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Ende des Alten Reiches

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Allegorie auf den Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Chronos hält einem Monstrum mit Affenkopf und Reichskrone, die das Reich symbolisiert, einen Spiegel vor Augen um ihm zu verdeutlichen, dass seine Zeit gekommen ist. Kupferstich, Bayern 1806. (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inv.-Nr. HB18662, Foto: Monika Runge)

von Wolfgang Burgdorf

Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz II. die Krone nieder und erklärte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (in der Forschung Altes Reich genannt) für aufgelöst. Das Ende des Alten Reiches hatte sich bereits längerfristig durch die Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich angebahnt. Durch militärische Niederlagen und Friedensschlüsse (u.a. den Frieden von Basel 1795 sowie den Frieden von Campoformio 1797) wurden gravierende Gebietsveränderungen im Reichsgebiet ausgelöst, die dessen Struktur massiv veränderten, besonders durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Faktisch wurde das Reich bereits durch den Austritt der Verbündeten Napoleons und ihren Eintritt in den Rheinbund aufgelöst. Aber selbst die größeren Mitglieder der napoleonischen Konföderation, wie Württemberg und Bayern, waren nur auf Napoleons Druck beigetreten, war ihre Situation im Reich doch mit weit weniger Zumutungen verbunden als im Rheinbund. Zusätzlich stellte Kaiser Napeoleon ein Ultimatum an Franz II., die Krone bis zum 10. August niederzulegen, was dieser am 6. August per Dekret erklärte. Von den Zeitgenossen wurden die Ereignisse mit Entsetzen wahrgenommen, nicht zuletzt vom Personal der Reichsgerichte und des Reichstages. Erst mit dem im Herbst 1806 beginnenden Krieg Frankreichs gegen Preußen wurden die Ereignisse aus der öffentlichen Wahrnehmung wieder verdrängt. In der Forschung herrschte lange das Bild eines sang- und klanglosen Endes des Alten Reiches vor, das erst im Umfeld des 200jährigen Jubiläums der Ereignisse in Frage gestellt und revidiert wurde.

Politik, Gesellschaft und Menschen

Die Ereignisse, die in der ersten Augustwoche 1806 im Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gipfelten, stellen einen massiven Bruch in der deutschen Geschichte dar. Es handelt sich nicht nur um die größte Gebietsveränderung und Besitzumschichtung zwischen 1648 und 1945, sondern auch um die radikalsten staatsrechtlichen Veränderungen. Viele Zeitgenossen haben das Ende des Reiches als dramatisches Ereignis wahrgenommen. Fürsten und Grafen sahen sich von ihren Mitständen und Nachbarn, die in manchen Fällen nicht mächtiger waren als sie, aber über bessere verwandtschaftliche oder andere Verbindungen verfügten, ihrer Herrschaftsrechte beraubt. Schon 1803 hatte die Säkularisierung Mönche, Nonnen, Chorherren und Ordensritter um ihre Lebensplanung, die bis zum Ende ihres irdischen Daseins reichte, gebracht. Mit der Aufhebung der Klöster brach zudem in weiten Teilen des katholischen Deutschland und so auch in Bayern das ländliche Schul- und Kreditwesen sowie die medizinische Versorgung zusammen.

Das Personal des Reichskammergerichts, der Reichskreistage, die Reichstagsgesandten und das Gesandtschaftspersonal fanden sich im August 1806 plötzlich ohne Reich, Reichstag und Einkommen. Dies war umso folgenreicher, als viele von ihnen schon 1803 empfindliche Einbußen hatten hinnehmen müssen. Auch die Reichsstadt Regensburg hatte im Rahmen der Mediatisierung 1803 ihre Reichsunmittelbarkeit verloren. Sie wurde mit den in der Stadt liegenden reichsunmittelbaren Stiften St. Emmeram, Ober- und Niedermünster und dem Fürstbistum Regensburg zum Fürstentum Regensburg vereinigt und diente bis 1806 als Residenz des letzten Kurerzkanzlers und Sitz des Reichstages. 1810 fiel das Fürstentum Regensburg an Bayern. Die Stadt wurde zur bayerischen Provinzstadt. Diesem Bedeutungsverlust verdankt Regensburg seinen altertümlichen Charme. In der Innenstadt wurde zweihundert Jahre fast nichts Neues mehr gebaut.

