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Geistliche Spiele (Mittelalter)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

von Manfred Knedlik

Literarische Gattung zur szenischen Darbietung geistlicher Stoffe. Geistliche Spiele konnten Bestandteil der Liturgie sein oder selbständig aufgeführt werden. Wurzel war die seit dem 10. Jahrhundert zunehmende "Theatralisierung" der Liturgie. Je nach Anlass und Inhalt unterscheidet man Weihnachtsspiele, Osterspiele, Passionsspiele sowie Heiligen- und Legendenspiele. Im Raum des heutigen Bayern sind Aufführungen seit dem 11. Jahrhundert bezeugt sowie erste Werke überliefert. Die Blütezeit des Geistlichen Spiels lässt sich aufgrund der reichen Überlieferung von Aufführungsbelegen und Textzeugnissen ins 15. und frühe 16. Jahrhundert datieren. Die Reformation bedeutete einen schweren Einschnitt in die Spieltradition, ohne jedoch zu ihrem Ende zu führen.

Begriffsbestimmung

Ausschnitt aus dem Benediktbeurer Passionsspiel im "Codex Buranus". (Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660, Bl. 107r)

Der neuzeitliche Ausdruck "Geistliches Spiel", wie ihn die Forschung verwendet (vgl. zusammenfassend Schulze, 2007), bezeichnet eine literarische Gattung des Mittelalters zur szenischen Darbietung biblischer, apokrypher und legendenhafter Stoffe. Seine Wurzeln liegen im Kultraum der Kirche, in der "Theatralisierung" der Liturgie seit dem 10. Jahrhundert. Als symbolisch-rituelle Akte sind die "dramatischen", visuell einprägsamen Handlungen der Feier ("officium") im gottesdienstlichen Rahmen aber von einem selbständigen, emanzipierten "spil" (in zeitgenössischer Terminologie auch "figur", "ordnung" u.ä.; analog zu lat. "ludus", "ordo") abzugrenzen. Von der lateinischen Feier der Liturgie und deren bildhaft-theatralischer Übersetzung heilsgeschichtlicher Wahrheiten mit dem Ziel einer stärkeren Veranschaulichung führt keine lineare Entwicklung zum geistlichen Spiel in der Volkssprache; im gesamten europäischen Kulturraum stehen beide 'Verkündigungs'-Formen bis ins 17. Jahrhundert nebeneinander (vgl. die Dokumentation liturgischer Feiern: Lipphardt, 1976/90). Ebenso ist zu betonen, dass in den geistlichen Spielen, trotz aller Wandlungen und Autonomisierungstendenzen, der liturgische Kern bewahrt und erkennbar bleibt, etwa im Aufbau, im inhaltlichen Bezug auf kirchliche Festtage oder in der Zitation von Gebeten, Texten und Gesängen.

Die szenische Präsentation erfolgt im Wechselspiel von gesprochenem, gesungenem (erkennbar in der Neumierung, d. h. einer musikalischen Notation über den Texten, z. B. "Benediktbeurer Passionsspiel", 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) und gestisch-mimischem, oft auch tänzerischem Vortrag. Als Spielorte dienten Kirchenräume oder städtische Plätze; bei umfangreicheren Spielen, die sich über mehrere Tage erstrecken konnten, ist eine Aufführung im Freien anzunehmen. Hinzu kamen Prozessionsspiele, d. h. die Darstellung von Szenen aus der biblischen Geschichte oder dem Leben der Heiligen auf Umzugswagen, die durch die Stadt gezogen wurden. Die Trägerschaft lag anfangs in klerikaler und monastischer Hand ("Ottobeurer Osterspiel", 12. Jahrhundert), das geistliche Spiel des Spätmittelalters war dagegen ein "Spiel der Bürgerschaft" (Schubert 1999, 24), wobei oft Zünfte ("Georgspiel" der Amberger Fleischhackerzunft, 1468) und Bruderschaften (Spielbruderschaft des Augsburger Stifts zum Hl. Kreuz, 1484; "Osterspiel" einer "gescelschafftt" in Windsheim [Lkr. Neustadt a.d.Aisch-Bad Windsheim], 1493) als verantwortliche Organisatoren auftraten. Als Agierende nennen Spielzeugnisse aller Regionen allgemein "gesellen", also junge Burschen, oder "schuler"; die Leitung der Aufführungen lag häufig bei Kantor und Schulmeister. Jedoch ist auch bei den bürgerschaftlich verantworteten Unternehmungen eine klerikale Beteiligung und Verfasserschaft nicht auszuschließen.

