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Gastarbeiter

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Ankunft von Gastarbeitern am Münchner Hauptbahnhof. Fast alle aus Süd- und Südosteuropa stammenden Gastarbeiter kamen am Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs an. Bevor sie zu ihren Bestimmungsorten in Deutschland weiterreisten, wurden sie hier registriert. Aufnahme aus den 1960er Jahren. (Stadtarchiv München, RD0668A14)
Gastarbeiter stehen vor Weihnachten 1965 am Schalter des Münchner Hauptbahnhofs für Fahrkarten in die Heimat an. Über dem Schalter sind die entsprechenden Hinweise viersprachig angegeben, um die Orientierung zu erleichtern. Auffallend ist, dass der Hinweis in deutscher Sprache fehlt. Foto Dezember 1965. (Stadtarchiv München, RD0667B26)

von Maximiliane Rieder

Unter dem Begriff "Gastarbeiter" (regierungsamtliche Bezeichnung: "ausländische Arbeitnehmer" oder "Arbeitnehmer aus den Anwerbeländern") werden Arbeitsmigranten der sog. ersten Generation verstanden, die zwischen 1955 bis 1973 im Rahmen von Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik Deutschland kamen. Mit ihnen konnte die deutsche Wirtschaft während des "Wirtschaftswunders" den Arbeitskräftemangel ausgleichen. Partnerländer waren v. a. Italien, Spanien, Griechenland und die Türkei. Das Bild der "Gastarbeiter" prägten in Bayern hauptsächlich Italiener. Zwischen 1960 und 1972 stieg der Anteil der ausländischen Erwerbsbevölkerung in Bayern und Westdeutschland stark an (Bayern: Anstieg von 36.979 auf 371.253). Anfänglich wurden vorrangig ungelernte Arbeitskräfte angeworben, später auch Facharbeiter. Ein 1973 erfolgter "Anwerbestopp" in der Bundesrepublik beendete den Zugang für Arbeitskräfte von außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Hier reihte sich die Bundesrepublik in einen zwischen 1970 und 1974 in ganz Westeuropa zu beobachtenden Trend ein. Der Erfolg der "Gastarbeiter" in der deutschen Wirtschaft führte dazu, dass sie sich vielfach hier niederließen und ihre Familien nachholten. Dennoch kehrte die überwiegende Mehrheit von ihnen wieder in ihre Heimatländer zurück.

Entstehung und Entwicklung des Begriffs "Gastarbeiter"

Als 1964 ein offizielles Empfangskomitee in Köln dem millionsten "Gastarbeiter", dem Portugiesen Armando Rodrigues de Sà (1926–1979), bei seiner Ankunft in der Bundesrepublik medienwirksam ein Zündapp-Mokick als Präsent überreichte, hatte sich der Neologismus für die seit Mitte der 1950er Jahre im Ausland angeworbenen Arbeitnehmer in der öffentlichen Diskussion in Westdeutschland längst eingebürgert. Die einschlägige regierungsamtliche Bezeichnung hingegen lautete "ausländische Arbeitnehmer" oder "Arbeitnehmer aus den Anwerbeländern". In offiziellen Statistiken finden sich die wertneutralen Begriffe "Ausländer" oder "Nichtdeutsche". Auf die Anwendung des Ausdrucks "Gastarbeiter" auf lokaler administrativer Ebene gibt der Verwaltungsbericht der Stadt Nürnberg 1962/64 einen ersten Hinweis. In der Presse taucht das Wort bereits am 19. Juli 1950 im Artikel "Deutsch-französischer Sozialvertrag" auf. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) wertete in ihrem Beitrag vom 3. Juni 1961 "Die ausländischen Arbeitskräfte und Wir. Gastarbeiter — eine neue Bezeichnung für die Fremden" die Einführung dieses Begriffs als Verbesserung gegenüber dem vorbelasteten Terminus "Fremdarbeiter".

