Föderalismus: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 27. Mai 2021, 11:10 Uhr
Föderalismus (von lat. foedus = Bündnis) ist ein historisch-genetischer Ordnungsbegriff, der das Spannungsfeld zwischen überstaatlicher und teilstaatlicher Gestaltung eines Gemeinwesens charakterisiert. In Bayern war der Föderalismus die inhaltlich in Grenzen variable Leitidee aller Staatsregierungen der Weimarer Republik und seit 1945 zugleich verbunden mit einem am bundesstaatlichen Prinzip orientierten Eigenstaatlichkeitsanspruch.
Diffuser Begriff
Kaum ein Begriff wird häufiger im Zusammenhang mit bayerischer Politik verwendet, kaum ein anderer ist jedoch auch so schwierig zu fassen. So konstatierte der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard (1887-1980) zum Beispiel noch nach dem Krieg, am 13. April 1948 auf der 5. Tagung des Ellwanger Kreises der CDU/CSU, der einen wesentlichen Anteil an der Formulierung des föderalistischen Staatsaufbaus der Bundesrepublik Deutschland hatte: "Wer von uns kann überhaupt sagen, was das ist [...] Wir reden nur von Föderalismus und jeder stellt sich etwas anderes vor" (zit. nach Peter Jakob Kock, Bayerns Weg in die Bundesrepublik, München 1983, 270).
Vom Partikularismus zum Föderalismus: die Bayerische Patriotenpartei
Der Föderalismus (lateinisch foedus = Bund, Bündnis) ist die inhaltlich in Grenzen variable Leitidee von Bayerischer Volkspartei (BVP), Christlich-Sozialer Union (CSU) und allen bayerischen Staatsregierungen in der Weimarer Republik und seit 1945. Vorläufer der BVP war die Bayerische Patriotenpartei, eine lange Zeit programmatisch diffuse Sammlungsbewegung, in der von Anfang an lediglich Konsens über die Ablehnung von Liberalismus und preußischem Militarismus bestand. Bei der Reichsgründung 1870/71 war die Partei noch in Partikularisten und Föderalisten gespalten. Der langfristige Übergang zu föderalistischen Positionen in der Ära Bismarck bedeutete die Anerkennung des verfassungsrechtlichen Status quo seit 1871 (Friedrich Hartmannsgruber, Die Bayerische Patriotenpartei 1868-1887, München 1986).
Leitidee von BVP und allen Staatsregierungen der Weimarer Republik
Während der Weimarer Republik war der Föderalismus die Leitidee der Bayerischen Volkspartei (BVP) und aller bayerischen Staatsregierungen, im Übrigen auch derjenigen unter den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD, 1867-1919) und Johannes Hoffmann (SPD, 1867-1930) (vgl. zur BVP das föderalistische Bamberger Programm, 18. September 1920, Abdruck: Schwend, Monarchie, 135f., sowie dessen endgültige Fassung, 28. Oktober 1922, Abdruck ebd., 141f.).
Trennung vom Zentrum und großdeutsche Ausrichtung
Seit 1918/19 formulierten die Föderalisten die Gegenposition zu den starken unitaristischen Tendenzen im Reich, die in der Weimarer Reichsverfassung einen Anknüpfungspunkt hatten. Sie gaben insofern bereits 1918 den Ausschlag für die Trennung der bayerischen Zentrumsabgeordneten vom Reichszentrum und die Gründung der BVP. Diese Konstellation fand 1945 mit der Gründung der CSU als Schwesterpartei der CDU eine Fortsetzung. 1920 forcierte dann aus demselben Grund Georg Heim (1865-1938) die Auflösung der Arbeitsgemeinschaft zwischen BVP und Zentrum im Reichstag. Eine Konstante blieb auch nach 1919 die großdeutsche Orientierung. Hinter dem Ziel einer Einbeziehung Österreichs stand der Wunsch, die Minderheitenposition der Katholiken im Reich abzumildern.
