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Judentum (19. Jahrhundert)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Innenraum der neuen Hauptsynagoge in Fürth, 1831 von Georg Christoph Wilder (1797-1855) angefertigter Stich. (Staatsbibliothek Bamberg V C 53, lizenziert durch CC BY-SA 4.0)

von Sabine Ullmann

Im 19. Jahrhundert erhielt Bayern durch die Gebietserweiterung eine große jüdische Minderheit in der Bevölkerung. Sie wurde schrittweise durch das Judenedikt (1813) und die Aufhebung der dortigen Einschränkungen ab 1861 allmählich und dann durch die Reichsgründung 1871 vollständig integriert. Dies führte zu großen Umbrüchen in den jüdischen Gemeinden: Um 1800 lebte ein Großteil der Familien in kleinen Landgemeinden in Franken und Schwaben und noch um die Mitte des Jahrhunderts hatten die Beschränkungen zu einer großen Auswanderungswelle geführt. Deren Wegfall löste ab den 1860er Jahren einen Zuzug in die Städte aus, neben den großen urbanen Zentren Bayerns auch in Klein- und Mittelstädte. Waren zu Anfang noch Viele im Kleinwaren- und Kredithandel tätig, so weiteten sich allmählich die Berufsfelder, die später auch Fabrikbesitzer und Staatsbeamte umfassten. Die Umbrüche vollzogen sich auch in den jüdischen Gemeinden selbst, deren Selbstverwaltung eingeschränkt wurde und in die staatlichen Verwaltungen integriert wurden. Durch Regelungen zur Rabbinerausbildung kam es im 19. Jahrhundert auch zu innergemeindlichen Konflikten zwischen Orthodoxen und Reformern, die grundsätzliche Fragen nach der jüdischen Identität in der modernen Gesellschaft berührten.

Ausgangslage

Wie in den anderen deutschen Staaten war das 19. Jahrhundert für die jüdischen Gemeinden in Bayern ein Jahrhundert des Wandels. Es wurde geprägt vom mühsamen Kampf um die rechtliche Gleichstellung sowie von innerjüdischen Reformbewegungen und der Akkulturation. Den Integrationsbemühungen von Seiten der jüdischen Bevölkerung sowie der Regierung stand der aufkeimende Antisemitismus gegenüber. Die bis dahin überwiegend ländlich-kleinstädtischen Lebensformen wichen einer bürgerlich-städtischen Lebensweise mit neuen Berufszweigen. Zugleich weist die jüdische Geschichte Bayerns landesgeschichtliche Spezifika auf. Bedingt durch einen restriktiven Kurs der Regierung verzögerte sich die rechtlich-politische Emanzipation. Das neu geschaffene Königreich Bayern hatte zwar einen vergleichsweise hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, der sich aber auf die neu eingegliederten Gebiete Frankens und Schwabens konzentrierte, die zu den Siedlungszentren des süddeutschen Landjudentums zählten. Diese regionalen Unterschiede wirkten auf die Wandlungsprozesse ein, beeinflussten die bayerische Judenpolitik und führten auch zu einer spezifischen Prägung im Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt.

Das frühneuzeitliche Landjudentum um 1800

Von den nach der sog. Montgelas-Statistik 1809/10 nachweisbaren Siedlungsorten befanden sich 90 % in Franken und Schwaben (Angaben aus: Jüdische Siedlungen in Bayern 1500 – 1820). Dieses Siedlungsmuster war das Ergebnis der unterschiedlichen Judenpolitik frühneuzeitlicher Herrschaftsträger. Insbesondere die fränkischen Markgrafentümer, die vorderösterreichische Regierung der Markgrafschaft Burgau, die Ritterschaften Frankens und Schwabens sowie die pfälzischen Linien der Wittelsbacher nahmen sog. Schutzjuden auf. Dagegen verhinderten die bayerischen Herzöge und Kurfürsten - mit Ausnahme einer kleinen Ansiedlung von jüdischen Hoffaktoren in München - die Niederlassung in ihrem Herrschaftsbereich. Während sich somit um 1800 in Franken und Schwaben und in Teilen der heutigen Oberpfalz bereits Traditionen der jüdisch-christlichen Koexistenz ausgebildet hatten, fehlten diese in Altbayern.

