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Antisemitismus (Weimarer Republik)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Plakat des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, das sich gegen die vermeintliche Schuld der Juden am verlorenen Weltkrieg wendet. (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Plakatsammlung)
Antijüdische Demonstration vor dem Kaufhaus Isidor Bach in München, 1922. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-6519)

von Dirk Walter

Der moderne, völkisch-rassistische Antisemitismus, der im 19. Jahrhundert entstanden war, radikalisierte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zusehends. Neben der gesellschaftlichen Ausgrenzung nahmen gewalttätige Aktionen rechtsextremer Gruppen gegen die jüdische Bevölkerung, wie Misshandlungen bis hin zum Totschlag, Boykottkampagnen sowie Friedhofs- und Synagogenschändungen, zu. Es gelang nicht, Antisemitismus generell gerichtlich ahnden zu lassen, was etwa der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens forderte. Als bewusste Alternative zu diesem "Radauantisemitismus" kristallisierte sich Ende der 1920er Jahre ein neuer volkstumspolitischer Antisemitismus heraus, der parteiübergreifend von der DNVP bis zur NSDAP auf Zustimmung stieß und die "Entfernung" der Juden aus dem deutschen Volk forderte.

Radikalisierung nach 1918: "Radauantisemitismus"

Der Antisemitismus in der Weimarer Republik war kein statisches Phänomen, sondern radikalisierte sich grundlegend. Bis 1918 handelte es sich um Vorurteile, bei deren Umsetzung die Antisemiten bei aller Kritik an der Monarchie im Einzelnen system-bejahend agierten und prinzipiell darauf zu achten hatten, das Kaiserreich nicht durch innere Unruhen - etwa Pogrome - zu erschüttern. Ab 1918 war die Umsetzung von Judenfeindschaft aber infolge der Kriegsniederlage und der Republik-Gründung prinzipiell an den Systemsturz gekoppelt, was den Antisemitismus zusätzlich radikalisierte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Antisemiten das Aufkommen judenfeindlicher Gewalt als system-destabilisierend begrüßten. Gewalt wurde zu einem herausragenden Merkmal des Antisemitismus in der Weimarer Republik. Körperliche Angriffe gegen Juden bis hin zum Totschlag sowie die Schändung jüdischer Friedhöfe und Synagogen wurden dabei begleitet von einer intensiven Debatte über diese Art des "Radauantisemitismus".

Grundsätzlich gab es kaum eine rechtsextreme Gruppierung, die nicht offen judenfeindlich agierte. In der Frühphase der Weimarer Republik waren die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund (DVSTB) Träger eines aggressiven Antisemitismus, jedoch sind die Übergänge zwischen den Gruppen und die Agitationsmethoden fließend. Auch ist zu beachten, dass selbst die DNVP eher reagierte als agierte, weil Judenfeindschaft stets in neuen Formen auftrat und die Partei dazu immer aufs Neue Stellung beziehen musste. Am Beispiel der sog. Ostjudenfrage lässt sich dies gut beobachten. Obwohl die DNVP und ihr bayerisches Pendant, die Bayerische Mittelpartei, scharf und kampagnenartig gegen die Einwanderung von Juden aus Osteuropa Stellung bezog, konnte sie nie die Hegemonie unter den Antisemiten erringen. Schon 1920 warf der Völkische Beobachter der neuen bayerischen Regierung unter dem scharf ostjudenfeindlich eingestellten Ministerpräsidenten Gustav von Kahr (BVP, 1862-1934) vor, "Rassefremde" zu schonen. Sie müssten unter "Fremdenrecht" gestellt werden, auch wenn sie die bayerische Staatsangehörigkeit hätten (VB 3.4.20, vgl. 13.4.20). Ausweisungsaktionen der Kahr-Regierung 1920 und 1923 und die zeitweilige Einrichtung eines Internierungslagers (Fort Prinz Karl bei Ingolstadt 1920-1924) stellten jedenfalls die extremen Antisemiten nicht ruhig.