Für die Untertanen wechselten nicht nur, oft mehrfach kurz hintereinander, legitim geglaubte, für die Ewigkeit gültig scheinende Herrschaftsbeziehungen. Sie verloren auch viele Versorgungs- und Bildungsmöglichkeiten, soziale und ökonomische Sicherungssysteme wie Arbeitsplätze. Durch den Wegfall der Reichsverfassung und mit ihr verbundenem Steuerrecht erhöhte sich im gesamten ehemaligen Reich die Steuerlast dramatisch. Nun konnten Untertanen nicht mehr vor den Reichsgerichten gegen zu hohe Steuern klagen. Überall wurden die militärischen Dienstpflichten entweder erstmals eingeführt oder verschärft. Gleichzeitig entstanden aber Flächenstaaten mit einheitlichen Wirtschaftsräumen, die nicht durch innere Zollgrenzen zergliedert waren. Die mit Hilfe des napoleonischen Frankreich durchgesetzten Veränderungen brachten in Deutschland vielerorts den Sieg des Absolutismus. In Mittel- und Südwestdeutschland wurden aber auch die Grundlagen für die relativ modernen konstitutionellen Verfassungen gelegt. Die Verfassungen dienten der Integration der neuen Landesteile und der Sicherung der Kreditfähigkeit.

Die teilweise traumatischen Erfahrungen wurden in der Geschichtsschreibung unmittelbar nach den Ereignissen tabuisiert. Die überlebenden deutschen Staaten konstruierten ihre eigenen Geschichten und die ab Mitte des 19. Jahrhunderts dominierende neue nationale Meistererzählung begann mit dem siegreichen Kampf gegen Napoleon Bonaparte (1769-1821, 1799 bis 1804 Erster Konsul der Franz. Republik, 1804-1814/15 Kaiser der Franzosen). Der Untergang des Reiches und der Germania sacra (Geistliche Territorien) sowie einer Vielzahl kleinerer weltlicher Territorien und fast aller Reichsstädte kam darin nicht vor. Wenn von einem Untergang gesprochen wurde, dann von Preußen in der Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 und dies auch nur als Präludium des Wiederaufstieges, der sog. Befreiungskriege und letztlich der kleindeutsch-borussischen Reichsgründung von 1871. Anders als nach 1945 war nach 1806 nicht die zerbrochene, sondern die neue Ordnung vielfach moralisch diskreditiert. Hier liegt einer der Gründe für die unmittelbar nach 1806 einsetzende Reichssehnsucht. Diese richtete sich bald auf das Mittelalter, da die Zeitgeschichte nur äußert selektiv aufgegriffen werden konnte, denn die meisten überlebenden deutschen Fürstenstaaten hatten zeitweise mit dem „Reichsfeind“ Napoleon kollaboriert, hatten ihm nicht nur ihr Überleben, sondern auch ihre teilweise drastische Vergrößerung zu verdanken.

Historische Entwicklungen, die zur Auflösung des Reiches führten

Der Erste Koalitionskrieg

Kaiser Franz II. im Krönungsornat und mit Reichskrone. Das Gemälde wurde 1874 von Ludwig Streitenfeld (1849-1930) für den Ahnensaal in der Wiener Hofburg geschaffen. (Bundesdenkmalamt, Wien, Aufnahme Bettina Neubauer-Preg)

