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Ostjuden (Weimarer Republik)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

(Weitergeleitet von Ostjuden (Weimarer Republik))

von Dirk Walter

Im Bayern der Weimarer Zeit lebten etwa 5.000 bis 10.000 Juden mit osteuropäischer Staatsangehörigkeit. Diese zahlenmäßig eigentlich kaum ins Gewicht fallende Personengruppe geriet seit 1919 zunehmend ins Visier antisemitischer Hetzkampagnen; hinzu kamen Schikanen von Seiten der Behörden. Höhepunkt der Feindseligkeiten gegen Ostjuden, bei welchen Bayern reichsweit eine negative Vorreiterrolle spielte, stellte die staatliche Ausweisungsaktion vom Oktober/November 1923 dar.

Ostjüdische Einwohner in Bayern: Herkunft, Größenordnung

Der - seit dem frühen 20. Jahrhundert zum Teil unter negativer Konnotation in Gebrauch kommende - Begriff Ostjuden bezeichnet Juden mit einer Herkunft aus osteuropäischen Ländern, welche seit den 1890er Jahren, verstärkt aber seit dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland eingewandert waren. Verantwortlich für die Emigration waren zum Teil Pogrome, in erster Linie aber die materielle Not in den jüdischen Gemeinden der Heimatländer, die zum guten Teil im starken Bevölkerungsanstieg des 19. Jahrhunderts wurzelte. Nicht alle Ostjuden blieben dauerhaft in Deutschland, das für viele nur Transitstation auf dem Weg nach Übersee, für andere hingegen das Ziel von Saisonarbeit war. Im Deutschland der 1920er Jahre stellte die Gruppe der Ostjuden mit etwa 160.000 Personen circa ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung.

Für Bayern wird die Gesamtzahl der Ostjuden auf 5.000 bis 10.000 Personen geschätzt - genaue Daten liegen jedoch nicht vor. In München allein waren es 2.000 bis 3.000 Ostjuden, in Nürnberg gut 1.000, in Fürth, Bayreuth und Würzburg als weiteren kleinen Ostjuden-Siedlungszentren jeweils etwa einige hundert. Ein Großteil war polnischer Nationalität, in München etwa 60 %. Eine Auswertung der knapp 400 Ausweisungsbeschlüsse gegen Ostjuden, die 1923 in Bayern lebten, ergibt daneben folgende Nationalitäten: 7 % Ukrainer, 5 % Staatenlose, außerdem Einzelpersonen aus der Tschechoslowakei, aus Litauen, Ungarn, Russland und Rumänien (Quellen: Hauptstaatsarchiv München, Generalstaatskommissariat 89 und Innenministerium Nr. 71641).

Habitus und Kultur

Die "arrivierten" deutschen Juden verfolgten mehrheitlich und mitunter mit viel Einsatz das Ziel, sich im Mittelstand zu etablieren. Sie strebten daher nach der Übernahme bürgerlicher Wertvorstellungen, Bildungsideale und Kleidungsgepflogenheiten und pflegten eine korrekte und vor allem hochdeutsche Ausdrucksweise. Die Ostjuden hingegen bemühten sich weit weniger um Anpassung und Unauffälligkeit, vielmehr verschlossen sie sich teilweise ganz bewusst Einflüssen der Moderne: Ihr traditioneller Kleidungsstil, die Verwendung des Jiddischen, der nicht selten vorhandene Kinderreichtum und ihre orthodoxe Religiosität - die sich bei den Juden der Karpaten-Anrainerstaaten in der lebensfroh-expressiven Variante des Chassidismus äußerte - erschienen großen Teilen der einheimischen Bevölkerung als fremd und rückständig. Dementsprechend waren Eheschließungen zwischen deutschen und osteuropäischen Juden relativ selten.

Die Münchner Isarvorstadt

Das Kleidergeschäft von Leo Elias in der Münchner Blumenstraße. (Foto: 1910, Stadtarchiv München JUDAICA-Fotos_5-0001-ELI)
Der ostjüdische Händler Samuel Kraus vor seinem Warenhaus in der Münchner Westenriederstraße. (Foto: 1927, Stadtarchiv München JUDAICA-Fotos_1-0001-KRA)
Der Chor der Synagogenvereine Linath Hazedek/Agudas Achim in der Münchner Reichenbachstraße 27. (Foto: 1931, Stadtarchiv München JUDAICA-Fotos_6-0006-ORT)

Der Ausländeranteil war im München der Nachkriegszeit (1919: ca. 646.000 Einwohner) mit etwa 5 % nicht sehr hoch. Nur ein kleiner Teil davon war mit etwa 3.000 Personen ostjüdischer Herkunft. Mit der Isarvorstadt rund um den Gärtnerplatz existierte ein dem Berliner Scheunenviertel vergleichbares Wohnquartier, in dem sich ein ostjüdischer Mikrokosmos entfaltete. Markant war die Vielzahl kleiner Synagogogen (Betstuben), auch gab es eine rege Vereinskultur und viele Handels- und Handwerksbetriebe. Die eher assimilierten Juden gingen in der Regel in die Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße, die Orthodoxen besuchten vor allem die Ohel-Jakob-Synagoge, die Ostjuden indes bevorzugten kleinere Betsäle. Sehr engagiert zeigte sich Anfang der 1920er Jahre der "Gesamtausschuß der Ostjuden", der sich unter Führung des Zionisten Jakob Reich (1885-1961) vor allem gegen die Ausweisungsaktionen der bayerischen Regierung und Polizei wehrte.

