Thule-Gesellschaft, 1918-1933
Aus Historisches Lexikon Bayerns
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Bayerische Tarnorganisation, hervorgegangen im August 1918 aus dem Germanenorden. Unter der Leitung von Rudolf von Sebottendorff (1875-1945) wurde sie nach dem Sturz der Monarchie 1918 zur wichtigsten gegenrevolutionären Kraft in München und entwickelte sich weiter zur zentralen Wegbereiterin der nationalsozialistischen Bewegung. Ihr Symbol war das Hakenkreuz hinter einem senkrecht stehenden, blanken Schwert, ihr Gruß "Sieg und Heil". Presseorgan der Thule-Gesellschaft war der Münchener Beobachter. Bis Mitte der 1920er Jahre verlor die Thule-Gesellschaft stark an Bedeutung. 1932 wurde sie aus dem Vereinsregister gelöscht. Abgesehen von einer Wiederbelebung 1933 mit einer Nebenrolle im NS-Kulturbetrieb, blieben nach 1945 alle Neugründungsversuche erfolglos.
Ein Abenteurer an der Spitze der Gesellschaft: Rudolf von Sebottendorff
Der Führer der Thule-Gesellschaft, der sich Rudolf von Sebottendorff (1875-1945) nannte und in Wirklichkeit Rudolf Glauer hieß, wurde am 9. November 1875 in Hoyerswerda geboren. Nach einer abgebrochenen Ingenieursausbildung fuhr er zur See und hielt sich dann einige Jahre in der Türkei auf, wo er sich der Esoterik und dem Okkultismus widmete. 1913 kehrte er nach Deutschland zurück und behauptete, er sei in der Türkei von einem Baron von Sebottendorff adoptiert worden. Der Geburtseintrag in Hoyerswerda enthält aber keinen Vermerk einer Adoption. Im Jahr 1916 stieß Sebottendorff zum "Germanenorden", für den er mit viel Geld aus unbekannten Quellen in Bayern aktiv wurde.
Quartier im Münchner Nobelhotel "Vier Jahreszeiten"
Im August 1918 gründete Sebottendorff die Thule-Gesellschaft. Sie fand eine noble Unterkunft im Münchner Hotel "Vier Jahreszeiten", wo Sebottendorff einige Räume mietete, die durch einen Seiteneingang von der Marstallstraße zu erreichen waren und genügend Platz für die "Germanenloge" boten. Die Gesellschaft stand in deutlichem Gegensatz zu den Freimaurern, kopierte aber deren Organisationsform. "Thule", das Wort für ein sagenhaftes Land im Norden, diente als Deckname. In den "Vier Jahreszeiten" brachte Sebottendorff auch das Büro der Thule und die Redaktion ihrer Zeitung unter: Münchener Beobachter hieß das antisemitische Blatt, das auch die Veranstaltungen in den Räumen der Gesellschaft ankündigte - womit sie allerdings vom ursprünglichen Ziel der Tarnung abrückte. Der Münchener Beobachter wurde im Dezember 1920 unter dem neuen Titel Völkischer Beobachter an die NSDAP verkauft.
Kampfbund Thule
Nach der Proklamation des Freistaates Bayern am 8. November 1918 wurde der "Kampfbund Thule" als militärischer Arm der Gesellschaft gegründet. Sebottendorff erklärte: "Jetzt herrscht unser Todfeind: Juda. (...) Jetzt heißt es kämpfen, (...) kämpfen, bis das Hakenkreuz siegreich (...) aufsteigt" (Sebottendorf, Bevor Hitler kam, 57-60). Der Thule ging es nicht um die Wiederherstellung der Monarchie, sondern um die Errichtung einer Diktatur auf rassistischer Grundlage. Ihr Kampfbund, aus dem im April 1919 das Freikorps Oberland hervorging, beteiligte sich im Dezember 1918 an den Vorbereitungen eines Staatsstreiches, der in letzter Minute verhindert werden konnte. Es handelte sich um die sog. Bürgerwehr-Affäre, die beinahe zum vorzeitigen Ende der Regierungskoalition aus SPD und USPD geführt hätte. In den Räumen der Thule-Gesellschaft wurden mehrere Personen verhaftet, aber bald wieder freigelassen.
Die Thule-Gesellschaft als Zentrum der Gegenrevolution - Geburtshilfe für die NSDAP
Schon zu Beginn des Jahres 1919 versammelten sich unter dem Dach der Thule-Gesellschaft fast alle nationalistischen Gruppen, darunter auch der Alldeutsche Verband. In dieser Zeit leistete sie auch Geburtshilfe für die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) des Thule-Aktivisten und Sportjournalisten Karl Harrer (1890-1926), die sich später in NSDAP umbenannte. Sie sollte aber aus taktischen Gründen nicht als Thule-Schöpfung erscheinen. In der Thule-Gesellschaft schuf Sebottendorff auch ein Forum für spätere Größen des Nationalsozialismus wie Hans Frank (1900-1946), Rudolf Heß (1894-1987) und Alfred Rosenberg (1893-1946).
