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Parlamentarischer Bauernrat, 1918-1920

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Ludwig Gandorfer. (aus: Neue freie Volks-Zeitung, 13. November 1918, Nr. 306, 3)
Karl Gandorfer. (Bayerische Staatsbibliothek, Portät- und Ansichtensammlung)
Hetzflugblatt gegen Karl Gandorfer nach dem 2. Mai 1919. Die Vorwürfe gegen Gandorfer hinsichtlich des Pferdekaufs und seiner Schweizreise erwiesen sich als haltlos. (Bayerische Staatsbibliothek, 4 H.un.app. 1071 t-58)

von Georg Köglmeier und Johann Kirchinger

Spitzengremium der Bauernräte, bestehend aus 50 Mitgliedern, die gleichzeitig dem Provisorischen Nationalrat angehörten. Die Bildung erfolgte im Auftrag von Kurt Eisner (USPD, 1867–1919) durch Karl Gandorfer (BB, 1875–1932), der vorwiegend Mitglieder des Bayerischen Bauernbundes (BB) aus Altbayern berief. Mit dem Parlamentarischen Bauernrat (seit der Auflösung des Provisorischen Nationalrats am 28. Februar 1919 setzten sich die vorher bereits üblichen Bezeichnungen Landes- bzw. Zentralbauernrat durch) versuchte der linke Flügel des Bayerischen Bauernbundes, ein berufsständischen Organisationsprinzipien folgendes Spitzengremium der Landwirtschaft zu etablieren. Daher blieb der Landesbauernrat auch nach dem Ende der Rätezeit bestehen und stellte seine umstrittene Tätigkeit erst anlässlich der Gründung der Bayerischen Landesbauernkammer ein.

Entstehung und Organisation

Nachdem im Verlauf des Umsturzes vom 7. auf den 8. November 1918 in Bayern Arbeiter- und Soldatenräte entstanden waren, ermächtigte Ministerpräsident Kurt Eisner (USPD, 1867–1919) am 9. November den blinden Bauern Ludwig Gandorfer (USPD, 1880–1918) aus Pfaffenberg (Lkr. Straubing-Bogen), einen 50-köpfigen Bauernrat für das Übergangsparlament, den Provisorischen Nationalrat, zusammenzustellen.

Nach dem überraschenden Tod Ludwig Gandorfers am 10. November 1918 übernahm die Aufgabe sein Bruder Karl (1875–1932), der als Mitglied des Bayerischen Bauernbundes dem Bayerischen Landtag angehörte. Der Bayerische Bauernbund forderte seit seiner Gründung 1893 eine unvermittelte Beziehung zwischen der landwirtschaftlichen Bevölkerung und den politischen und administrativen Kräften, die den ökonomischen Handlungsspielraum derselben gestalteten. Darin bestand das Scharnier zwischen Eisners Rätekonzept und Gandorfers organisationspolitischen Vorstellungen. Gandorfer berief die Mitglieder des Parlamentarischen Bauernrats hauptsächlich nach parteipolitischen Gesichtspunkten, so dass die meisten der 50 Mitglieder Bauernbündler waren, die – dem regionalen Schwerpunkt der Partei entsprechend – aus Altbayern kamen. Damit fehlten im Parlamentarischen Bauernrat gerade die Vertreter der größten landwirtschaftlichen Organisation, nämlich des Bayerischen Christlichen Bauernvereins, der unter Führung Georg Heims (1865–1938) stand und von dem parallel dazu im November 1918 die Gründung der Bayerischen Volkspartei ausging. Eine landesweite Delegiertentagung, auf der - wie bei den Soldaten- und Arbeiterräten - das ursprüngliche, so einseitig zusammengesetzte zentrale Rätegremium von einem neuen abgelöst worden wäre, gab es bei den Bauernräten nicht.

An der Spitze des Parlamentarischen Bauernrats stand ein von den 50 Mitgliedern gewählter fünfköpfiger Vorstand mit Karl Gandorfer als erstem Vorsitzenden. Gandorfer selbst gehörte dem Parlamentarischen Bauernrat gar nicht an, sondern saß als Mitglied der Bauernbundsfraktion des alten Landtags im Provisorischen Nationalrat.