Der Untergang des Alten Reiches war eine Folge der Koalitionskriege. Nach der Gründung des Rheinbundes am 16. Juli 1806 stellte Napoleon Kaiser Franz II. (1768-1835, reg. als röm.-dt. Kaiser 1792-1806) am 22. Juli ein Ultimatum. Entweder würde er die Reichskrone bis zum 10. August niederlegen oder französische Truppen würden in Österreich einmarschieren. Die erste Koalition wurde durch die Pillnitzer Deklaration vom 27. August 1791, eine gemeinsame Erklärung Österreichs und Preußens, angebahnt. Hauptgegenstand der vorhergehenden Verhandlungen waren das Schicksal Polens und die Beendigung des österreichischen Krieges gegen das Osmanische Reich. Erst ganz am Ende wurde unter Einfluss französischer Emigranten eine Erklärung zur Unterstützung des französischen Königs gegen die Revolutionäre abgegeben. Dazu trug auch die Beeinträchtigung reichsständischer Rechte im Elsass bei.

Zu Beginn des Jahres 1792 forderte Frankreich ultimativ die Ausweisung der Emigrantentruppen aus dem Reich. Dies führte zum preußisch-österreichischen Defensivbündnis vom 18. März 1792. Daraufhin erklärte Frankreich am 20. April 1792 Franz II., König von Ungarn und Böhmen, der wenig später zum Kaiser gewählt wurde, den Krieg. Das Manifest des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel (1735-1806, reg. 1780-1806) vom 25. Juli 1792, das, unter Einfluss französischer Emigranten formuliert, mit der Zerstörung von Paris für den Fall drohte, dass der Königsfamilie ein Leid geschehe, hatte eine fatale Wirkung.

Am 10. August 1792 wurden die Tuilerien gestürmt und die königliche Familie inhaftiert. Infolge der Kanonade von Valmy am 20. September 1792 wurde der Vormarsch der Alliierten gestoppt und der Rückzug eingeleitet. Am 21. Oktober 1792 wurde Mainz von den Franzosen besetzt und die erste deutsche Republik ausgerufen. Nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 schlossen sich zwar fast alle europäischen Mächte sowie das gesamte Reich der Koalition an, bedeutende Erfolge konnten gegen die französische Levée en masse, der neuaufgestellten Massenheere infolge der allgemeinen Wehrpflicht, aber nicht erreicht werden. Nach dem Frieden von Basel am 5. April 1795 schied Preußen aus der Koalition aus. Seine Truppen wurden für die neuerliche Teilung Polens benötigt.

Gleichzeitig führte Preußen fast alle nord-und ostdeutschen Reichsstände in die Neutralität. In Basel gestand Preußen auch erstmals die Abtretung des linken Rheinufers gegen Entschädigungen im Reich zu. Nach schweren Niederlagen sah sich auch Kaiser Franz II. genötigt, am 17. Oktober 1797 den Frieden von Campoformio zu schließen, der ebenfalls die Abtretung des linken Rheinufers vorsah. Wie die weltlichen Reichsstände, die dadurch Verluste erlitten, entschädigt werden würden, sollte auf einem Kongress in Rastatt entschieden werden. Dieser tagte vom 9. Dezember 1797 bis 23. April 1799. Man einigte sich für die Entschädigungen auf umfangreiche Säkularisationen im Reich. Doch der Kongress scheiterte. Österreich hatte einer russischen Armee den Durchmarsch nach Italien gestattet. Frankreich erklärte Österreich daher am 12. März 1799 erneut den Krieg.

Der Zweite Koalitionskrieg

Es war der Zweite Koalitionskrieg. Bereits zuvor hatte sich der Krieg gegen Russland und Großbritannien auf die Ozeane, das Mittelmeergebiet, Ägypten und den vorderen Orient ausgedehnt. Der Krieg wurde zum Weltkrieg, ein ideologisch verhärteter Weltanschauungskrieg, der auch in den Kolonien und auf den Weltmeeren ausgetragen wurde. Die Kriegsschauplätze in Europa waren insbesondere Italien und Deutschland, hier besonders Bayern. Preußen und die Mitglieder der norddeutschen Neutralität blieben neutral. Nach erneuten schweren Niederlagen schloss Kaiser Franz II. am 9. Februar 1801 für Österreich und das Reich den Frieden von Lunéville. Auch Russland näherte sich Frankreich an. Von den europäischen Mächten verblieb allein Großbritannien bis 1802 im Krieg gegen Frankreich. In Lunéville musste erneut auf das linke Rheinufer verzichtet werden. Die Entschädigungen sollte eine Reichsdeputation unter Vermittlung Frankreichs und Russlands am Sitz des Reichstages in Regensburg verhandeln.