Als Massenmedium der Zeit, vergleichbar der Kanzelpredigt, erhielt das geistliche Spiel nach den Intentionen der Autoren, Redaktoren und Organisatoren eine katechetische, pastorale und heilspädagogische Funktion. Mit der visuell-theatralischen Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte in der Volkssprache verfolgten sie das ambitionierte Ziel, biblisches Grundwissen zu vermitteln und beim Publikum Sündenbewusstsein, Bußbereitschaft und Heilsgewissheit zu erzeugen. Nach zeitgenössischem Verständnis gelten die Aufführungen, die zunehmend auf die affektive und emotionale Teilnahme der Zuschauer ("compassio") angelegt sind, gleichermaßen als Gottesdienst der stadtbürgerlichen Gemeinschaft zum Lobe Gottes, als fromme Übung und als Bußleistung der Sünder mit reinigender Wirkung. Gerade durch die "offene" Aufführungsform, d. h. durch die Inszenierung im Freien, erreichten die geistlichen Spiele ein breiteres Publikum und dienten so als Medium städtischer Massenseelsorge

Typologie

Füssener Marienklage, fol. 193r, Cod.II.1.2°22 (Universitätsbibliothek Augsburg)
Titelseite des Münchner Eigengerichtspiels, Druckausgabe von 1510. (Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 295)

Das Erscheinungsbild der geistlichen Dramatik ist wesentlich von der Bindung an die Festkreise des Kirchenjahres, den Oster- und (seltener) den Weihnachtsfestkreis geprägt. Zur Darstellung gelangen die Geburt, die Leidensgeschichte und die Auferstehung Christi. Dabei greifen die Spiele - als Instrumente der Glaubens- und Heilsverkündigung - meist über den genannten inhaltlichen Komplex hinaus, führen teilweise sogar Ereignisse aus der Zeit des Alten Testaments, von der Schöpfung und dem Sündenfall an und erläutern die neutestamentlichen Geschehnisse - nach dem typologischen Schema von Präfiguration und Erfüllung - im heilsgeschichtlichen Horizont der Erlösung (vgl. Müller 2008). Kommentierende Auftritte von Theaterherolden oder Kirchenväter- und Prophetengestalten konstituierten im Spiel eine Metaebene, auf der die vorgeführte Handlung in den religiösen Vorstellungshorizont der Zuschauer eingeordnet wird.

Zu den großen, komplexen Weihnachts-, Passions- und Osterzyklen treten kleinere Spiele, die einzelne Geschehnisse der kirchlichen Festkreise vergegenwärtigen, Propheten-, Nikolaus- ("Tres filiae", 2. Hälfte 12. Jh., Bayerische Staatsbibliothek [BSB], Clm 14834 [ursprünglich aus St. Emmeram]), Verkündigungs- (1472 Stiftung eines Roratespiels in Eggenfelden, Lkr. Rottal-Inn), Krippen- (z. B. 1501 in Bayreuth), Dreikönigs- und Herodesspiele, in österlicher Zeit Magdalenen-, Grablegungs- (z. B. 1496 in Coburg), Auferstehungs- ("Ludus de Resurrectione Diessensis", 15. Jahrhundert; BSB, Clm 5545), Höllenfahrts- (z. B. "Höllensturm Christi" in Hof, 15. Jahrhundert), Emmaus- und Himmelfahrtsspiele ("Moosburger Himmelfahrtsspiel", lat., 14. Jahrhundert; BSB, Clm 9469).