"Fremdarbeiter" wurden in der NS-Zeit freiwillige Zivilarbeiter aus dem Ausland in der deutschen Kriegswirtschaft ("Ausländereinsatz") genannt. Seit 1937 wurden z.B. italienische Agrar- und Industriearbeiter auf der Basis von Kurzzeitverträgen für das verbündete Deutsche Reich rekrutiert. Die wiederholt modifizierten Benennungen für Arbeitskräfte aus dem faschistischen Italien im Reichsgebiet reflektieren den Beziehungswandel beider Diktaturen: "Gastarbeitnehmer", "Arbeitskameraden", "Italienische Militärinternierte" (für die nach Italiens Bündniswechsel in Deutschland zur Zwangsarbeit eingesetzten italienischen Soldaten). Für die sowjetischen Zwangsarbeiter wählte das NS-Regime die Bezeichnung "Arbeitskräfte aus dem Osten" oder "Ostarbeiter". Die Verwendung des Begriffs "Fremdarbeiter" als Synonym für "Gastarbeiter" war in den 1960er Jahren eher die Ausnahme (z. B. Nürnberger Nachrichten, 5.6.1964). Doch auch Sozialverbände und Tarifparteien bezeichneten die Neuankömmlinge aus dem Süden noch als "Fremdarbeiter".

Etymologisch lehnte sich das Wort "Gastarbeiter" an "Gastarbeitnehmer" an. Beide Wortschöpfungen bezogen sich vorwiegend auf Italiener. Vom Austausch von "Gastarbeitnehmern" war auch in den zwischenstaatlichen "Gastarbeitnehmervereinbarungen" die Rede, welche die Bundesrepublik Anfang der 1950er Jahre schloss (1951 mit Frankreich, 1953 mit Italien). Sie sind zu unterscheiden von den später getroffenen Regierungsabkommen über die Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte. Lexikographisch erfasst 1953 Herders Konversationslexikon "Gastarbeitnehmer". Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verwendete 1954 den Terminus "ausländische Wanderarbeiter" — eine sprachliche Alternative aus dem wilhelminischen Kaiserreich und der Weimarer Republik für nicht-inländische Arbeiter.

Der Begriffswechsel in der Nachkriegszeit entstand als Abgrenzung zu den früheren, negativ besetzten Ausdrücken. Der für die sog. erste Generation der Arbeitsmigranten angewandte, freundlicher klingende Begriff subsumierte im populären Sprachgebrauch keine erwerbstätigen Ausländer aus angrenzenden Staaten, wie Österreicher, Niederländer und Franzosen, die ohne bilaterale Vertragsgrundlage in Westdeutschland arbeiteten, oder hochqualifizierte ausländische Staatsangehörige. Gemeinsamer Nenner war hier die Deutschsprachigkeit oder der höhere gesellschaftliche Status. Bei den als "Gastarbeiter" stigmatisierten Ausländern handelte es sich meist um ungelernte Arbeiter aus armen, agrarisch geprägten Regionen ohne oder mit geringen deutschen Sprachkenntnissen. Die ethnische Zugehörigkeit zu einem Land eines meist anderen Kulturkreises entschied über die Zuordnung.

Das euphemistische und widersprüchliche Kompositum "Gastarbeiter" als Begriff für die Arbeitskräfte aus den "Anwerbeländern" in den Wirtschaftswunderjahren weckt die Vorstellung eines Provisoriums. Es beinhaltet die Botschaft, dass "Gast" nur ist, wer nicht dauerhaft bleibt und die Erwartung, er möge wieder gehen. Verwies der erste Wortteil auf das Konzept eines temporären Aufenthalts der ausländischen Arbeitnehmer, auf den die Rückkehr in das jeweilige Herkunftsland folgen sollte (zum sog. Rotationsprinzip s. u.), so beschränkt die zweite Wortkomponente die Zugewanderten auf ihre wirtschaftliche Funktion, nämlich die Leistung von manuell zu verrichtender Arbeit, die daraus resultierende Legitimation, im Gastland zu leben.

Als die Unzulänglichkeit des paradoxen Schlagworts immer mehr in die Kritik geriet, reagierte die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 1966 mit der Herausgabe der Schrift "Fremde, Gäste, Freunde — Gastarbeiter in Deutschland". Im Bereich der schulischen Bildung folgten 1971 Unterrichtsmaterialien zum "Gastarbeiterproblem". Auf der Suche nach einem angemesseneren Wort für die ausländischen Arbeitskräfte veranstaltete der Westdeutsche Rundfunk (WDR) 1970 ein Preisausschreiben. Trotz der großen Resonanz der Initiative resümierte die Jury, keine überzeugende, wertfreie und unbelastete Variante für einen neuen Ausdruck gefunden zu haben. Eine große Mehrheit bewertete "ausländische Arbeitnehmer" unter den damals gebräuchlichen Bezeichnungen als am wenigsten missverständlich, auf Platz zwei und drei kamen "ausländische" bzw. "europäische Mitbürger". "Besuchstätige, Dankarbeiter, Deutschenhelfer, Förderanten, Hilfsdeutsche, Industrieeuropäer, Konjunkturisten, Leiharbeiter, Mitdeutsche, Mietarbeiter, Auslandsroboter, Devisenboy" waren weitere vorgeschlagene Wortalternativen. Auf Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit in der deutschen Bevölkerung verweisen diskriminierende Sprachschöpfungen wie "Helferos", "Mulis" oder "Kameltreiber".