In der zeitgenössischen Literatur wurde intensiv diskutiert, ob die Säkularisationsbestimmung des Friedensschlusses mit der Reichsverfassung vereinbar sei. Fast alle Friedensschlüsse, die Gebietsabtretungen beinhalten, sind wie Revolutionen verfassungswidrig. Die normative Macht des Faktischen schafft neue Legitimität. Durch den Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 wurden bis auf Kurmainz, das nach Regensburg transferiert wurde, und den deutschen Orden, die Mitglieder der Deputation waren, alle geistlichen Territorien sowie 45 Reichsstädte weltlichen Fürsten zugeteilt. Bayern hatte in den Verhandlungen zudem auch die Aufhebung der landständischen Klöster reichsrechtlich abgesichert. Ca. fünf Millionen Menschen erhielten neue Landesherren. In der Literatur wird der Reichsdeputationshauptschluss häufig als wesentlicher Schritt zur Reichsauflösung gesehen, viele Zeitgenossen sahen in ihm jedoch eine Konzentration und Kräftigung der Reichsverfassung und des Reiches. Diese Auffassung vertraten insbesondere Funktionäre der gewinnenden Fürsten, aber auch Publizisten und Juristen wie Johann Friedrich Reitemeier (1755 – 1839).

Der Dritte Koalitionskrieg

Der Dritte Koalitionskrieg begann im Mai 1803 zwischen Frankreich sowie den französischen Tochterrepubliken und Großbritannien, vordergründig wegen der britischen Weigerung Malta zu räumen. Am 11. April 1805 kam es in St. Petersburg zum Bündnis zwischen Großbritannien und Russland, dessen Ziel es war, Frankreich auf die Grenzen von 1792 zurückzuführen. Österreich, Schweden und Neapel schlossen sich ihnen an. Preußen blieb, obwohl Hannover, welches in Personalunion mit Großbritannien verbunden war, aber gleichzeitig zur Neutralitätszone gehörte, 1803 von Frankreich besetzt wurde, weiterhin neutral. Bayern, Württemberg und Baden traten erstmals auf Seiten Napoleons in den Krieg ein.

Am 2. Dezember 1805, dem ersten Jahrestag von Napoleons Kaiserkrönung, kam es zur entscheidenden Dreikaiserschlacht bei Austerlitz. Napoleons Sieg war überwältigend. Wien war schon am 13. November gefallen. Kaiser Franz II. musste sich am 26. Dezember 1805 den Frieden von Preßburg diktieren lassen. Die Grafschaft Tirol, Vorarlberg, Vorderösterreich sowie Teile der ehemaligen Hochstifte Augsburg und Passau mussten an das neugeschaffene Königreich Bayern abgetreten werden. Die österreichischen Besitzungen an der Adria fielen an das napoleonische Königreich Italien, andere Gebiete an Baden und Württemberg. Der Deutsche Orden und der Malteser- bzw. Johanniterorden wurden säkularisiert. Teile der napoleonischen Armee blieben als Besatzung in den österreichischen Festungen, der Großteil im Westen des Reiches. Österreich und das Reich waren strukturell verteidigungsunfähig. Am 15. März 1806 trat König Maximilian I. Joseph von Bayern (1756-1825; reg. 1806-1825) sein Herzogtum Berg im Tausch gegen die Markgrafschaft Ansbach an Napoleon bzw. dessen Schwager Joachim Murat (1767-1815) ab.