Als eigener Typus existiert die Marienklage (z. B. "Füssener Marienklage", 2. Viertel 15. Jahrhundert; UB Augsburg, Cod.II.1.2°22); "drey Marien, so die clage thun" bezeugen Coburger Spielzeugnisse (zwischen 1482 und 1507). Außerhalb der Jahresfestkreise stehen Heiligen- (Mysterien-), Märtyrer- und Legendenspiele ("Regensburger Nikolausspiel", lat., 2. Hälfte 12. Jahrhundert; BSB, Clm 14834), darunter Reliquien- (Heiligkreuz-) und Nothelferspiele. Auf vielfältige Weise ist in der geistlichen Dramatik auch die eschatologische Thematik gegenwärtig, in Weltgerichts- ("Münchner Weltgerichtsspiel", 1510; BSB, Cgm 4433), Antichrist- ("Tegernseer Ludus de Antichristo", 1160/86; BSB, Clm 19411) und Zehnjungfrauenspielen. Weniger verbreitet als etwa in Holland, England und Frankreich sind Moralitäten, die aber mit dem 1510 in seelsorgerischer Absicht aufgeführten "Münchner Eigengerichtsspiel" (Druck: München: Hans Schobser, 19. Juli 1510) in Bayern gewichtig repräsentiert sind.

Räumliche und zeitliche Verbreitung

Nach Ausweis der Spielhandschriften und der zahlreich überlieferten Aufführungszeugnisse (z. B. Stadtkammerrechnungen, Ratsprotokolle), die durch die bahnbrechenden Forschungsleistungen Bergmanns (1986) und Neumanns (1987) erschlossen und überschaubar gemacht worden sind, waren die geistlichen Spiele im gesamten deutschen Sprachgebiet verbreitet; Zentren zeichneten sich in Rheinfranken und Hessen sowie in den Alpenregionen – besonders im alemannisch-schwäbischen und (süd-)tirolischen Raum – ab. Nicht unbedeutend ist der Beitrag, den Bayern zur Entfaltung dieser Tradition geleistet hat.

Trotz der vergleichsweise günstigen Überlieferungssituation sieht sich die Forschung aber mit grundlegenden Problemen konfrontiert:

  1. Oftmals ist eine sichere Lokalisierung der Spieltexte oder -fragmente nicht möglich. Die Ortsangaben in den eingeführten Spieltiteln verweisen meist auf den Fund- oder Lagerort der Handschrift, der mit der Herkunft bzw. dem Aufführungsort des Textzeugen nicht übereinstimmen muss. Selbst die historische Dialektologie erlaubt oft nur vage Festlegungen. So sind die deutschen Passagen im "Benediktbeurer Passionsspiel" bairisch gefärbt; geringe Einschlüsse des Mitteldeutschen könnten darauf hinweisen, dass dem Spiel mittelbar eine rheinische Quelle zugrunde lag (zu sprachgeographischen Fragestellungen siehe in jüngerer Zeit Bergmann, 2013; Wolf, 2018).
  2. Bei der text- und entstehungsgeschichtlichen Bewertung ergeben sich Schwierigkeiten dadurch, dass der weitaus größte Teil der erhaltenen Spieltexte (möglicherweise kontaminierte) Abschriften und Überarbeitungen zumeist verschollener Vorlagen darstellt.
  3. Ohnehin bildet das überlieferte Textkorpus - angesichts der Vielzahl von Aufführungsnachrichten - die reiche Spieltradition nur fragmentarisch ab, wodurch sich die Frage nach lokalen, zeittypischen Ausformungen und Entwicklungen nur unzureichend beantworten lässt.

Zur quasi theatralischen Repräsentation im liturgischen Rahmen scheinen schon im Hochmittelalter - im Umkreis der Domkirchen und -schulen (Augsburg, Regensburg) - geistliche Spiele getreten zu sein, von denen Gerhoch von Reichersberg (1092/93-1169) und Hugo von Lerchenfeld (gest. um 1217) berichten (Neumann, 1987, 887-889, Nr. 3725f., 610, Nr. 2366). Im sog. "Notizbuch" (BSB, Clm 14733) des Regensburger Kanonikers von Lerchenfeld finden sich u. a. eine Kostümliste (um 1184/89) und ein Zeugnis für die Aufführung eines Schöpfungsspieles (1194). So ist die Spielpraxis sicher älter als die Spielaufzeichnung, die im 13. Jahrhundert einsetzt.