Föderalismus als innerbayerisches Integrationsinstrument
Historisch ist der Föderalismus das Instrument, mit dem die bayerische Politik seit 1871 die nationalstaatliche Einigung unter Eingliederung Bayerns in das Reich handhabte. Diese Entwicklung war zwar in weiten Bevölkerungskreisen ungeliebt, galt aber zumindest auf politischer Ebene und in Wirtschaftskreisen als sachlich unausweichlich. Dabei erhob Bayern unter Verweis auf dieses staatliche Organisationsprinzip, das deutscher Tradition und Geschichte entspreche, und, so Konrad Beyerle, "darum an und für sich deutsch" sei (Staatslexikon, 2. Band, 1927, 66ff.), gleichermaßen den Anspruch auf Mitwirkung der Bundesstaaten an den Reichsangelegenheiten sowie partielle Selbständigkeit des Freistaates Bayern. Der Föderalismus förderte so auch zwischen 1918 und 1933 ein bayerisches Staatsbewusstsein, das wiederum die Grundlage jeder föderalistischen Politik bildete.
Der Spagat zwischen praktischer Politik im Reich und föderalistischem Anspruch
Den Widerspruch zwischen der praktischen Politik der BVP im Reich, u. a. auch ihrer Beteiligung an mehreren Reichsregierungen, sowie ihren föderalistischen Grundsatzpositionen löste man auf, indem die Partei zwar formal bis 1933 an ihrem Programm festhielt, die Maximalforderungen jedoch künftig von der Staatsregierung und der Münchner Ministerialbürokratie formuliert wurden, etwa in den Regierungsdenkschriften. Die bayerische Opposition, namentlich die SPD, kritisierte in diesen Jahren die föderalistischen Positionen der Staatsregierung.
Orientierung am Bundesstaatsprinzip
Mit dem Föderalismus ist ein mehr oder weniger stark ausgeprägter Eigenstaatlichkeitsanspruch verbunden, der sich jedoch klar in ein bundesstaatliches Prinzip einfügt (Vorbild: die Vereinigten Staaten von Amerika, 1787). In den Weimarer Jahren orientierte sich dieser Anspruch konkret an der von Bayern damals verklärten Variante der Bismarckschen Reichsverfassung, die angesichts preußischer Hegemonie jedoch nur ein "Pseudo-Föderalismus" (Laufer/Münch) gewesen war.
Davon klar zu unterscheiden sind weitergehende staatenbündische Vorstellungen (in einem Staatenbund behalten die Mitgliedsstaaten ihre Souveränität), die von staatlicher Seite in Bayern nicht vertreten, ihr jedoch immer wieder attestiert wurden. In gleichem Maße gilt dies auch für den nach völliger Unabhängigkeit strebenden Separatismus.
Theoretische Grundlagen
Die Schriften des föderalistischen Theoretikers Constantin Frantz (1817-1891) (Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation, 1879) besaßen für dessen bayerische Spielart so gut wie keine Bedeutung. Umso einflussreicher für die Legitimierung der bayerischen Föderalismuspolitik war hingegen die bayerische Landesgeschichtsschreibung, von Michael Doeberl (1861-1928) bis Max Spindler (1894-1986). Zusätzlich wird der bayerische Föderalismus von dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre hergeleitet (Enzykliken Rerum Novarum [1891] und insbesondere Quadragesimo Anno [1931]).
Ministerpräsident Held, Konrad Beyerle, Karl Schwend und die Beamtenschaft als Exponenten
Bedeutendster Protagonist des bayerischen Föderalismus in der Weimarer Republik war Heinrich Held (1868-1938), der schon an der Programmatik der BVP federführend beteiligt gewesen war (zu seinem Föderalismusverständnis vgl. Richard Keßler, Heinrich Held als Parlamentarier, 1868-1924, Berlin 1971, 418-422). Held schärfte vor allem mit den verschiedenen Regierungsdenkschriften und seinen Beiträgen auf den Länderkonferenzen Ende der 1920er Jahre dessen programmatisches Profil weiter - vor allem unterstützt von Staatsrat Hans Schmelzle (1874-1955). Dabei standen ihm auch der "Kronjurist" der BVP, der Münchner Staatsrechtler Hans Nawiasky (1880-1961) (vgl. Barbara Fait, Das föderalistische Manifest von Hans Nawiasky, in: Geschichte im Westen 6 [1991], 224-231), sowie innerparteilich der Münchner Juraprofessor Konrad Beyerle (1872-1933) - der Verfasser des Artikels Föderalismus im Staatslexikon der Görresgesellschaft (2. Band, 5. Auflage 1927, 66ff.) zur Seite, ferner Anton Pfeiffer (1888-1957) und Karl Schwend (1890-1968). Letzterer bezog sich ausdrücklich auf seinen akademischen Lehrer Doeberl. Schwends nach dem Krieg verfasstes Werk (Bayern zwischen Monarchie und Diktatur. Beiträge zur Bayerischen Frage in der Zeit von 1918 bis 1933, München 1954) muss daher primär als Quelle des bayerischen Förderalismusverständnisses in der Weimarer Republik gelesen werden, wie es in der bayerischen Exekutive und in der BVP-Führung vorherrschte, sowie als Rechtfertigung der von Bayern damals verfolgten Politik (vgl. zeitgenössisch mit dieser kritischen Einordnung bereits: Heinz Gollwitzer, Bayern 1918-1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 [1955], 363-387, hier 366f.). Wichtigster Träger des bayerischen Föderalismus blieb im Übrigen über die Epochenzäsur 1945 hinweg die bayerische Beamtenschaft, insbesondere die Ministerialbürokratie.