Wo die jüdische Bevölkerung Aufenthaltsrechte besaß, regelten einzelne Judenordnungen und Schutzprivilegien die vielfach restriktiven Rahmenbedingungen jüdischer Existenz im Bereich des Wirtschaftslebens, der religiösen Praxis sowie der Wohn- und Aufenthaltsrechte. Die jüdischen Gemeinden konnten unter weitgehender Autonomie Ortsgemeinden und regionale Zusammenschlüsse in Form der Landjudenschaften bilden. Das religiös-kultische Leben war geprägt von einer orthodoxen Ausrichtung, der gemeindlichen Leitung durch die Parnassim (Gemeindevorsteher) und einer eigenen rabbinischen Gerichtsbarkeit. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich insbesondere in Franken die Haskalah als Teil der europäischen Aufklärungsbewegung ausgebreitet. Ausgehend vom Zentrum in Berlin um den Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) forderte die von jungen jüdischen Intellektuellen (Maskilim) getragene Bewegung eine Öffnung zur allgemeinen Gesellschaft und Kultur ohne eine vollständige Assimilation anzustreben.

Innerhalb der Landgemeinden bestand eine konfliktreiche Verknüpfung durch die Partizipation der jüdischen Hausbesitzer an den Gemeinderechten, die mancherorts bei hohen jüdischen Bevölkerungsanteilen auch zu einer weiterführenden Beteiligung an den kommunalen Belangen führte. Die Erwerbsweisen orientierten sich am ländlich-kleinstädtischen Umfeld und konzentrierten sich auf den im Hausierhandel betriebenen Vieh-, Landwaren- und Kredithandel. Unterschiedliche Erwerbschancen sowie die restriktive bzw. privilegierende Judenpolitik der jeweiligen Schutzherrschaften evozierten soziale Abstufungen in der jüdischen Gesellschaft, die von der Gruppe der ‚Betteljuden‘ ohne Schutzprivileg über die ‚Schutzjuden‘ bis hin zu den mit Sonderrechten ausgestatteten ‚Hofjuden‘ reichten.

1813 zählte man 29.756 Personen im rechtsrheinischen Bayern zum jüdischen Glauben. 1822 waren es 42.932 Personen und 10.470 Personen in der Pfalz, was einen Gesamtbevölkerungsanteil von 1,25 % (bei 3.25 Mio. Einwohnern 1818) ergibt.

Die schrittweise rechtliche Gleichstellung im Königreich Bayern

Titelblatt des Buches "Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden" von Christian Wilhelm Dohm. (Bayerische Staatsbibliothek, Jud. 20-1/2)
Erste Seite des Ediktes über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im "Königreiche Baiern", dem sogenannten Judenedikt von 1813. Abb aus: Königlich-Baierisches Regierungsblatt Nr. 49 (17.7.1813), 921-932. (Bayerische Staatsbibliothek, BHS VIII D 4-1813)