Im Gegensatz zum Berliner Scheunenviertel waren die ostjüdischen Quartiere der Münchner Isarvorstadt offenbar nicht durch Verelendung geprägt. Ein Blick in die Ausweisungsakten zeigt, dass viele Münchner Ostjuden als Handwerker und Händler wirtschaftlich durchaus hatten Fuß fassen können, zum Beispiel als Schlosser, Schneider und Inhaber von Lederwaren- oder Trödelgeschäften. Eine detaillierte Studie zur Berufsstruktur fehlt. Wohl aber muss vor einer Idealisierung des Lebens in der Isarvorstadt gewarnt werden. "Die" Juden in München gab es nicht: Auch viele betont "deutsch" fühlende Juden und rechtskonservativ denkende Repräsentanten wie etwa der Rabbiner Leo Baerwald (1883-1970) wahrten Distanz zu ihren osteuropäischen Glaubensgenossen (ein Beispiel für Baerwalds Einstellung bei Hirschberg, Jude, 247).

Jüdisch geprägte Stadtteile in Nürnberg

Ein Zentrum der ostjüdischen Ansiedlung in Bayern war auch der Raum Nürnberg-Fürth, wo bereits seit den 1890er Jahren immer wieder jüdische Auswanderer, die in Deutschland Station machten, vorübergehend als Landarbeiter, Händler, Handwerker oder Dienstboten tätig gewesen waren. 1916 sollen in Nürnberg 1.226 Ostjuden gelebt haben (Wertheimer, Tabelle IIb). Bevorzugte Stadtteile waren Gostenhof, Steinbühl und der Bereich zwischen Galgenhof und Lichtenhof. Die Viertel lagen alle im Nürnberger Süden und hatten während der Industrialisierung starken, darunter auch katholischen, Zuzug erfahren. Während in Gostenhof die schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zuziehenden galizischen Zuwanderer dominierten, ließen sich die erst nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt immigrierenden, im Vergleich zu den polnischen Emigranten tendenziell nicht ganz so verarmten böhmischen, mährischen, ungarischen und rumänischen Juden vor allem in den weiter südlich gelegenen Stadtvierteln nieder.

Der während der Weimarer Zeit aufwachsenden jüngeren Generation der Einwanderer, deren Eltern überwiegend im Kleinhandel tätig gewesen waren, gelang infolge abgeschlossener Schulausbildungen vielfach der Sprung in den Angestelltenstand. Ein für Nürnberg nachweisbarer "Ostjüdischer Talmud-Thora-Verein" betrieb wahrscheinlich eine ostjüdische Elementarschule; weiterhin existierten eine israelitische Realschule in Fürth und eine jüdische Volksschule in Nürnberg. Jedoch besuchten ostjüdische Kinder auch die staatlichen Schulen vor Ort. Die Gründung eigener ostjüdischer Gebetsgemeinschaften wurde durch die eingesessene Nürnberger liberale Gemeinde teilweise massiv behindert. Neben den religösen Vereinen konstituierten sich auch Vereine, deren Zweck in der Vertretung der kulturellen und politischen Interessen der Ostjuden bestand - so etwa der "Hilfsausschuß für auswandernde Ostjuden".

Wachsender Antisemitismus

Bereits 1913 waren für die Universitäten München, Erlangen und Würzburg die Studienbeschränkungen für Ausländer und insbesondere für Russen derart verschärft worden, dass die Jüdische Rundschau einen praktisch völligen Ausschluss russischer jüdischer Studenten konstatierte (Kußmaul, "Ostjuden", 170-171). Obwohl die Ostjuden bei einer Münchner Gesamteinwohnerschaft von etwa 650.000 (um 1919) anteilsmäßig kaum ins Gewicht fielen, fokussierte sich die antisemitische Agitation schon ab Ende 1919 und (in unterschiedlicher Ausprägung) während der gesamten Weimarer Republik auf diese Gruppe. Vor allem die DNVP konzentrierte sich auf scharfe Stimmungmache gegen Ostjuden, weil sie glaubte, radauantisemitischen Scharfmachern dadurch das Wasser abgraben zu können. In diesem Zusammenhang kam es auch zu Schikanen von Seiten der Behörden: Beispielsweise versuchte sich der neue rechtskonservative Ministerpräsident Gustav von Kahr (BVP, 1862-1934), "durch antisemitische Maßnahmen bei den völkischen Massen einzuschmeicheln" (so der damalige Münchner Rechtsanwalt und assimilierte Jude Max Hirschberg [1883-1964]). Schon ab 1920 gab es aber Stimmen etwa im Völkischen Beobachter, wonach der lediglich auf Ostjuden gerichtete Antisemitismus als nicht weit genug reichend abgelehnt wurde.