Im bairisch-österreichischen Raum beginnt die Überlieferung mit der berühmten Sammelhandschrift von lateinischen und deutschen Dichtungen ("Codex Buranus", um 1225/30; BSB, Clm 4660), deren vierte Abteilung das "Benediktbeurer Weihnachtspiel" und das (unvollständige) Spiel vom ägyptischen König bilden. In den Nachträgen finden sich weitere Spieltexte, darunter ein "ludus breviter de passione", das einzige bislang bekannte rein lateinische Passionsspiel des Mittelalters, und das mischsprachige "Große Benediktbeurer Passionsspiel". Für das 14. Jahrhundert fehlen in Bayern - der bruchstückhaften Überlieferung anderer Regionen entsprechend - nennenswerte Aufführungsbelege und Textzeugnisse, die von einer regeren Spieltätigkeit künden, während für das 15. und frühe 16. Jahrhundert, als die Spielkultur ihren Höhepunkt erreichte, die Quellen reichlich fließen. Vielerorts bedeutete der Siegeszug der reformatorischen Bewegung einen großen Einschnitt in die bildhaft-theatralische Tradition. Als Problem erkannten die Reformatoren die veräußerlichte Schaufrömmigkeit der traditionellen Spiele, mehr noch die unangemessenen Wirkungen der Aufführungen, die mit ihren oft bis zum Exzess gesteigerten Grausamkeiten zu einer Emotionalisierung des Publikums führten, zu einem kurzfristigen "Mitleiden" ("compassio"), nicht aber zu einer inneren Wandlung und Erneuerung des einzelnen Menschen, zur Erkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit. Jedoch konnten die alten Spielformen, in zeitgemäßer Erneuerung und Anpassung, nun in einem stärkeren Maße belehrend gestaltet, auch in reformatorischer Umgebung, insbesondere in süddeutschen Städten (Amberg, Kaufbeuren, Augsburg), weiterleben und - infolge der Drucklegung - sogar im katholischen Konfessionsbereich weiterwirken, so etwa die Passionsspiele von Hans Sachs (1494-1576) 1558, gedruckt 1560, und Sebastian Wild (gest. 1583) 1565, gedruckt 1566 (Knedlik 2019). Aber auch der überkommene Typus der Geistlichen Spiele blieb in den katholischen Gegenden des bairisch-österreichischen Alpenraums - wenn auch nicht in ununterbrochener Tradition, sondern als Wiederbelebung oder Neubegründung - lebendig; in rund 40 Orten sind zwischen 1600 und 1650 Spielaktivitäten bezeugt, die mitunter wohl als gegenreformatorische Selbstvergewisserung der altgläubigen Gemeinschaft zu verstehen sind (Hastaba, 1990).

Im Gegensatz zu dieser "Spiellandschaft" bildet sich in Franken meist erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, nach Ausweis der von Neumann 1987 gesammelten Spielbelege allerdings weniger fest etabliertes Interesse an den Geistlichen Spielen aus. Beteiligt an den Aufführungen sind wie üblich Schüler, in Coburg auch Ordensfrauen, die am Heiligen Grab singen (belegt 1482-1506). Als Spielleiter sind in Coburg, Kronach (1458) und Rothenburg ob der Tauber (Lkr. Ansbach) (um 1403) Schulmeister genannt. Aus Rothenburg hat sich auch ein Rollenblatt mit dem Text eines der Heiligen Drei Könige (Caspar; Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Rothenburg 2082, fol. 66r-v), erhalten, der eine große Nähe zu den entsprechenden Zeilen im sog. Innsbrucker Fronleichnamsspiel (UB Innsbruck, cod. 960) zeigt. In das ausgehende 15. Jahrhundert weist die undatierte "Confirmacio osterspiels" (UB Würzburg, M.ch.f. 58, fol. 182v-185r; Abdruck: Neumann 1987, Nr. 3701), die der Förderung geistlicher Spiele und Spielbruderschaften durch den Würzburger Fürstbischof Rudolf von Scherenberg (reg. 1466-1495) dient. Von meinungsführenden Reformatoren wie dem Nürnberger Prediger Andreas Osiander (1498-1552) wurde die religiöse Spieltradition der alten Kirche als "gauckelspil" und "gespott" kritisiert (Neumann, 1987, Nr. 2338).