Gegenposition zum nationalsozialistischen Staatsverständnis
Durch seinen föderalistischen Standpunkt befand sich Bayern auch von Anfang an in Opposition zum Nationalsozialismus, der, dem Führerprinzip verpflichtet, den zentralistischen Einheitsstaat und die Gleichschaltung der Länder anstrebte.
Den geringen Stellenwert der Länder hatte Hitler schon in der Erstauflage von "Mein Kampf" (1925/26) formuliert: Die Bedeutung der Einzelstaaten liege "künftig überhaupt nicht mehr auf staats- und machtpolitischem Gebiet" (Rüdiger Gerst, Zur Situation u. Transformation des Föderalismus in der Phase der nationalsozialistischen "Machtergreifung" und -sicherung, in: Region - Nation - Vision. Festschrift Karl Möckl zum 65. Geburtstag, Bamberg 2005, 217-242).
Trotz dieser zentralistischen Vorgaben und gezielter Entföderalisierung u. a. durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches (30. Januar 1934) sowie die Auflösung des Reichsrats (14. Februar 1934) gab es jedoch auch zwischen 1933 und 1945 weiterhin gegenläufige Tendenzen und Faktoren in Bayern. Am stärksten manifestierten sich Einheit und Eigenpersönlichkeit Bayerns bis 1945 in der Person des Reichsstatthalters in Bayern Franz Xaver Ritter von Epp (1868-1947) (vgl. Bernhard Grau, Der Reichsstatthalter in Bayern: Schnittstelle zwischen Reich und Land, in: Hermann Rumschöttel/Walter Ziegler [Hg.], Staat und Gaue in der NS-Zeit. Bayern 1933-1945, München 2004, 129-169).
Kontinuität föderalistischer Politik nach 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich Ministerpräsident Hans Ehard (CSU, 1887-1980, Ministerpräsident 1946-1954, 1960-1962) expressis verbis in die Tradition seines Amtsvorgängers Held und dessen legalistisch-föderalistischer Politik. In seinem engsten politischen Umfeld gab es mit Pfeiffer und Schwend in dieser Hinsicht auch eine bemerkenswerte personelle Kontinuität. Für die historische Legitimierung der föderalistischen Politik des bayerischen Regierungschefs zeichnete daneben nunmehr der Historiker Ernst Deuerlein (1918-1971) als Redenschreiber mitverantwortlich (Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips, München 1972).
Der Föderalismus als Garant für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland
Dabei griff Ehard insbesondere ein von Held bereits in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verwendetes Diktum auf, wonach die Aufrichtung einer Diktatur in Deutschland bisher an seiner föderalistischen Struktur gescheitert sei. Diese These wandelte Ehard nach 1945 dahingehend ab, dass eine echte föderalistische Verfassungsstruktur in der Weimar Republik die Chance geboten hätte, den Nationalsozialismus zu verhindern. Daher wurde er nach dem Krieg nicht müde, vor allem gegenüber der amerikanischen Besatzungsmacht zu betonen, ein System föderalistischer "checks and balances" garantiere einen erfolgreichen demokratischen Neuaufbau. Die Unterstützung durch die US-Militärregierung trug nicht unwesentlich zur Schaffung des Bundesrates während der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates (1948/49) in Bonn bei, die ganz wesentlich Ehards Verdienst war und als föderalistischer Erfolg gilt.