Ausweisungen

Einbürgerungsgesuche von - in der Regel in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen befindlichen - Ostjuden führten nur in seltenen Fälle zum Erfolg, weshalb die große Mehrheit der bayerischen Ostjuden ständig von Ausweisung bedroht war. Von Kahr erließ als eine seiner ersten Amtshandlungen 1920 eine neue Fremdenverordnung, nach der Ostjuden und andere missliebige Ausländer leichter als bisher ausgewiesen werden konnten. Die größte Ausweisungsaktion fand im Oktober/November 1923 während des Generalstaatskommissariats Kahr statt. An der verschärften Ausweisungspraxis waren in München vor allem Polizisten beteiligt. Sie forschten in den Stadtvierteln nach Auffälligkeiten unter den einzelnen Ostjuden und griffen dabei auch auf Denunziationen aus der Bevölkerung zurück. Ostjuden waren auch eine von mehreren Gruppen Ausländern, die ab April 1920 im Rahmen von Kahrs radikal-antisemitischer Politik in das Internierungslager Ingolstadt (Fort Prinz Karl) eingewiesen wurden, bevor die so genannte Abschiebung über die Grenze erfolgte. Das 1920 bis 1923 durchschnittlich mit 100 Personen belegte Lager, das erste seiner Art in Deutschland überhaupt, stand, ebenso wie auch die gleichfalls zwischen 1920 und 1923 bestehenden Internierungs-Unterkünfte in Preußen (Stargard, Cottbus), fortwährend in der Kritik auch der ausländischen Presse. Die in der Literatur häufig zu findende Parallel-Setzung dieser Lager zu den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ist mit Vorsicht zu betreiben. Das Anfang 1924 aufgelöste Ingolstädter Lager blieb Episode, es stellte also keine Konstante bayerischer Ostjudenpolitik dar.

Ausbürgerungen, die infolge des am 14. Juli 1933 erlassenen "Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft" erfolgten, trafen vor allem nach November 1918 eingebürgerte Ostjuden. Während die "Nürnberger Gesetze" von 1935 alle jüdischen Einwohner Deutschlands gleichermaßen betrafen, war die reichsweite Ausweisungsaktion vom 28. und 29. Juni 1938 ausschließlich auf Juden polnischer Nationalität ausgerichtet.

Literatur

  • Avraham Barkai, Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1938, München 2002.
  • Douglas Bokovoy/Stefan Meining (Hg.), Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt 1914-1945, München 1994.
  • Andreas Heusler, Doppelte Diskriminierung. Rassismus und antisemitistische Gewalt gegen "Ostjuden" in München zwischen 1880 und 1930, in: Angela Koch (Hg.), Xenopolis. Von der Faszination und Ausgrenzung des Fremden in München. Begleitband zur Ausstellung "Xenopolis ... " in der Rathausgalerie München vom 27. April bis 12. Juni 2005, Berlin 2005, 225-228.
  • Rolf Kiessling, Jüdische Gemeinden, in: Max Spindler (Begr.)/Alois Schmid (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte. Vierter Band: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart. Zweiter Teilband: Die innere und kulturelle Entwicklung, München 2. Auflage 2007, 356-384 (hier v. a. 370-374).
  • Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918-1933, Hamburg 1986.
  • Trude Maurer, Die Wahrnehmung der Ostjuden in Deutschland 1910-1933, in: LBI Information. Nachrichten aus den Leo Baeck Instituten in Jerusalem, London, New York und der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des LBI in Deutschland 7 (1997), 67-85.
  • Dirk Walter, Antisemitische Gewalt und Kriminalität. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999.
  • Dirk Walter, Ungebetene Helfer - Denunziationen bei der Münchner Polizei anläßlich der Ostjuden-Ausweisungen 1919 bis 1923/24, in: Archiv für Polizeigeschichte 18 (1996), 14-20.
  • Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York/Oxford 1987.

Quellen

  • Max Hirschberg, Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts 1883 bis 1939, hg. von Reinhard Weber, München 1998.

Weiterführende Recherche

Empfohlene Zitierweise

Dirk Walter, Ostjuden (Weimarer Republik), publiziert am 29.11.2007; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Ostjuden_(Weimarer_Republik)> (10.10.2024)