Spieltypen

Osterspiele

Frühe Spielzeugnisse eines "osterspils" sind z. B. für Windsheim (1394) und Nürnberg (1497) überliefert. Die lateinisch-deutschen Mischspiele, die sich aus der lateinischen Feiertradition entwickelt haben, zeigen weiterhin eine so ausgeprägte Nähe zur Liturgie, dass trotz der beträchtlichen Entfaltung von Darstellungselementen (Komik, Burleske) mit Aufführungen im Kirchenraum gerechnet werden muss. Das im 16. Jahrhundert aufgezeichnete "Augsburger Osterspiel" (Feldkirch, Kapuzinerkloster, ms. Liturg. 1 rtr.m), das komische Elemente (Wettlauf der Jünger) und predigthaften Duktus verknüpft, kam vermutlich im Augsburger Dom oder in der Abteikirche St. Ulrich und Afra zur Aufführung. Mit dem ostschwäbischen "Füssener Osterspiel" (wohl aus dem späten 14. Jahrhundert; Augsburg UB, Cod. II, 1,4°,62), das mit der Visitatio sepulchri, der Begegnung der Maria Magdalena mit dem Auferstandenen in Gestalt eines Gärtners, der Verkündigung der Auferstehung durch die drei Marien und dem Apostellauf zum leeren Grab an den Kern einer liturgischen Feier des Typs III anschließt, liegt ein vollständiges Textzeugnis vor, das in den deutschen Partien, etwa in der Magdalenenklage zu Beginn der Hortulanus-Szene, gleichwohl eine erstaunliche Eigenständigkeit zeigt.

Späte Ausläufer des Typus sind das "Münchner Osterspiel" (vor 1582; München BSB, cgm 147) und das mischsprachige "Regensburger Osterspiel", überliefert in einen Prozessionale der Alten Kapelle (1. Hälfte 17. Jahrhundert; Regensburg Bischöfl. Zentralbibliothek, Ch 1*), das zwei abgeschlossene Komplexe, 17 deutsche und 11 lateinische Strophen, miteinander vereint.

Passionsspiele

Anfang des Augsburger Passionsspiels aus St. Ulrich und Afra. (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4370)

Im Zuge der geistlichen Reformbewegungen, aus denen auch die Bettelorden hervorgingen, bildete sich im 13. Jahrhundert das Passionsspiel heraus, das von Anfang an außerhalb der gottesdienstlichen Feier stand. Mit der Konzentration auf den Leidensweg und die heilbringende Tat Jesu rückt das Thema von Sünde und Erlösung ins Zentrum der Spiele. Während sich der lateinische "ludus breviter de passione" (1. Hälfte 13. Jahrhundert) auf die biblischen Ereignisse vom Abendmahl bis zur Grablegung beschränkt, nimmt die Spielhandlung - ohne festes liturgisches Textgerüst - meist größeren Umfang an. Das "Große Benediktbeurer Passionsspiel" bezieht das öffentliche Leben Jesu (Apostelberufung, Heilung eines Blinden, Mahl Christi beim Zöllner, Einzug nach Jerusalem) wie auch das Weltleben der Maria Magdalena in das vorgeführte Geschehen ein. Der Szenenzuwachs entstammt der gesamten biblisch, apokryph und legendär (z. B. Veronika- und Longinus-Episode) tradierten Heilgeschichte. Infolge der Ausweitung der Spielhandlung konnten sich Aufführungen über mehrere Tage erstrecken (z. B. Memmingen 1460). Mit ihrem oft erheblichen Aufwand boten die Passionsspiele dabei eine Möglichkeit städtischer Repräsentation, wie die Darbietung der "figurn des passion unnd leiden Christi" in Amberg (1524) anlässlich eines kurfürstlichen Besuches zeigt. Eine beträchtliche Ausstrahlungskraft entwickelte das "Augsburger Passionsspiel" aus St. Ulrich und Afra, das in einer bis zur Säkularisation in dem Benediktinerkloster bewahrten Abschrift aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts (München BSB, cgm 4370) überliefert ist. Das Stück endet in zwei Alternativschlüssen: einer kurzen Vergegenwärtigung der Ostereignisse (Auferstehung Christi und Flucht der Grabwächter) bzw. einem Osterspiel mit Höllenfahrt, Auferstehung und Erscheinung Christi vor Maria sowie einer Visitatio sepulchri. Zusammen mit dem gedruckten Passionsspiel des Augsburger Meistersingers Sebastian Wild ("Tragedj […] Von dem Leyden vnd sterben / auch die aufferstehung vnsers Herren Jesu Christi", 1566) bildete die "Augsburger Passion" die wichtigste Quelle des ältesten Oberammergauer Passionsspieles (1662).