Gründung des Rheinbundes

Deutschland 1806. Die Karte verdeutlicht die Lage Anfang August 1806. (Gestaltung: Stefan Schnupp; Grundlage: Karte „Karte des Rheinbundes 1806“ von ziegelbrenner lizensiert durch CC BY 2.5 via Wikimedia Commons)

Zwischen dem 12. und 20. Juli 1806 unterzeichneten 16 Gesandte westdeutscher Fürsten in Paris auf Drängen Napoleons die Rheinbundakte. Der Rheinbund war ein Militärbündnis, als dessen Protektor Napoleon fungierte. Die Bundesfürsten erklärten, sich für „immer vom teutschen Reichsgebiete“ zu trennen und den Reichsgesetzen, außer den schulden- und versorgungsrechtlichen Bestimmungen des Hauptschlusses von 1803, keine Gültigkeit mehr beizumessen. Gleichzeitig erfolgten umfangreiche Mediatisierungen kleiner weltlicher Reichsstände zugunsten der Rheinbundfürsten. Die Bundesfürsten erklärten zudem, dass sie ihre Trennung vom Reich am 1. August auf dem Reichstag bekannt machen würden.

Hier erklärten die Fürsten, dass „das Band, welches bisher die verschiedenen Glieder des deutschen Staatskörpers miteinander vereinigen sollte, für diesen Zweck nicht mehr hinreiche, oder vielmehr dass es in der That schon aufgelöst sei“, das Reich also eigentlich nicht mehr bestehe. Freitag, den 1. August 1806, nachmittags um 16 Uhr wurde im Reichstag zu Regensburg die Auflösung des Reiches diktiert. Mitten in den Reichstagsferien erschienen plötzlich die Gesandten der deutschen Verbündeten Napoleons, um diesen finalen Akt der Reichsgeschichte zu beglaubigen. Der bayerische Gesandte Alois Franz Xaver von Rechberg und Rothenlöwen (1766-1849), später Nachfolger des Außenministers Maximilian von Montgelas (1759-1838), selbst von altem Reichsadel, empörte sich, dass er nach Regensburg kommen musste, um „die Vernichtung des deutschen Namens zu unterzeichnen“ (zit. nach Burgdorf, Weltbild, S. 135).

Niederlegung der römisch-deutschen Kaiserwürde

Während der Julikrise des Jahres 1806 tobte nicht nur der Kampf um die Ausgestaltung und Ratifikation der Rheinbundakte. Gleichzeitig strebte das 1804 mit der französischen und österreichischen Kaiserproklamation begonnene Ringen um die höchste abendländische Würde einem Höhepunkt zu. Am 22. Juli hatte Napoleon dem österreichischen Geschäftsträger in Paris, General Karl von Vincent (1757-1834), erklärt, die Reichsverfassung sei nicht mehr zeitgemäß und er werde weder sie noch den Vorrang des römisch-deutschen Kaisers länger anerkennen. Das Reich habe aufgehört zu existieren. Sollte Franz die Krone des Reiches nicht bis zum 10. August niedergelegt haben, werde die französische Armee beginnen, Österreich erneut zu besetzen.

Der Vortrag Napoleons war in die Form eines Wutanfalls über angebliche österreichische Intrigen gekleidet. Als Vincent entgegnete, nur an der Spitze einer Armee könne man auf diese Worte antworten, entgegnete Napoleon, dass Österreich zurzeit weder über eine einsatzbereite Armee noch über Artillerie und die nötigen Finanzen verfüge und zudem ohne Bundesgenossen sei. Am 2. August wurde dem französischen Gesandten in Wien, Alexandre Comte de La Rochefoucauld (1767-1841), mitgeteilt, dass man sich beuge. Da ein militärischer Widerstand unmöglich war, legte Kaiser Franz die Krone am 6. August nieder. Die französischen und rheinbündischen Erklärungen vom 1. August gestatteten ihm gleichzeitig die Auflösung des Reiches festzustellen und damit eine Wiederaufnahme der Krone durch Napoleon zu verhindern. Damit konnte Österreich nicht zu Reichslasten herangezogen werden, die seinen Interessen widersprachen. Vor allem entlastete sich der Kaiser damit vom Odium der Reichszerstörung. Die Publikation der kaiserlichen Dekrete vom 6. August am 9. August in der „Wiener Zeitung“ war vom Ablauf des napoleonischen Ultimatums am folgenden Tag diktiert. In der „Königlich-Baierische[n] Staats-Zeitung von München“ wurde die Erklärung des Kaisers am 13. August veröffentlicht. In vielen anderen rheinbündischen Zeitungen fand das Ereignis keine Erwähnung. Das Reich ging mehr als ein Jahrzehnt später unter als die Niederlande und die italienischen Staaten.