Der "Radauantisemitismus" provozierte zweierlei Reaktionen. Zum einen beobachteten vor allem Antisemiten-Gegner, wie sie besonders unter den Mitgliedern des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) zu finden waren, dieses Phänomen aufmerksam. Zum zweiten kristallisierte sich unter rechtsextremen Intellektuellen in der Auseinandersetzung mit dem "Radau" ein neuer, als intellektuell begriffener Antisemitismus heraus, der nach 1933 weiterverfolgt wurde. Namentlich Adolf Hitler (1889-1945) hat die Antipoden "Gefühl" und "Vernunft" schon früh klar erkannt. "Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen (sic!). Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muss führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden ... Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein", schrieb er am 16. September 1919 in einem seiner ersten politischen Schriftstücke an den Antisemiten Adolf Gemlich (zit. n. Eberhard Jäckel/Axel Kuhn (Hg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, Stuttgart 1980, 88-90).

Geiselnahmen während des Hitlerputsches 1923

Ein früher Höhepunkt war die nur infolge raschen Eingreifens der Bayerischen Landespolizei unblutig endende Geiselnahme jüdischer Bürger in München durch Einheiten des Bundes Oberland während des Hitlerputsches am 8./9. November 1923. Die etwa 20 Opfer wurden nicht über "schwarze Listen", sondern über ein so unsicheres Identifizierungsverfahren wie "jüdische Namen" ausgewählt, was bezeichnend für das geringe antisemitische "Wissen" der judenfeindlich agierenden Direkttäter ist: Sie griffen auf antisemitische Klischees wie das des "reichen Juden" zurück und suchten sich wohlhabende Wohngegenden wie etwa Bogenhausen und Lehel für ihre Geiselnahmen aus. Auch der Scheunenviertel-Pogrom am 5. November 1923 im Berliner Osten war eine frühe Form des extremen und gewalttätigen Antisemitismus. Der Pogrom wurde ausgelöst durch den Versuch von Händlern, den vor einem Arbeitsamt wartenden Arbeitslosen städtisches Notgeld gegen wertlose Papiermark einzuwechseln. Entgegen häufig zu lesender Darstellungen gab es bei dem Pogrom wohl keine Toten, allerdings misshandelte die Polizei Mitglieder des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten. Während die Geiselnahmen seinerzeit kaum bekannt wurden, wirkte der Pogrom in der demokratischen Öffentlichkeit als Fanal. Anfang 1924 gab es ernsthafte Anzeichen einer auch gegenüber Antisemitismus wehrhaften Demokratie, etwa die Gründung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold.

Friedhofs- und Synagogen-Schändungen

Zugleich aber gab es Mitte der 1920er Jahre einen Höhepunkt bei Friedhofs- und Synagogenschändungen. Die Schändungen waren in der deutschen Öffentlichkeit weithin diskreditiert und daher besonders provokant, gerade in der politisch vermeintlich ruhigen Phase Mitte der 1920er Jahre. Die abseits der Wohnbebauung gelegenen Friedhöfe waren ein leichtes Angriffsziel. In einer regelrechten Schändungswelle wurden zwischen 1923 und 1932 fast 200 Fälle registriert, darunter auch eine nicht geringe Anzahl in Bayern: Juni 1924 Binswangen/Schwaben; August 1924 Regensburg; Mai 1926 Memmelsdorf in Unterfranken (Gemeinde Untermerzbach, Lkr. Haßberge); August 1928 Pretzfeld bei Bamberg; Frühjahr 1929 Gerolzhofen (Lkr. Schweinfurt). Auch Synagogen waren ein Ziel der Angriffe, so im April 1927 die Herzog-Max-Synagoge in München, im Oktober 1928 die Synagoge in Hof und im Dezember 1928 diejenige in Gunzenhausen.

Zwei Phänomene stechen dabei hervor: Zum einen handelte es sich bei den Tätern oft um strafunmündige Jugendliche. Zum zweiten galten Schändungen als die "undeutscheste, unchristlichste, roheste, gemeinste, feigste" Form der Judenfeindschaft (so der Schriftsteller Walter von Molo in der CV-Zeitung 21. September 28). Dadurch fiel auch konservativen Zeitgenossen die Distanzierung von den Schändungen leicht, ohne dass sie ihre antisemitische Grundhaltung aufgeben mussten.