Weihnachtsspiele

Häufig im monastischen Umfeld (Klosterschule) angesiedelt war die Dramatisierung des Weihnachtsgeschehens, die im 11. Jahrhundert einsetzt. Trotz der offensichtlichen Einbettung in die Liturgie ist die szenische Gliederung im "Officium Stellae Frisingense" (11. Jahrhundert), das ein Dreikönigs- und ein Herodesspiel eng miteinander verflicht, und im "Ordo Rachelis Frisingensis" (um 1200; beide München BSB, clm 6264), in dessen Mittelpunkt der bethlehemitische Kindermord steht, schon sehr weit fortgeschritten. Bei beiden Handschriften, die durchgehend neumiert sind, dürfte es sich um Aufführungsvorlagen gehandelt haben. Ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht die lateinische Weihnachtsdramatik im "Benediktbeurer Weihnachtsspiel" (frühes 13. Jahrhundert), das ein Propheten-, ein Hirten- (Verkündigung-), ein Magier- und ein Herodesspiel umfasst. Ob der "Ludus de Rege Aegypti", der die Flucht der heiligen Familie im Kontext mit der Bekehrung des ägyptischen Königs vorführt, ist in der Forschung umstritten. Texte deutschsprachiger Weihnachtsspiele des 13. bis 16. Jahrhunderts lassen sich nicht nachweisen.

Heiligen- und Legendenspiele

Das "Augsburger Georgsspiel" (aufgezeichnet 1486; Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod H 27 [Cim 31]) zählt zu den wenigen erhaltenen Texten spätmittelalterlicher Legendenspiele. Durch eigenständige Ausformung und Stilisierung des Stoffes, den der Spielautor der "Legenda aurea" entnahm, gerät der Kampf des Ritters St. Georg mit dem Drachen, dem "pössen tewffels hund", zur religiösen Unterweisung des Publikums wie zur Tugendlehre im stadtbürgerlichen Kontext. Die Überlieferung in einer Sammelhandschrift mit weiteren moralisierenden Texten und einem fragmentarisch überlieferten, betont das Sujet des heidnischen Feindes behandelnde Türkenfastnacht-Spiel, die der Augsburger Kaufmann Claus Spaun (gest. um 1520) anlegte, deutet auf einen katechetisch-erbaulichen Lektürezweck hin (Wolf 2007, 43), lässt jedoch auch eine religionspolitische Deutung zu (Wolf 2019, 225). Regieanweisungen lassen auf ein Aufführungsmanuskript als Vorlage schließen, doch sind Inszenierungen eines Georgsspiels für Augsburg nicht bezeugt; hingegen gibt es Spielnachrichten für Amberg (1468), Wasserburg am Inn (Lkr. Rosenheim) (1476) und Rothenburg (1486 u. ö.). Dieselbe Handschrift enthält das zweitägige "Augsburger Heiligkreuzspiel", ein Spiel um die Kreuzauffindung durch Kaiserin Helena (ca. 250-330) und die Kreuzerhöhung durch Kaiser Heraklius (reg. 610-641), dessen dezidiert mittelbairischer Sprachstand auf ältere Spieltraditionen, etwa auf Wien, weist (Wolf 2019, 227); für diese Lokalisierung lassen sich auch inhaltliche, auf geschichtliche Ereignisse (Hussiteneinfälle, Wiener Progrom) anspielende Argumente beibringen. Eine Aufführung auch in Augsburg, z. B. zur Begründung der Wallfahrtspraxis am Augustinerchorherrenstift Hl. Kreuz, wofür allerdings der archivalische Nachweis fehlt, ist dennoch nicht völlig auszuschließen.