Als mit den Gebietserweiterungen von 1803 bis 1815 die alten jüdischen Siedlungslandschaften an das Königreich Bayern fielen, entfaltete sich ein Diskurs um die Stellung der jüdischen Minderheit, der maßgeblich vom Erziehungsgedanken geprägt war, wie ihn der Jurist und preußische Beamte Christian Wilhelm Dohm (1751-1820) in seiner Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ 1781 formuliert hatte. Daraus formierte sich eine politische Richtung, die für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts prägend blieb. Forciert wurde eine nur schrittweise Gewährung bürgerlicher Freiheiten, die an die Voraussetzung innerer Reformmaßnahmen und die Akkulturation geknüpft wurde. Nach einer Reihe von Einzelerlassen ersetzte das Judenedikt von 1813 als Verfassungsgesetz die frühneuzeitliche Rechtssituation und ordnete die ehemaligen ‚Schutzjuden‘ unter erheblichen Einschränkungen (Matrikelparagraph, Regelungen zur Erwerbsweise) in das Staatsbürgerrecht und ihre Gemeinden in das Staatskirchenrecht ein. Zu Revisionsbemühungen kam es bereits auf dem ersten bayerischen Landtag 1819. Mittels Petitionen versuchten die Judengemeinden ihre vollkommene Gleichstellung zu erringen. Im Gegenzug drängten christliche Kauf- und Handelsleute unter Führung des katholischen Deputierten Joseph von Utzschneider (1763-1840) auf weitere Restriktionen gegen den als Konkurrenz wahrgenommenen jüdischen Hausierhandel. Der Landtag von 1848 brachte unter dem Einfluss des Revolutionsgeschehens wie auf gesamtdeutscher Ebene für das Frankfurter Parlament Teilerfolge, z. B. das Wahlrecht und die Zulassung zu den Schwurgerichten. Der Vorstoß der bayerischen Abgeordnetenkammer zur Revision des Judenedikts scheiterte allerdings erneut 1850 an der Kammer der Reichsräte, die beeinflusst durch antijüdische Petitionen dagegen stimmten. Maßgebliche Organisatoren der sog. Adressbewegung waren die katholisch-konservativ geprägten Piusvereine. Der Emanzipationsprozess kam in Bayern daher nur schrittweise und zögerlich voran: Erst 1861 wurde der Matrikelparagraph und 1868 die bis dahin immer noch bestehenden Einwanderungsbeschränkungen aufgehoben. Die lang erkämpfte völlige Gleichstellung brachte dann das Reichsgesetz von 1871 als Folge des Beitritts Bayerns zum Deutschen Reich.

Die politischen Debatten wurden im 19. Jahrhundert begleitet von antijüdischen Ausschreitungen und Agitationen. Besonders markant stechen die Hep-Hep-Unruhen von 1819/1822 hervor, die sich innerhalb Bayerns vor allem in Franken und der Oberpfalz ereigneten. Ausgehend von Würzburg verbreiteten sich die Tumulte, in deren Verlauf es zu Plünderungen und Angriffen gegen Juden und ihre Geschäftshäuser kam, an mehreren Orten im Deutschen Bund. Getragen v. a. von Kaufleuten und Handwerkern waren sie eine der ersten gewaltvollen Reaktionen auf einen befürchteten Aufstieg der jüdischen Bevölkerung im Zuge der Emanzipation. Deutlich greifbar werden judenfeindliche Strömungen dann insbesondere auch bei den Verhandlungen zur Revision des Judenedikts zwischen 1813 und 1850, die geprägt waren von antijüdischen Stereotypen. Dies dokumentieren auch die dazu erstellten Gutachten der Beamtenschaft in den Landgerichten, die allerdings erhebliche regionale Unterschiede in der Einstellung zur Gleichstellung aufwiesen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts breiteten sich dann auch in Bayern antisemitische Einstellungen sukzessive aus. Die nun rassistisch, mit einem biologischen Determinismus begründeten Ablehnungen und Invektiven – bei denen der Berliner Antisemitismusstreit 1879/81 eine treibende Rolle spielte – bildeten nun die Kehrseite der erreichten Emanzipation.