Gewalt gegen Juden

Wie die politischen Gewalttaten generell, häuften sich in der Weimarer Republik auch Misshandlungen jüdischer Bürger. Eine Zählung der Taten existiert nicht, so dass man auf Aktenüberlieferung einzelner Straftaten angewiesen ist. Bayerische Fälle sind vor allem in der Frühphase der Weimarer Republik nachweisbar, später scheinen sich die Aktionszentren verlagert zu haben. Schon 1920 wurde in München der Rabbiner Leo Baerwald (1883-1970) bei einer NSDAP-Versammlung mit Adolf Hitler als Redner angepöbelt, seine Begleiter verprügelt. Die stark zunehmende Öffentlichkeit des Antisemitismus, unter anderem durch massenhaft kursierende Flugblätter und Plakate, führte zu Schlägereien, etwa im März 1920 auf dem Münchner Odeonsplatz, als vier jüdische Männer ein Plakat abreißen wollten, eine "Menschenmenge" sie jedoch daran hinderte. Auch gab es regelrechte Boykottkampagnen gegen Firmen mit jüdischen Eigentümern, die persönlich bedroht wurden - zum Beispiel 1922 Simon Rosenberg, Besitzer der Münchner Romeo & Neptun Schuh AG. Im Oktober/November 1923 gab es in Nürnberg und in den fränkischen Gemeinden Untermerzbach (Lkr. Haßberge) und Autenhausen (Lkr. Coburg) brutale Überfälle auf jüdische Bürger. Mit Blick auf die Lage außerhalb Bayerns sind Angriffe mit teils lebensgefährlich Verletzten etwa in Herne und Alzey (1929), in Preußisch Holland und Berlin (Kurfürstendamm-Krawall 1931) zu erwähnen.

Reaktionen auf den "Radauantisemitismus"

Die gewalttätige Offensive extremer Antisemiten hatte eine starke Wirkungskraft und zog im Lager der Anhänger und Gegner unterschiedliche Reaktionen nach sich.