Literatur

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  • Ellen Hastaba, Das Passionsspiel zur Zeit der Gegenreformation. Das Passionsspiel als gegenreformatorisches Spiel? - Spiele der Gegenreformation, in: Henker u. a. 1990, 67-74.
  • Michael Henker u. a. (Hg.), Hört, sehet, weint und liebt - Passionsspiele im alpenländischen Raum (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 20), München 1990.
  • Werner Hofmeister/Cora Dietl (Hg.), Das Geistliche Spiel des europäischen Spätmittelalters (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 20), Wiesbaden 2015.
  • Johannes Janota, Repraesentatio peccatorum. Zu Absicht und Wirkung der spätmittelalterlichen Passionsspielaufführungen, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 137 (2008), 439-470.
  • Johannes Janota, Das Passions- und das Osterspiel aus Kaufbeuren. Zu den beiden reformatorischen Spielen (1562) des Michael Lucius (Hecht), in: Leuvense Bijdragen. Tijdschrift voor germaanse filologie 90 (2001), 127–144.
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  • Manfred Knedlik, Aneignung durch Transformation. Zu den reformatorischen Passionsdramen von Hans Sachs und Sebastian Wild, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2019, 115-124.
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  • Klaus Wolf, Die Sammelhandschrift 4° Cod H 27 - eine Dramensammlung aus dem spätmittelalterlichen Augsburg, in: Reinhard Laube (Hg.), Die Zukunft der Memoria. Perspektiven der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg nach der Verstaatlichung, Augsburg 2016, 147-164.
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  • Klaus Wolf, "Was ist Wahrheit?" Alpenländische Passionsspiele als Quelle des Alpindeutschen?, in: Nicole Eller-Wildfeuer/Paul Rössler/Alfred Wildfeuer (Hg.), Alpindeutsch. Einfluss und Verwendung des Deutschen im alpinen Raum (Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft), Regensburg 2018, 251-265.
  • Klaus Wolf, Das Augsburger Heilig-Kreuz-Spiel, in: Melanie Thierbach (Hg.), König - Bürger - Bettelmann. Treffpunkt Heilig Kreuz in Augsburg (Sonderausstellung im Diözesanmuseum St. Afra), Augsburg 2019, 225-227.

Quellen

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  • Manfred Knedlik (Hg.), Das Passions- und Osterspiel (1566) von Sebastian Wild (Editio Bavarica 7), Regensburg 2019.
  • Hansjürgen Linke (Hg.), Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. 3 Bände, Tübingen 2002.
  • Walther Lipphardt (Hg.), Lateinische Osterfeiern und Osterspiele, 9 Tle., Berlin/New York 1976–1990.
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  • Dietrich Schmidtke (Hg.), Das Füssener Osterspiel und die Füssener Marienklage. Mit einer literaturwissenschaftlichen Einführung von Ursula Hennig (Litterae 69), Göppingen 1983.
  • Ulrike Schwarz (Hg.), Das Augsburger Passionsspiel von St. Ulrich und Afra. Edition und Kommentar (Editio Bavarica 5), Regensburg 2018.
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  • Benedikt Konrad Vollmann (Hg.), Carmina Burana. Texte und Übersetzungen (Bibliothek des Mittelalters 13), Frankfurt am Main 1988.
  • Wainwright 1975 (siehe Literatur), 138-139: Rothenburger Rollenbuch.
  • Karl Young, The drama of the Medieval Church. 2 Bände, Oxford 1933 (Nachdruck 1962).

Weiterführende Recherche

Externe Links

Geistliche Schauspiele, Passionsspiele, Osterspiele

Empfohlene Zitierweise

Manfred Knedlik, Geistliche Spiele (Mittelalter), publiziert am 24.09.2019; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Geistliche_Spiele_(Mittelalter) (11.10.2024)