Auch der nach dem Krieg betriebene bayerische Föderalismus war in viel stärkerem Maße Chiffre für eine bestimmte Form praktischer Politik als eine theoretisch fundierte Staatslehre. Dies belegt auch die Tatsache, dass Ministerpräsident Ehard erst 1954 mit dem Vortrag "Die geistigen Grundlagen des Föderalismus", der aus der Feder Deuerleins stammte, die theoretische Grundlage seiner Politik nachreichte (Abdruck: Karl-Ulrich Gelberg, Quellen zur politischen Geschichte Bayerns in der Nachkriegszeit. 1. Band [1944-1957], München 2002, 529-538). Dort propagierte er den Föderalismus auch als Modell für ein geeintes Europa und als Strukturprinzip, um die individuelle Freiheit gegenüber den Bedrohungen von Kollektivismus und Totalitarismus zu bewahren. Kritisch setzte er sich ebenso mit dem bereits in der Weimarer Republik immer wieder erhobenen Einwand auseinander, der Föderalismus sei die teurere Regierungsform, und wies nach, dass die "Verreichlichung" der Justiz nach 1933 nicht zu einer Verringerung, sondern zu einem Anstieg der Beamtenzahl und damit zu einer Verteuerung der Verwaltung geführt habe.
Föderalistische Wendung der bayerischen SPD nach 1945
Im Unterschied zur Weimarer Republik vertrat die bayerische Sozialdemokratie unter Führung von und später unter Berufung auf Wilhelm Hoegner (SPD, 1887-1980, Ministerpräsident 1945-1946, 1954-1957) nach dem Zweiten Weltkrieg in der Opposition und als Regierungspartei (1945-1947, 1950-1954 und 1954-1957) dezidiert föderalistische Positionen, was verschiedentlich zu Divergenzen mit dem Bundesvorstand der SPD führte.
Kontinuität föderalistischer Politik bis zur Jahrtausendwende
Die föderalistische Politik Hans Ehards, der mit dem Grundgesetz nur einen "labilen Föderalismus" etabliert sah, der sich auch in zentralistische Richtung entwickeln könnte, setzten alle seine Nachfolger im Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten fort. Die bereits während der Weimarer Republik erkennbaren, strukturellen Differenzen mit den Repräsentanten der eigenen Partei in Bundestag und Bundesregierung blieben ebenfalls bestehen (Petra Weber, Föderalismus und Lobbyismus. Die CSU-Landesgruppe zwischen Bundes- und Landespolitik 1949 bis 1969, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller [Hg.], Bayern im Bund, 3. Band, München 2004, 23-116). In die Bundesregierung eingebundene Parteifreunde reagierten auf föderalistische Forderungen von der Isar jedoch häufig mit Indifferenz oder Ablehnung. Tiefpunkt der Entwicklung für den bereits in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in die Defensive geratenen Föderalismus war die Große Finanzreform (1969), die zu einer stärkeren Verflechtung führte und Bundeskompetenzen ausweitete. Protagonist der Reform unter dem Schlagwort vom "Kooperativen Föderalismus" war der CSU-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß (Wolfgang Renzsch, Finanzverfassung u. Finanzausgleich. Die Auseinandersetzungen um ihre politische Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Währungsreform u. dt. Vereinigung [1948-1990], Bonn 1991, 209-260).
Europäische Integration und bayerischer Föderalismus
Seit den 1970er Jahren erwies sich auch die zunehmende europäische Integration als neue Herausforderung für die föderalistische Politik Bayerns. Die Ministerpräsidenten Alfons Goppel (CSU, 1905-1991, Ministerpräsident 1962-1975), Franz Josef Strauß (CSU, 1915-1988, Ministerpräsident 1978-1988) und Max Streibl (CSU, 1932-1998, Ministerpräsident 1988-1993) stellten sich ihr mit neuen Konzepten wie der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer (Arge Alp) und dem Europa der Regionen (vgl. Martin Hübler, Die Europapolitik des Freistaates Bayern. Von der Einheitlichen Europäischen Akte bis zum Amsterdamer Vertrag, München 2002).
Nach der Wiedervereinigung knüpfte Ministerpräsident Streibl an das Vorbild der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz von 1947 an, bei der sich die Ministerpräsidenten der Westzonen unter Führung Hans Ehards als "Treuhänder des deutschen Volkes" konstituiert hatten. Er lud die nunmehr 16 Regierungschefs der Länder am 20./21. Dezember 1990 zu einer Ministerpräsidentenkonferenz nach München ein. Mit der dort verabschiedeten "Münchner Erklärung" (Abdruck: Bayer. Staatszeitung, 4. Januar 1991) unterstrich Bayern seinen föderalistischen Führungsanspruch im Kreis der Länder auch in einem größer gewordenen Deutschland.