Funktionen und Tätigkeit

Der Parlamentarische Bauernrat fungierte nicht nur als Spitzengremium der bayerischen Bauernräte. Da er kraft revolutionären Rechts errichtet war, beanspruchte er auch die Stellung eines gesetzlich anerkannten Sprachrohrs der bayerischen Landwirtschaft. Er betrachtete sich als eine öffentlich-rechtliche, mit administrativen Kompetenzen ausgestattete, korporative, also alle selbständigen Landwirte umfassende Organisation, was üblicherweise als "Landwirtschaftskammer" bezeichnet wurde (auch "Berufsgenossenschaft" oder "gesetzliche Berufsvertretung"). Ein politischer Diskurs über Notwendigkeit und geeignete Form einer derartigen Organisation war in Bayern seit den 1880er Jahren geführt worden. Sowohl der Bayerische Bauernbund als auch der Bayerische Christliche Bauernverein sahen darin eine Möglichkeit, die eigenen Kompetenzen zulasten der staatlichen Bürokratie auszudehnen. Da diese Widerstand leistete, kam es in Bayern - im Unterschied zu anderen deutschen Staaten - nicht zur Errichtung einer derartigen Organisation. Es war dann die Novemberrevolution, die das Vorhaben in Form der Bauernräte erstmals verwirklichte.

Der Parlamentarische Bauernrat bemühte sich nun vor allem um eine möglichst flächendeckende Bildung von örtlichen Bauernräten auf der Gemeinde- und Bezirksamtsebene und übernahm im Rahmen der Demobilmachung im staatlichen Auftrag den Verkauf von Heerespferden. Gleichzeitig war er zentraler Ansprechpartner für konkrete Anliegen von Landwirten.

Die Vertretung der bäuerlichen Interessen im Übergangsparlament beschränkte sich im Wesentlichen auf einen gemeinsamen, schließlich am Widerstand von Innenminister Erhard Auer (SPD, 1874-1945) gescheiterten Antrag der Bauernräte, in dem sie die sofortige Errichtung eines Landwirtschaftsministeriums forderten, sowie einen an den späteren Landtag verwiesenen Antrag, die noch bestehenden Bodenzinse abzuschaffen. Von den 50 Mitgliedern des Parlamentarischen Bauernrats ergriff in der gesamten Tagung des Provisorischen Nationalrats keiner das Wort. Ihr Vorsitzender Karl Gandorfer allerdings trat mehrmals als Redner auf. Da fast die Hälfte der Mitglieder für den Landtag bzw. Reichstag kandidierten, fehlten sie während der Tagungen des Nationalrats oft wahlkampfbedingt.

Der Landesbauernrat und die politische Radikalisierung der Rätebewegung

Nach den Landtagswahlen und der Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar 1919 stellte sich immer stärker die Frage, welche Stellung die Rätegremien in einer künftigen Staatsordnung haben sollten. Der Landesbauernrat unter Gandorfer und Konrad Kübler (BB, 1884-1974) verfolgte dabei weiterhin das Ziel, den Räten auch eine politische Funktion zuzubilligen. Er beteiligte sich daher an den beiden Rätekongressen (13.-20. Februar, 25. Februar-8. März 1919) und dem am 21. Februar gebildeten Zentralrat. Hierbei gelang es den Bauernvertretern, die Gründung eines eigenen Landwirtschaftsministeriums durchzusetzen.

Im Machtkampf zwischen den Befürwortern eines Rätesystems und den Anhängern der parlamentarischen Demokratie schieden im Laufe des März 1919 mehr als die Hälfte, vor allem die gemäßigten Mitglieder, aus dem Landesbauernrat aus, z. B. alle, die in den neuen Bayerischen Landtag gewählt worden waren. Die Nachfolger ernannte wieder Karl Gandorfer nach den gleichen Prinzipien wie im November 1918. Der Landesbauernrat wurde damit vollends ein Gremium des linken Bauernbundflügels, verlor aber weiter an Legitimation. Gleichzeitig organisierten sich die politischen Gegner Gandorfers. Am 30. März 1919 bildeten sich in den drei fränkischen Kreisen (Regierungsbezirken) Kreisbauernräte, die offen gegen den Münchner Landesbauernrat opponierten. Das Ziel des von Heim initiierten und der Geschäftsführung Michael Horlachers (1888–1957) übertragenen "Zweckverbandes der landwirtschaftlichen Körperschaften Bayerns" (gegründet am 1. Februar 1919) bestand darin, den Landesbauernrat als öffentlich anerkanntes Gremium der bayerischen Landwirtschaft zu ersetzen.