Die zeitgenössische Wahrnehmung der Reichsauflösung

In Deutschland finden sich in zahllosen Briefen und Tagebucheintragungen von August bis Mitte Oktober 1806 Ausdrücke schieren Entsetzens. Oft wurde die Formulierung „deutsche Katastrophe“ sowie die Metapher vom Untergang Trojas verwendet (Burgdorf, „Once we were Trojans!“). Es ist das Bild eines totalen Unterganges, des Endes einer Kultur, der Vertilgung eines Staates. Sogar das Bild der Apokalypse wurde bemüht. Nicht wenige Zeitgenossen verharrten in der Feststellung, dass die Vernichtung des Reiches, des Immerdagewesenen, so unfassbar sei, dass sie sich der unmittelbaren Kommentierung entziehe (Burgdorf, Vahlkampfsche Schweigen). In Unkenntnis der Zukunft glaubte ein Großteil der Deutschen nach den Augustereignissen des Jahres 1806 das Schlimmstmögliche erlebt zu haben. Es gab immer gleichzeitig ein Spektrum von Meinungen, aber auch in Bayern gab es entsprechende Äußerungen, nicht nur von „Neubayern“, sondern auch von dem berühmten Mediziner Samuel Thomas Soemmering (1755-1830) oder Kronprinz Ludwig (1786-1868, bayer. König 1825-1848), selbst König Max I. Joseph war empört, dass sein Gesandter in Frankreich die Rheinbundakte unterzeichnet hatte.

Ein Beispiel für die Erschütterung ist die Aussage von Goethes Mutter, Katharina Elisabeth Goethe (1731-1808), vom 19. August: „Mir ist übrigens zu Mute, als wenn ein alter Freund sehr krank ist; die Ärzte geben ihn auf, man ist versichert, dass er sterben wird, und mit all der Gewissheit wird man doch erschüttert, wenn die Post kommt, er ist tot. So geht es mir und der ganzen Stadt – gestern wurde zum ersten Mal Kaiser und Reich aus dem Kirchengebet weggelassen – Illuminationen, Feuerwerk und dergleichen, aber kein Zeichen der Freude, es ist wie lauter Leichenbegängnisse, so sehen unsere Freuden aus“ (Suphan, Briefe von Goethes Mutter, S. 295). Der Wegfall der Fürbitten für Kaiser und Reich in den täglichen Gottesdiensten führte vielerorts zu Unruhen.

Dann wurden die Ressourcen des Schreckens plötzlich durch den neuen Krieg zwischen Preußen und Frankreich absorbiert. Diesem Krieg folgten bis 1815 eine Vielzahl weiterer Kriege. Schon unmittelbar nach den Ereignissen von 1806 kam es, nicht zuletzt wegen der Mitschuld der noch regierenden deutschen Fürsten am Untergang des Reiches, zu einer Tabuisierung der Zeitgeschichte. Es kam zu einer kollektiven Flucht der Deutschen ins Mittelalter, die sich in der Romantik, der Germanistik, der Historischen Rechtsschule, in neugegründeten Kunst- und Geschichtsvereinen spiegelte.