Der im Zuge der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages im Dezember 1992 auf Druck der Länder neu in das Grundgesetz eingefügte Art. 23 (Europaartikel) bindet seitdem die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union an die Zustimmung des Bundesrates (W. Fischer, Die Europäische Union im Grundgesetz: der neue Artikel 23, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 24 [1993], 32-49). Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU, geb. 1941, Ministerpräsident 1993-2007) pries den von ihm mitformulierten neuen Artikel 23 GG in seiner ersten Regierungserklärung 1993 als "bedeutendste Stärkung des Föderalismus seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland". Da die Bundesrepublik Deutschland sich seitdem bei Entscheidungen auf europäischer Ebene besonders häufig enthalten musste ("German vote"), weil eine Abstimmung mit den Ländern zeitlich nicht möglich war, wird der Artikel heute, was die Handlungsfähigkeit und das Gewicht der Bundesrepublik auf europapolitischer Ebene betrifft, äußerst kritisch bewertet.
Föderalismusdebatte seit Mitte der 1990er Jahre
Zu der seit Mitte der 1990er Jahre in Wissenschaft und Politik intensiv geführten Föderalismusdebatte leistete der bayerische Ministerpräsident Stoiber zunächst 1998 einen Beitrag, indem er mehr Wettbewerb unter den Ländern forderte (Wettbewerbsföderalismus im Unterschied zum bisher praktizierten Beteiligungsföderalismus) (Hartmut Klatt, Plädoyer für einen Wettbewerbsföderalismus, in: Reinhard C. Meier-Walser/Gerhard Hirscher [Hg.], Krise und Reform des Föderalismus, München 1999, 64-78). Damit zielte er primär auf eine Änderung des Länderfinanzausgleichs.
Seit Ende des Jahrtausends herrscht in Bund und Ländern weitgehender Konsens über die Notwendigkeit, das föderalistische System der Bundesrepublik zu reformieren. Die dazu unter Vorsitz von Franz Müntefering (SPD, geb. 1940) und Edmund Stoiber im Oktober 2003 gemeinsam von Bundestag und Bundesrat eingesetzte Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Bundesstaatskommission) musste jedoch am 17. Dezember 2004 vorerst ihr Scheitern an dieser Aufgabe eingestehen. Man war sich zwar einig in der Zielsetzung (vor allem einer Entflechtung der Zuständigkeiten, die durch die Große Finanzreform der Großen Koalition 1969 geschaffen worden war), jedoch nicht über die neue Kompetenz-, Finanz- und damit Machtverteilung. 2006 hat die Große Koalition einen neuen Anlauf unternommen, die Föderalismusreform zu verwirklichen.
Literatur
- Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Föderalismus in Deutschland (Informationen zur politischen Bildung 318), Bonn 2013.
- Everhard Holtmann, Die Krise des Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.), Die Weimarer Republik, Bd. 3: Das Ende der Demokratie 1929-1933, München 1995, 173-211.
- Karl-Ulrich Gelberg, Staatsbewusstsein und Föderalismus in Bayern nach 1945, in: Politische Studien 392 (November/Dezember 2003), 64-78.
- Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, München 7., neu bearbeitete Auflage 1997.
- Thomas Nipperdey, Der Föderalismus, in: Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, 60-109.
- Heinrich Oberreuter, Föderalismus, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Auflage 1986, 632-638.
- Roland Sturm, Föderalismus in Deutschland, Opladen 2001.
Weiterführende Recherche
Externe Links
- Dokumentarchiv.de: Weimarer Republik
- Verfassungen.de: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
- Verfassungen.de: Verfassung des Deutschen Reichs von 1871
- Verfassungen.de: Weimarer Reichsverfassung
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- Freistaat Bayern
- Gesetzgebung (nach 1945)
- Neugliederung des Reiches (1919-1945)
- Reichsrat, 1919-1934
- Reservatrechte
- Union alpine/Südstaat
- Vertretung des Freistaates Bayern bei der Europäischen Union
- Weimarer Reichsverfassung, 1919
Eigenstaatlichkeit
Empfohlene Zitierweise
Karl-Ulrich Gelberg, Föderalismus, publiziert am 03.07.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Föderalismus (31.10.2024)