Integration und Akkulturationen

Emanzipationsbewegung und Antisemitismus wurden begleitet von Integrationsschritten. Der Grad der Integration lässt sich u. a. an der politischen Partizipation, der Mitgliedschaft im aufblühenden Vereinswesen, dem Zugang zu akademischer Bildung und zum Militär sowie der Aufnahme in nichtjüdische gesellschaftliche Kreise bemessen. Vieles spricht dafür, dass in den Landgemeinden, die auf eine lange jüdisch-christliche Koexistenz zurückblicken konnten, auch ein „pragmatischer Weg zur Emanzipation“ (Kießling, Jüdische Geschichte, 360) beschritten wurde. Dabei basierte die politische Integration auf kommunaler Ebene auf bereits bestehenden lokalen Traditionen, wie der gemeinsamen Bewirtschaftung der Allmende im Rahmen der vormodernen Agrarwirtschaft. Die vergleichsweise frühe jüdische Beteiligung im Magistrat von Ichenhausen 1818/19 und die Präsenz von jüdischen Gemeindebevollmächtigten in Krumbach-Hürben (beide Lkr. Günzburg) bereits 1822 verweisen darauf. Dass dies aber nicht immer der Fall sein musste, zeigt das Beispiel Fürth, wo erst 1851 ein jüdischer Vertreter gewählt wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang dann die Wahl in viele kommunale Gremien, auch in den neuen städtischen Gemeinden: in Augsburg 1863, in München, Nürnberg und Ulm 1869. Durch das Revolutionsgeschehen von 1848, an dem sich auch Juden beteiligten, gelang die Mitwirkung auf landespolitischer Ebene schon früher. Die ersten jüdischen Abgeordneten im bayerischen Landtag waren der Jurist Fischel Arnheim (1812-1864) und der Zinnfolienfabrikant David Morgenstern (1814-1882). Beide stehen für den allgemeinen politischen Trend einer engen Verbindung zwischen Judentum und Liberalismus seit der Vormärzzeit. Ein weiterer Weg verlief über die Teilnahme am Vereinswesen. In den jüdischen Gemeinden passte man sich den neuen bürgerlichen Vergesellschaftungsformen durch Neugründungen an, wie den Geselligkeitsverein in Würzburg 1836. Zugleich kam es zur schrittweisen Öffnung bürgerlicher Vereine für Juden seit den 1830er Jahren, etwa in Würzburg oder München. Auf dem Lande, wie für Hürben belegt, gründete man gemeinsame Gewerbe- und Wohltätigkeitsvereine.

Den Schritten zur Akzeptanz steht der schwierige Zugang zur akademischen Welt gegenüber. An den Universitäten in Erlangen, München und Würzburg waren zwar bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige jüdische Studenten immatrikuliert, aber eine akademische Berufstätigkeit im Staatsdienst war nur über die Konversion möglich. Der Mediziner Jakob Herz (1816-1871) bekam die Lehrerlaubnis erst nach persönlichem Eingreifen König Max II. (1811-1864, reg. 1848-1864) 1854; 1869 wurde er in Erlangen der erste jüdische Ordinarius in Bayern. Noch schwieriger erwies sich trotz der Einführung der Wehrpflicht die militärische Laufbahn, die Juden mit wenigen Ausnahmen verschlossen blieb. Erst nach der Mitte des Jahrhunderts erfolgte die Zulassung in den Staatsdienst auch ohne Taufe, 1861 etwa für Notare und Richter. Die Karriere in der Wissenschaft blieb aber ein schwieriger Weg, der nur in wenigen Ausnahmefällen gelang. Nicht wenige jüdische Intellektuelle wichen daher in das Presse- und Verlagswesen oder in den Buchhandel aus.

Neben neuen Berufswegen lassen sich Akkulturationen in vielerlei Hinsicht beobachten: Heute noch deutlich sichtbar ist der Wandel der Begräbniskultur im 19. Jahrhundert in den erhaltenen jüdischen Friedhöfen Bayerns. Nun wurden immer häufiger deutsche Grabinschriften verwendet, und die Stilistik sowie die äußere Form der Grabsteine passten sich den nichtjüdischen Gepflogenheiten an. Die im Nationalsozialismus weitgehend zerstörte städtische Synagogenarchitektur zeigte nicht nur das neue bürgerliche Repräsentationsbedürfnis, sondern auch die nun möglichen eigenständigen baulich-kulturellen Wege. Aus den im maurischen Stil errichteten Synagogen, etwa in Nürnberg 1874, spricht daher der Anspruch auf religiöse Eigenständigkeit, zugleich wurde durch historisierende Stilelemente die Verbundenheit mit der deutschen kulturellen Tradition betont. In den Städten setzte früh eine Verbürgerlichung der Lebensformen ein, die ihre Vorläufer in den Hoffaktorenfamilien hatte, die sich bereits seit dem 18. Jahrhundert nicht nur am Adel, sondern auch am Bürgertum orientiert hatten. Die Übernahme bürgerlicher Geselligkeiten, wie der Besuch von Biergärten und Kaffeehäusern, und die Teilnahme am Kulturleben der Städte und Kleinstädte eröffneten neue Kontaktbereiche. Dabei vollzog sich der Wandel in den ländlichen Gemeinden insgesamt langsamer als in den neu gegründeten städtischen Gemeinden.