Bayerns Anteil an der Reichsauflösung

Bayern trug durch sein Bündnis mit Napoleon wesentlich zur Lage im Sommer 1806 bei. Lange Zeit wurden die Rheinbundfürsten von der borussisch-kleindeutschen Historiographie als Reichsverräter diffamiert. Die geschichtliche Situation war jedoch komplexer. Nur einige der kleineren Mitglieder sind dem Bund völlig freiwillig beigetreten, um ihre Existenz zu sichern. Für die größeren Reichsstände war die Reichsverfassung wesentlich komfortabler als der napoleonische Staatenbund. Sie hatten mehr Mitspracherechte und waren zu weniger kostspieligen militärischen Leistungen verpflichtet. Dennoch drängte der bayerische Gesandte in Paris Anton Freiherr von Cetto (1756-1847) die anderen Gesandten zum Abschluss. Cetto schickte bereits am 12. Juni einen Vertragsentwurf nach München, wo seine Unterschrift an den Erwerb von Regensburg gebunden wurde. Derweil reiste der württembergische Minister Graf Ludwig von Taube (1771-1816) nach München und überzeugte König Maximilian I., sich nicht freiwillig vom Reich zu trennen. Nun sollte das Reich die neuen Souveräne vor Zumutungen Napoleons bewahren. Maximilian I. widerrief daraufhin am 19. Juni die Vollmacht für Cetto.


Als die Ergebnisse der Pariser Verhandlungen in Deutschland bekannt wurden, waren die deutschen Fürsten unangenehm überrascht. Ihre neu erlangte Souveränität wurde durch die Bundesverfassung und deren angekündigten Ausbau relativiert. Sie sahen sich mit weit größeren Belastungen als innerhalb des Reiches konfrontiert. Der Kurfürst von Baden war angesichts der unausweichlichen Notwendigkeit wie der Kurfürst-Erzkanzler zu Tränen gerührt, der bayerische König hätte Cetto im Nachhinein am liebsten erschossen. „Der infame Cetto hat gegen seine Instruktion gehandelt, wenn er mir wäre unter die Augen gekommen, ich hätte ihm eine Kugel durch den Kopf gejagt. Das Übel ist geschehen, zu verhindern war es nicht mehr, vorzüglich wegen dem Frieden mit Russland und weil wir 150.000 Franzosen im Lande haben“ (Neri, Cetto, S. 244 f.). Der König von Württemberg legte einen Tag vor der Ratifikation der Rheinbundakte in Gegenwart des Kronprinzen, zweier Minister und eines Notars eine Verwahrungsurkunde nieder, in der er seine Loslösung vom Reich für erzwungen erklärte (Walter, Der Zusammenbruch, S. 65-70).

Forschungsgeschichte

Porträt von Prof. Joseph Andreas Buchner (1776-1854). Er lehrte ab 1811 am Lyzeum Regensburg, ab 1826 an der Universität München und war seit 1822 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Seine Geschichte von Baiern erschien ab 1820 in zehn Bänden. (Bayerische Akademie der Wissenschaften)

Horst Carl (geb. 1959) hat die Forschungen zum Ende des Alten Reiches 2010 mustergültig zusammengefasst (Carl, Epochenjahr 1806). Das Urteil der Forschung über die Ereignisse des 1. August 1806 und die sechs Tage später erfolgte Abdankung Kaiser Franz II. war lange eindeutig. „Im Jahre 1806 brach dann das morsche Deutsche Reich zusammen, und das Kammergericht, das sich selbst überlebt hatte, wurde ohne Sang und Klang geschlossen. Das war trotz vieler Klagen, die damals erhoben wurden, ein Segen für Deutschland“ (Gloёl, Goethes Wetzlarer Zeit, S. 14). „So endete nach fast tausend Jahren das deutsche Reich (oder das heilige römische Reich, von dem ein Voltaire spöttisch sagen konnte, daß es weder heilig, noch römisch, noch reich gewesen sei) fast durch den Federstrich eines fremden Geschäftsträgers, alt und matt, ohne Zuckungen und Krampf, und dennoch in seinem Falle manchen schwer verwundend oder vernichtend“ (Böttiger, Geschichte, S. 415) „Das ehrwürdige, neun Jahrhunderte alte deutsche Reich verschwand wie ein Schatten, kein Säbel fuhr aus der Scheide, keine Kugel aus einem Karabiner, um es zu verteidigen“ (Buchner, Aelteste Geschichte Baierns, 10. Bd., S. 139), urteilen Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Nation blieb angesichts des Unterganges des Reiches „stumm und kalt“, heißt es bei Heinrich von Treitschke (1834-1896) (Deutsche Geschichte, S. 234).

