. Die Hochhausgebäude stehen in völligem Kontrast zur ortsüblichen Bebauung. (Foto von High Contrast lizensiert durch CC BY 3.0 de via Wikimedia Commons)
Vor dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs war der Münchner Karlsplatz ein Verkehrsknotenpunkt der Münchner Innenstadt. Foto von 1957. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv fruh-00577)

Die zwischen 1971 und 1980 durchgeführte Gebietsreform reduzierte die Zahl der Gemeinden und der kreisfreien Städte nachhaltig. Lebten 1950 noch 44 % der bayerischen Bevölkerung in Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern, so waren es 2005 nur noch 7,9 %. Die Zahl der Gemeinden zwischen 2.000 und 20.000 Einwohnern hat sich im selben Zeitraum von 595 auf 1.269 erhöht. Ein deutlicher Hinweis auf den erneuten Höhepunkt des Urbanisierungsprozesses ergibt auch folgender Befund: 1950 lebten 17,4 % der bayerischen Bevölkerung in den Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern, 2005 hingegen waren es bereits 21 %, d. h. mehr als 2,6 Mio. Bayern wohnten in diesen Großstädten. Des Weiteren wurden die Kommunen in Ober-, Mittel-, Unter- und Kleinzentren eingestuft. Letztere sollen die allgemeine Grundversorgung der Bevölkerung einschließlich des Nahbereichs sicherstellen. Unterzentren übernehmen eine umfangreichere Versorgung der Einwohnerschaft mit größerem Einzugsbereich. Mittelzentren - sie umfassen rund 30.000 Bewohner - sollen bereits einen gehobenen Bedarf an Einrichtungen vorweisen (u. a. alle Schularten) sowie an das Eisenbahnnetz angeschlossen sein. Schließlich sollen die Oberzentren - hier kommen nur Großstädte in Frage - ein höchstes Angebot an Dienstleistungen vorweisen können. Die genannten Funktionsorte sollen insgesamt sowohl ländliche Gebiete stärken als auch der weiteren Verdichtung städtischer Räume entgegenwirken. Letztlich ist ein Abbau des Leistungsgefälles zwischen Stadt und Land das Leitziel.

Suburbanisierung und Post-Suburbanisierung

Die oben angesprochene Suburbanisierung begann beispielsweise im Raum München bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (Würmtal, Isartal). Sie intensivierte sich aufgrund starken Bevölkerungswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg im weiteren Umland. In den 1960er und 1970er Jahren setzte die Suburbanisierungswelle massiv im Umland größerer Städte ein und es entstanden "suburbane Gürtel" (Fehn, Bevölkerung, 19). Dieser Bewegung folgte schließlich eine gewerbliche Suburbanisierung, d. h. die Kernstadt erlebte eine Abwanderung der Industriebetriebe. Schließlich wanderten in einer dritten Phase seit den 1990er Jahren im Rahmen einer Post-Suburbanisierung auch die Dienstleister - z. B. großflächige Einkaufszentren - ins Umland ab, und die dortigen Gemeinden erleben bis in die Gegenwart ein starkes Wachstum. Als Beispiel sei Holzkirchen im Süden Münchens genannt (Vgl. Bayerische Staatszeitung Nr. 43 vom 29. Oktober 2010). Postsuburbanisierung zeichnet sich durch eine sukzessive Abkoppelung des Umlandes von den Zentren ab.

Nach Fehn (Fehn, Bevölkerung, 18f.) lassen sich bei diesen neuesten strukturellen Veränderungen der Postsuburbanisierung vier Grundtypen der Bevölkerungsentwicklung unterscheiden:

  1. dynamische Umlandbereiche der Verdichtungsräume
  2. urbanisierte Gebiete mit überdurchschnittlichen Wanderungsgewinnen
  3. strukturschwache Räume mit eher negativer Bevölkerungsentwicklung
  4. agrarisch strukturierte ländliche Gebiete mit Abwanderungstendenz

Literatur

  • Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hg.), Die neuen Städte und Gemeinden in Bayern (Beiträge der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 94), Hannover 1986.
  • Hermann Beckstein, Städtische Interessenpolitik. Organisation und Politik der Städtetage in Bayern, Preußen und im Deutschen Reich 1896-1923 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 93), Düsseldorf 1991.
  • Bernward Deneke (Hg.), Geschichte Bayerns im Industriezeitalter (Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 7), Stuttgart 1987.
  • Klaus Fehn, Das Land und seine Bevölkerung, in: Max Spindler/Alois Schmid (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte. 4. Band, 2. Teil, München 2. Auflage 2007, 3-71.
  • Helmut Flachenecker/Rolf Kiessling (Hg.), Urbanisierung und Urbanität. Ein Beitrag der kirchlichen Institutionen zur Stadtentwicklung in Bayern (Beihefte zur Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 36), München 2008.
  • Dirk Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhundert, Regensburg 2010.
  • Wolfgang Hardtwig/Klaus Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933, München 1990.
  • Wolfgang R. Krabbe, Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert: Eine Einführung, Göttingen 1989.
  • Manfred Krapf, Entwicklung und Verwaltung bayerischer Städte zwischen 1870 und 1914 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 115), München 1998.
  • Horst Matzerath, Urbanisierung in Preußen 1814-1914 (Schriften des Deutschen Instituts für Urbanistik 72), Stuttgart 1985.
  • Wiebke Porombka, Medialität urbaner Infrastrukturen. Der öffentliche Nahverkehr 1870-1933, Bielefeld 2013.
  • Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt am Main 1985.
  • Rainer A. Roth, Politische Landeskunde. Freistaat Bayern, München 3., überarbeitete Auflage 2008.
  • Otto Schütz, Die neuen Städte und Gemeinden in Bayern (Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Abhandlungen 48), Hannover 1967.
  • Klaus Tenfelde, Stadt und Land in Krisenzeiten. München und das Münchener Umland zwischen Revolution und Inflation 1918 bis 1933, in: Wolfgang Hardtwig/Klaus Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933, München 1990, 37-57.
  • Manfred Treml, Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat, München 3. Auflage 2006.
  • Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 3. Band: Von der "Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995.

Weiterführende Recherche

Verwandte Artikel

Verstädterung, Suburbanisierung, Post-Suburbanisierung, Städtewachstum

Empfohlene Zitierweise

Manfred Krapf, Urbanisierung, publiziert am 28.01.2013; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Urbanisierung> (28.03.2024)