  1. Im demokratischen Lager bemühte sich vor allem der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), die größte jüdische Organisation in der Weimarer Republik, um eine gerichtliche Ahndung der Vorfälle. Ein Spezialthema der im CV arbeitenden versierten Juristen wie Wilhelm Levinger (1877-1958) in München oder Ludwig Foerder (1886-1954) in Breslau war der Kampf gegen antisemitische Gesinnung. Antisemitismus per se war in der Weimarer Republik nicht strafbar. Ein Teil der Delikte wurde aber über die Strafgesetzbuch-Paragraphen 166 (Religionsbeschimpfung) und 130 (Aufreizung zum Klassenhaß) geahndet. Der CV bemühte sich nun, durch Präzedenzurteile den Bogen möglichst weit zu spannen und alle Äußerungen von Judenfeindschaft juristisch ahnden zu lassen, scheiterte jedoch letztlich an der zum Teil rechtskonservativen Justiz. So endete ein Prozess vor dem Nürnberger Schwurgericht im November 1929 kläglich: Der CV hatte gegen den Herausgeber des "Stürmers", Julius Streicher (NSDAP, 1885-1946), und seinen Redakteur Karl Holz (NSDAP, 1895-1945) geklagt - ein Verfahren mit symbolischer Wirkung, weil der "Stürmer" ein reichsweit bedeutender Stichwortgeber für vehemente, regional agierende Antisemiten war. Doch Streicher und Holz wurden trotz großer Bemühungen des CV wegen Verunglimpfung des Talmuds nach §166 StGB nur zu geringen Strafen verurteilt, was die NSDAP als Triumph zu verkaufen wusste.
  2. Zugleich ist in den 1920er Jahren ein gesellschaftlicher Trend zur Ausgrenzung der Juden unverkennbar, der aber sehr uneinheitlich blieb und nach dem momentanen Forschungsstand nicht quantifiziert werden kann. An den Universitäten etwa wurden einzelne "jüdischstämmige" Gelehrte diskreditiert oder gar vertrieben - in München verfolgbar am Streit um den Chemiker und Nobelpreisträger Richard Willstätter (1872-1942) und den Staatsrechtler Hans Nawiasky (1880-1961). Große Organisationen wie etwa der Alpenverein führten schon Mitte der 1920er Jahren de facto einen "Judenparagraphen" ein, dessen Umsetzung indes im Einzelfall bezweifelt werden kann. Einzelne Hotels in Oberbayern diskriminierten Juden, indem sie ihnen die Aufnahme verweigerten. Es gab auch Gegenbeispiele, etwa Bad Kissingen, wo die Kurverwaltung mit dem CV zusammenarbeitete. Doch der sog. Bäderantisemitismus - also die Diskriminierung von Juden an Kurorten - griff weiter um sich.
  3. Auf Seiten der Rechten blieb das Verhältnis zum "Radauantisemitismus" bis 1933 zwiespältig. Man distanzierte sich, ließ aber durchblicken, dass damit die Sache an sich - also der Antisemitismus - nicht diskreditiert sei. Die "Judenfrage", bemerkte in diesem Sinne zum Beispiel der völkische Publizist Wilhelm Stapel (1882-1954) 1927 mit Bedauern, sei "bei den Gebildeteren unter den Deutschen zu einer Angelegenheit geworden, deren Erörterung für unfein und peinlich gilt" (Antigermanismus, in: Deutsches Volkstum, Juni 1927). Als bewusste Antwort und Alternative zur sog. Gesinnungsrohheit kristallisierte sich seit Ende der 1920er Jahre ein neuer volkstumspolitischer Antisemitismus heraus, der parteiübergreifend von der DNVP bis hin zu Vordenkern innerhalb der NSDAP auf Zustimmung stieß. Juden wurden dabei als prinzipiell nicht assimilierbares "Volk" begriffen, das in einem Segregationsprozess auf allen Ebenen "entfernt" werden müsse. Die Revision des Staatsbürgerrechts, auf dessen Grundlage die "Entfernung" dann überhaupt möglich werden würde, machte etwa der zeitweilige Schriftleiter des Völkischen Beobachters, Gerhard L. Binz (1895-1963), schon 1930 zu einem Dreh- und Angelpunkt. Und in der Tat erinnert diese Forderung stark an die Unterscheidung zwischen "Reichsbürgern" und "Staatsangehörigen" minderen Rechts, wie sie in den Nürnberger Gesetzen 1935 Wirklichkeit wurde. Auch dies zeigt den dynamischen Radikalisierungsprozess zwischen "Radauantisemitismus" und "intellektueller" Judenfeindschaft, wie er für den Nationalsozialismus vor dem Zweiten Weltkrieg bestimmend wurde.

Literatur

  • Frank Bajohr, "Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003.
  • Avraham Barkai, "Wehr Dich!" Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1938, München 2002.
  • Wolfgang Benz/Arnold Paucker/Peter Pulzer (Hg.), Jüdisches Leben in der Weimarer Republik (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 57), London/Tübingen 1998.
  • Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2., bearb. Auflage 2004.
  • Anthony Kauders, German Politics and the Jews. Düsseldorf and Nuremberg 1910-1933, Oxford 1996.
  • Richard S. Levy (ed.), Antisemitism. A historical encyclopedia of prejudice and persecution. 2 vol., Santa Barbara 2005.
  • Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999.
  • Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, Gründerjahre des Antisemitismus: von der Bismarckzeit zu Hitler (Das Abendland/Neue Folge 32), Frankfurt am Main 2003.

Quellen

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Judenfeindlichkeit

Empfohlene Zitierweise

Dirk Walter, Antisemitismus (Weimarer Republik), publiziert am 09.01.2007; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Antisemitismus_(Weimarer_Republik) (18.04.2024)