Aktivitäten während der Räteherrschaft
Bereits an dem fehlgeschlagenen Putsch der regierungstreuen "Republikanischen Schutztruppe" gegen die erste Münchner Räterepublik war auch die Thule-Gesellschaft beteiligt. Nach der Ausrufung der zweiten, kommunistischen Räterepublik am 13. April 1919 organisierte sie ein gut funktionierendes Nachrichten-und Spitzelsystem. Ihre Aktivisten fälschten Stempel der Räteorgane, sie schlichen sich in die bayerische Rote Armee und in die KPD ein. Die gesammelten Informationen wurden an die Regierung in Bamberg weitergeleitet. Die Kuriere fuhren als Eisenbahnbeamte. Der Bahninspektor und offizielle Thule-Vorsitzende Friedrich Knauf (geb. 1873) besorgte die notwendigen Ausweise. Am 26. April 1919 stürmte die räterepublikanische Militärpolizei schließlich das Hotel "Vier Jahreszeiten". Rund 20 Personen wurden verhaftet und ein Teil von ihnen in das Luitpoldgymnasium überstellt, das den Rotgardisten als Stützpunkt diente.
Der so genannte Geiselmord im Münchner Luitpoldgymnasium
Im Hof des Gymnasiums wurden am 30. April 1919 sieben aktive Thule-Mitglieder erschossen. Die jüdische Herkunft einiger Repräsentanten der Revolutions- und Rätezeit diente als Vorwand für die nun folgende antisemitische Hetzkampagne. Die Erschießung der Gefangenen am letzten Tag der Räteherrschaft ist fälschlicherweise als "Geiselmord" in die Geschichte eingegangen. Das Volksgericht München, vor dem im September 1919 der Prozess gegen die so genannten Geiselmörder stattfand, lehnte es ab, die politische Rolle der Thule-Gesellschaft zu untersuchen. Im Jahr 1933 schrieb Rudolf von Sebottendorff: "Es braucht nun nicht mehr verhehlt zu werden, dass jene sieben Thule-Leute nicht als Geiseln starben (...). Sie starben für das Hakenkreuz" (Bevor Hitler kam, Widmung).
Der Niedergang der Thule-Gesellschaft - Ein gescheiterter Comeback-Versuch 1933
Nach der militärischen Niederwerfung der Räteherrschaft zerfiel die Thule-Gesellschaft in rivalisierende Gruppen und spielte in der völkischen Bewegung nur noch eine untergeordnete Rolle. Sebottendorff zog von München nach Freiburg und anschließend nach Bad Sachsa im Harz. Dann verließ er Deutschland und lebte in der Türkei. Als Adolf Hitler (1889-1945) 1933 die Macht übernahm, kehrte Sebottendorff nach München zurück. Er fiel aber bald in Ungnade, da er in seinem Buch "Bevor Hitler kam" einen Anspruch darauf erhob, die Thule-Gesellschaft sei die Vorläuferin des Nationalsozialismus gewesen. Im Februar 1934 wurde er aus Deutschland abgeschoben. Er kehrte in die Türkei zurück und ertränkte sich angeblich aus Gram über die deutsche Kapitulation am 9. Mai 1945 im Bosporus.
Sebottendorff hat die Gegenrevolution in München organisiert; zugleich war er im deutschvölkischen Lager als Esoteriker und Okkultist bekannt. Dies führte zu einer sich hartnäckig haltenden Legende, wonach der Nationalsozialismus durch geheimnisvolle Kräfte entstanden sei, die sich der Thule-Gesellschaft als Orakel bedient hätten.
Versuche einer Wiederbelebung nach 1945
Am 5. April 1951 wurde die Thule-Gesellschaft unter Hinweis auf den „Wegfall sämtlicher Mitglieder“ aus dem Vereinsregister wieder gelöscht. Ihre Ideologie ist mit dem Dritten Reich aber nicht untergegangen. Rechtsextreme Gruppierungen nehmen Bezug auf die Thule, die auch in den Computernetzen von Neonazis häufig vertreten ist. Das Internet bietet dieser Szene vielfältige Möglichkeiten. Internetseiten werden installiert und wieder gelöscht. Neue tauchen auf. Oft lässt sich nur schwer einschätzen, ob Nostalgiker und geltungssüchtige Einzelgänger am Werk sind oder Gruppen von Aktivisten, denen die Demokratie ein Dorn im Auge ist.
Eine besondere Rolle spielte das 1980 gegründete „Thule-Seminar“. Dabei handelte es sich um einen elitären Zirkel von Gelehrten und Publizisten, der ein akademisch gebildetes Publikum ansprach und dabei bewusst auf plumpe Demagogie verzichtete. Dieses Projekt zur Intellektualisierung der rechten Szene ist jedoch gescheitert. Das „Thule-Seminar“ ist seit einigen Jahren nicht mehr aktiv.
Literatur
- Hermann Gilbhard, Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz, München 2. Auflage 2015.
- Heinrich Hillmayr, Roter und weißer Terror in Bayern nach 1918 - Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen der Gewalttätigkeiten im Verlauf der revolutionären Ereignisse nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, München 1974.
Quellen
- Rudolf von Sebottendorff, Bevor Hitler kam. Urkundliches aus der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung, München 1933.
Weiterführende Recherche
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Empfohlene Zitierweise
Hermann Gilbhard, Thule-Gesellschaft, 1918-1933, publiziert am 17.07.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Thule-Gesellschaft,_1918-1933> (16.10.2024)