Migrationen und sozialökonomischer Wandel

Parallel zu diesen Entwicklungen kam es im Judentum des 19. Jahrhunderts zu Migrationsbewegungen in verschiedene Richtungen. In den jüdischen Landgemeinden stieg die Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, was dem generellen demographischen Wachstum entsprach. Allerdings führte das Festhalten am Matrikelparagraphen in Bayern, der die Zahl jüdischer Haushalte an den einzelnen Orten limitierte, zu prekären Erwerbs- und Wohnverhältnissen. Aufgrund der Beschränkung der Matrikelstellen waren eigene, neue Haushaltsgründungen kaum möglich. Als Folge des ansteigenden Bevölkerungsdrucks setzte aus den jüdischen Siedlungsregionen in Schwaben und Franken seit den 1830er Jahren eine breite Auswanderungsbewegung nach Nordamerika ein. Einige der Auswanderer, wie Nathan Michael Ries (1815-1878) aus Hainsfarth (Lkr. Donau-Ries), der durch Immobilienverkäufe zum Multimillionär wurde, oder Levi Strauss (1829-1902) aus Buttenheim (Lkr. Bamberg), der Erfinder der Jeans, waren als Unternehmer dort außerordentlich erfolgreich. Nach einem Höhepunkt der Auswanderungswelle in den 1850er Jahren und der Aufhebung des Matrikelparagraphen (1861) waren die Emigrantenzahlen rückläufig. Zugleich begann nun der Zuzug in die Städte. Zu Anfang des Jahrhunderts hatten nur wenige der alten Reichsstädte, wie Augsburg 1803, einzelnen Bankiersfamilien gegen die Gewährung von Krediten Einlass gewährt. Ab den 1860er Jahren öffneten sich die Städte sukzessive gegenüber den jüdischen Zuwanderern, sodass eine breite Binnenmigration vom Land in die Städte einsetzte. Dabei lässt sich eine kleinräumige Bewegung beobachten, die meist in die urbanen Zentren der jeweiligen Region führte. Die höchste Attraktivität hatten die großen Städte Bayerns, München, Nürnberg und Würzburg. In den alten jüdischen Siedlungsregionen spielten auch die Klein- und Mittelstädte mit Eisenbahnanschluss, wie Schweinfurt, Rothenburg o.d.T. (Lkr. Ansbach) oder Nördlingen (Lkr. Donau-Ries), eine wichtige Rolle. Das Ausmaß dieser strukturellen Verschiebung verdeutlicht der am Ende des Jahrhunderts erreichte Urbanisierungsgrad der jüdischen Bevölkerung von 71 %. Für die ländlichen Siedlungen bedeutete dieser Strukturwandel einen erheblichen Bevölkerungsrückgang bis hin zur Auflösung der Gemeinden. Der Übergang vom Landjudentum zum urbanen Judentum war damit vollzogen. Erhalten blieb aber weitgehend die historisch gewachsene regionale Verteilung mit den Schwerpunkten in Franken und Schwaben, mit Ausnahme von München. Eine quantitativ weniger gravierende aber dennoch folgenreiche Verschiebung brachte die Zuwanderung aus Osteuropa, ausgelöst durch die Pogrome in Russland in den 1880er Jahren. Sie fiel in Bayern zwar nicht so stark aus wie in Preußen, prägte aber die Wahrnehmung des Judentums durch das negativ konnotierte Bild des ‚Ostjudens‘, das zum Angriffspunkt des Antisemitismus wurde. Die ca. 4.000 Zuwanderer konzentrierten sich auf die beiden urbanen Zentren München und Nürnberg-Fürth, wo sie einen Anteil von ca. 20 % in den jüdischen Gemeinden bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts erreichten.