Unterdessen beteiligten sich Mitglieder des Landesbauernrates an der ersten Räterepublik, nachdem Gandorfer durchgesetzt hatte, dass die Sozialisierung unter Otto Neurath (1882-1945) bäuerlichen Grundbesitz unter 1.000 Tagwerk verschonen würde. Während der zweiten Räterepublik verließen sie München bzw. kehrten nicht mehr dorthin zurück. Die Geschäftsstelle des Landesbauernrates unter Josef Reisinger (geb. 1880) schloss am 25. April 1919.

Weitere Tätigkeit bis zur Gründung der Landesbauernkammer 1920

Nach der Niederschlagung der Räterepublik nahm der Landesbauernrat im Mai 1919 seine Tätigkeit wieder auf. Vorsitzender blieb weiterhin Gandorfer, Geschäftsführer Reisinger. Der Landesbauernrat erklärte sich nun zur parteipolitisch neutralen Organisation, die sich nur mit den wirtschaftlichen Belangen der Landwirte beschäftigen wollte.

Dies rief die antirevolutionären Kräfte im Bayerischen Christlichen Bauernverein und im Bund der Landwirte auf den Plan. Um Gandorfers Bauernrat die Entwicklungsmöglichkeiten zu beschneiden, gründeten sie am 16./17. Juli 1919 in Bamberg einen "Zentralen Bauern- und Landarbeiterrat". Protagonisten waren Bauernvereinsgeneralsekretär Sebastian Schlittenbauer (1874-1936) und Wolfgang Brügel (1883–1945) vom Bund der Landwirte. Damit bestanden nun zwei konkurrierende Landesbauernräte.

Am 6. September 1919 einigten sich beide Bauernräte bei einer Sitzung unter Leitung von Innenminister Fritz Endres (SPD, 1877-1963) auf einen gemeinsamen Vollzugsausschuss mit 30 Mitgliedern, der paritätisch aus dem Münchner und Bamberger Bauernrat besetzt wurde. Dieser sollte bis zur Errichtung einer öffentlich anerkannten und gesetzlich errichteten Landwirtschaftskammer bestehen und deren Aufgaben gemeinsam mit dem Zweckverband der landwirtschaftlichen Körperschaften Bayerns ausüben. Als die Bayerische Landesbauernkammer eingerichtet wurde und sich am 9. August 1920 konstituierte, stellte der Landesbauernrat seine Tätigkeit ein, nachdem viele Bezirksbauernräte bereits im Frühjahr verschwunden waren. Sein Archiv sollte er der Bayerischen Landesbauernkammer übergeben. Zuvor war es allerdings vernichtet worden.

Literatur

  • Alois Hundhammer, Geschichte des Bayerischen Bauernbundes, München 1924.
  • Georg Köglmeier, Die zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19. Legitimation - Organisation - Funktion (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 135), München 2001.
  • Johann Kirchinger, Michael Horlacher. Ein Agrarfunktionär in der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 159), Düsseldorf 2011.
  • Johann Kirchinger, Rätewesen und Selbstverwaltungsidee. Die revolutionären bayerischen Bauernräte im Rahmen eines kontinuierlichen organisationspolitischen Diskurses zwischen Monarchie und Republik, in: Tobias Appl/Georg Köglmeier (Hg.), Regensburg, Bayern und das Reich. Festschrift für Peter Schmid zum 65. Geburtstag, Regensburg 2010, 651-686.
  • Wilhelm Mattes, Die bayerischen Bauernräte. Eine soziologische und historische Untersuchung über bäuerliche Politik (Münchener Volkswirtschaftliche Studien 144), Stuttgart/Berlin 1921.

Quellen

  • Verhandlungen des provisorischen Nationalrates des Volksstaates Bayern im Jahre 1918/1919. Stenographische Berichte Nr. 1 bis 10. 1. Sitzung am 8. November 1918 bis zur 10. Sitzung am 4. Januar 1919, München o. J. [1919].

Weiterführende Recherche

Externe Links

Verwandte Artikel

Landesbauernrat, Zentralbauernrat

Empfohlene Zitierweise

Georg Köglmeier/Johann Kirchinger, Parlamentarischer Bauernrat, 1918-1920, publiziert am 26.11.2012; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Parlamentarischer_Bauernrat,_1918-1920 (20.04.2024)