Auch in jüngeren Darstellungen ist immer wieder zu lesen, das Alte Reich sei 1806 ohne Bedauern, „sang- und klanglos“, untergegangen, so Thomas Nipperdey (1927-1992) (Deutsche Geschichte, S. 14). Das Ende des Reiches habe keine Emotionen hervorgerufen, meint Heinz Angermeier (1924-2007) (Deutschland, S. 20). Und Hagen Schulze (1943-2014) glaubt, „alle Welt“ ging „achselzuckend über das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zur Tagesordnung über“ (Kleine deutsche Geschichte, S. 71). Seitenlang ließen sich ähnliche Zitate aus neuesten Publikationen anfügen (Burgdorf, Weltbild, S. 155). Seit 2006 setzt sich jedoch zunehmend die Erkenntnis durch, dass der Untergang des Reiches 1806 ein fundamentales Ereignis der deutschen Nationalgeschichte war und von den Zeitgenossen als solches mit Entsetzen wahrgenommen wurde.

Literatur

  • Karl Otmar Freiherr von Aretin, Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714-1818, München 1976.
  • Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806, München 2. Aufl. 2008.
  • Ders., Das Vahlkampfsche Schweigen – Oder wie die Deutschen 1806 das Entgleisen ihrer Geschichte kommentierten, in: Michael North / Robert Riemer (Hg.), Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum. Wahrnehmungen und Transformationen, Köln 2008, S. 172-206.
  • Ders., „Once we were Trojans!“ Contemporary reactions to the dissolution of the Holy Roman Empire of the German Nation, in: R. J. W. Evans / Michael Schaich / Peter H. Wilson (Hg.), The Holy Roman Empire 1495-1806, Boston 2012, 51-78.
  • Horst Carl, Epochenjahr 1806? Neue Forschungen zum Ende des Alten Reiches, in: Zeitschrift für Historische Forschung 37 (2010), 249-261.
  • Marcel Dunan, Napoléon et l'Allemagne. Le système continental et les débuts du royaume de Bavière, 1806 - 1810, Paris 1942.
  • Johannes Erichsen / Katharina Heinemann (Hgg.), Bayerns Krone 1806. 200 Jahre Königreich Bayern, München 2006.
  • Margot Hamm / Evamaria Brockhoff / Volker Bräu u.a. (Hgg.), Napoleon und Bayern (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur; 64), Darmstadt 2015.
  • Eric-Oliver Mader, Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“. Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Berlin 2005.
  • Ders., Das Reichskammergericht, der Reichsdeputationshauptschluss und die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, Wetzlar 2005.
  • Ders., Das Vahlkampf’sche Schweigen. Die Auflösung des Alten Reiches als Überforderung des Geistes, in: GWU 57 (2006), 574-584.
  • Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bd. 1: Bürgerwelt und starker Staat, München 1983.
  • Hans Ottomeyer / Jutta Götzmann / Ansgar Reiß (Hgg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962-1806. Altes Reich und Neue Staaten 1495-1806., Dresden 2006.
  • Alois Schmid (Hg.), 1806 – Bayern wird Königreich. Vorgeschichte – Inszenierung – europäischer Rahmen, Regensburg 2006.
  • Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte, München 1996.
  • Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 1. T.: Bis zum zweiten Pariser Frieden, Leipzig 9. Aufl. 1913.
  • Hermann Uhrig, Die Vereinbarkeit des Artikel VII des Friedens von Lunéville mit der Reichsverfassung, 5 Bde., Nordhausen 2014.
  • Gero Walter, Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die Problematik seiner Restauration in den Jahren 1814/15, Heidelberg 1980.

Quellen

  • Hans-Werner Hahn (Hg.), Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, 9 Bde, München 1991-2014.

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Wolfgang Burgdorf, Ende des Alten Reiches, publiziert am 26.04.2023, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Ende_des_Alten_Reiches (25.04.2024)