Mit der Urbanisierung verbunden war auch ein Wandel der Erwerbsweisen. Die mit dem Judenedikt von 1813 intendierte Umformung der jüdischen Berufsstruktur, durch die Einschränkung des Hausierhandels und die Förderungen einer Hinwendung zur Landwirtschaft und zum Handwerk im Sinne des ‚Erziehungskonzept‘, zeigte zunächst kaum Wirkung. Die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung war weiterhin – sei es aus Mangel an Alternativen, sei es aufgrund langer Erfahrungen und erworbener Kompetenzen – in den Sektoren Handel und Gewerbe tätig. Die Konservierung der Siedlungsstruktur durch den Matrikelparagraphen eröffnete zudem kaum Handlungsspielräume für weitreichende Veränderungen. Lediglich in den Handwerksberufen kam es – ausgehend von den gewerblichen Traditionen innerhalb der jüdischen Kultusgemeinden – zu einem leichten Anstieg. Erst mit der Urbanisierung und dem Übergang in das Bürgertum setzte eine neue Dynamik ein, die im Kontext der Industrialisierung stand. Der damit vielfach verbundene wirtschaftliche Aufstieg war vielschichtig: Er umfasste den Übergang vom Hausierhandels zum offenen Ladengeschäft für Textilien, Eisenwaren oder Kolonialwaren. Dies führte zur Ausformung einer breiten städtischen Mittelschicht. Zugleich bildete sich ein jüdisches Großbürgertum aus, das an den innovativen Prozessen der Industrialisierung maßgeblich beteiligt war, wie z.B. Joel Jakob (Julius) Hirsch (1789-1876) in Würzburg, der in Eisenbahn- und Schifffahrtsprojekte investierte. Der Übergang vom Handel zur Fabrikation war freilich nur in einem entsprechenden urbanen Umfeld möglich. Er vollzog sich nicht selten – wie im Fall des Augsburger Tuchfabrikanten Samuel Kohn (1808-1879) aus Steppach (Stadt Neusäß, Lkr. Augsburg) – durch den Umzug von den Vorstadtgemeinden in die Städte. Der wirtschaftliche Aufstieg und die Bildung einer jüdischen Mittel- und Oberschicht in den Städten führte zu einer weitgehenden sozioökonomischen Einbindung in die Strukturen der Mehrheitsgesellschaft.

Jüdische Gemeindeorganisation und Gemeindeleben

Nicht zuletzt kam es durch den Assimiliationsdruck des bayerischen Staates sowie durch innerjüdische Reformbewegungen bezüglich der jüdischen Gemeindeorganisation und des Gemeindelebens zu vielfachen Veränderungen. Das Judenedikt von 1813 beseitigte durch die Abschaffung der Rabbinatsgerichtsbarkeit sowie durch staatliche Regelungen für die Rabbinerausbildung und das jüdische Schulwesen die bisherige Autonomie der Gemeinden. In religiöser Hinsicht erhielten sie den Status von Privatkirchengesellschaften (Religionsedikt von 1809), in politischer Hinsicht wurden sie in die Kommunalverfassung eingebunden. Damit hatten die Parnassim (Vorsteher der Gemeinde) ihre Funktionen eingebüßt und die Führungsrolle der Rabbiner war beschnitten. Die Umsetzung des staatlichen Aufsichtsrechts über die Anstellung der Rabbiner durch die Kreisschulräte verzögerte sich allerdings, weil die Vorgaben nach einer wissenschaftlichen Ausbildung vage formuliert waren und viele Gemeinden die damit verbundene Abkehr von der jüdischen Tradition talmudischer Gelehrsamkeit ablehnten. In und zwischen den Gemeinden entwickelten sich gegenläufige Strömungen zwischen Orthodoxie und Reformjudentum, die das Gemeindeleben im 19. Jahrhundert prägten und zu zahlreichen innergemeindlichen Konflikten führten. So verzögerte sich die Besetzung des Oberrabbinats in Fürth von 1819 bis 1830, da die staatlichen Behörden dem Vorschlag der Gemeinde nicht folgten und die Gemeindevorstände gespalten waren. Vergleichsweise reibungslos vollzog sich dagegen die ebenfalls sukzessive Neuorganisation der Distriktsrabbinate seit den 1820er Jahren. Die 39 Sprengel seit 1853 spiegelten die unterschiedlichen jüdischen Siedlungsstrukturen in Bayern und waren weniger eine systematische Neuverteilung als vielmehr ein an den alten Landesrabbinaten des 18. Jahrhunderts orientierter Zusammenschluss. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigten sich auch hier die Folgen der Urbanisierung, indem die Distriktsrabbinate in die Städte verlegt wurden, z.B. nach Nürnberg 1866 oder nach Schweinfurt 1864. Die Reformen im jüdischen Schulwesen entsprachen dem Erziehungsgedanken der staatlichen Judenpolitik. Dabei wurde den jüdischen Kindern einerseits der Besuch der allgemeinen Elementarschulen mit eigenem Religionsunterricht erlaubt, andererseits bestand die Option der Einrichtung von separaten Schulen durch die Kultusgemeinden. In den noch weitgehend ländlichen Gemeinden erfolgte die Umsetzung auch in diesem Bereich nur zögerlich und führte entsprechend der unterschiedlichen Ausrichtungen in den Gemeinden zu einer erheblichen Diversität im jüdischen Schulwesen.

1870 besuchten 56,3 % der Kinder jüdische Volksschulen, 1911/12 hatte sich das Verhältnis mehr als umgekehrt: 72,4 % von ihnen waren nun auf christlich-konfessionellen Schulen. Die Aufhebung des Matrikelparagraphen, die daraufhin einsetzende Migration und damit die Aufspaltung fester Milieus zeigt hier Wirkung.

Der Kampf zwischen Traditionalisten und Reformern entzündete sich ebenso an weiteren Fragen der religiösen Lebensführung und des synagogalen Gottesdienstes. Reformorientierte Kultusgemeinden führten bereits im ersten Drittel des Jahrhunderts neue Synagogenordnungen ein, die mit deutscher Predigt, Synagogenchor und Orgel eine Akkulturation vollzogen. Vielfach gegen den heftigen Widerstand der Gemeindemitglieder wurden auch traditionelle aschkenasische Praktiken, wie die Versteigerung der Synagogenehren, eingestellt. Die hohe Symbolkraft für diese Akkulturationsprozesse im Sinne einer ‚Verkirchlichung‘ zeigte sich beispielsweise in der neuen Amtskleidung der reformorientierten Rabbiner, die sich an die Tracht der katholischen bzw. protestantischen Würdenträger anpasste.

Der sich daran entzündende innerjüdische Richtungsstreit verlief quer durch und innerhalb der Gemeinden, wobei die Orthodoxie stärker in den ländlichen Gemeinden verankert war und dort die Lebensverhältnisse maßgeblich prägte. Bezeichnend für die Gegensätze war das Gegenüber zwischen Würzburg, wo der Rabbiner Abraham Bing (1752-1841) einen Weg der partiellen Öffnung verfolgte, und Fürth, wo Wolf Hamburger (1770-1850) die talmudische Lehrauffassung verteidigte. Vor allem in Franken, wo sich auch die Haskala im 18. Jahrhundert ausbreiten konnte, finden sich eine Reihe an Reformrabbinern, wie Samson Wolf Rosenfeld (1783-1862) in Bamberg oder Lazarus Adler (1810-1886) in Bad Kissingen, beide Distriktsrabbiner und Herausgeber reformorientierter Zeitschriften. Der jüdische Reformdiskurs hatte freilich noch eine tiefere Dimension: Letztlich ging es um eine Neubestimmung des Judentums gegenüber der Modernisierung und der Verbürgerlichung der Lebensformen sowie um eine neue, nicht mehr ausschließlich religiös begründete Identität.

Literatur

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  • Hannes Ludyga, Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags, Berlin 2007.
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  • Manfred Treml/Josef Kirmeier unter Mitarbeit von Evamaria Brockhoff (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Aufsätze (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17/88), München 1988.
  • Shulamit Volkov unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Deutsche Juden und die Moderne (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquiuen 25), München 1994.
  • Carsten Wilke, "Den Talmud und den Kant". Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne, Hildesheim 2003.

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Sabine Ullmann, Judentum (19. Jahrhundert), publiziert am 23.05.2023; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Judentum_(19._Jahrhundert)> (20.04.2024)