Anfang der 1970er Jahre zeichnete sich ab, dass das ursprüngliche Konzept, ausländische Arbeitskräfte aus rein ökonomischen Motiven nur für eine kurze Zeit in Westdeutschland zu beschäftigen, gescheitert war. Denn immer mehr "Gastarbeiter" richteten sich auf einen längeren Aufenthalt ein und ließen Familienangehörige nachkommen. Diese Situation führte zu vielfältigen Problemen, da die Bundesrepublik keine Integration ausländischer Arbeitnehmer vorgesehen hatte. In dem Maße, in dem aus den "Gastarbeitern" de facto Einwanderer wurden, verlor der Begriff seine Grundlage und verschwand mit den ersten Integrationsmaßnahmen.

Anwerbung, Herkunft, Beschäftigungsbereiche

Ankunft türkischer Arbeiter am Münchner Hauptbahnhof im Jahr 1964. Die Arbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien wurden von München aus zu ihren Bestimmungsorten im gesamten Bundesgebiet weitergeschickt. Foto von Felicitas Timpe (1923-2006). (bavarikon) (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv, timp-016747)

Die "Gastarbeiterperiode" umfasst die Jahre 1955 bis 1973, vom ersten "Anwerbeabkommen" der Bundesrepublik bis zum sog. Anwerbestopp in der Weltwirtschaftskrise. Während die ökonomische Aufwärtsentwicklung im agrarisch geprägten Nachkriegsbayern aufgrund überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit und unterdurchschnittlicher Wertschöpfung mit einer gewissen Verzögerung einsetzte, machte sich in den anderen Ländern der Bundesrepublik in der Landwirtschaft und im Bergbau schnell ein Arbeitskräftedefizit bemerkbar. Mit der Auswanderung vieler Deutscher nach dem Krieg sanken die Arbeitslosenzahlen bei steigender Industrieproduktion. Eine weitere Erschöpfung des einheimischen Arbeitskräfteangebots (1,07 Mio. Arbeitslose im Jahre 1955) erwartete die Regierung mit der geplanten Wehrpflicht. Gegen die amtlich organisierte Anwerbung von Ausländern für den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik sprach sich der DGB 1954 aus Rücksicht auf "Empfindlichkeiten" der deutschen Arbeitnehmer aus. Erst später erkannten die Gewerkschaften die Migranten als Klientel an. In den ersten Jahren wurden nur wenige Arbeiter nach Westdeutschland vermittelt. Erst als 1960 die Vollbeschäftigung erreicht wurde (Arbeitslosigkeit unter einem Prozent), der Zustrom von Vertriebenen und Flüchtlingen aus Osteuropa und der DDR sowie die Binnenwanderung die Nachfrage der boomenden Industrie nicht mehr ausgleichen konnten und schließlich der Mauerbau (1961) die ostdeutsche Zuwanderung — eine wichtige Rekrutierungsquelle für neue Arbeitskräfte — beendete, stiegen die Anwerbungen steil an.

Zum Abschluss von "Anwerbeverträgen" drängten auch die "Entsendeländer", die ein Interesse am Lohngeldtransfer zugunsten ihrer Zahlungsbilanz hatten. In zahlreichen Mittelmeerstaaten wuchs die Erwartung, den eigenen Arbeitsmarkt durch den kontrollierten "Export" von nicht oder gering qualifizierten Arbeitslosen zu entlasten. Auch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (1897–1977, Bundeswirtschaftsminister 1949–1963) befürchtete Exportbeschränkungen. Das erste Abkommen, das Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte regelte, schloss die Bundesregierung 1955 auf Initiative des traditionellen Emigrationslandes Italien. Entsprechende bilaterale Verträge folgten mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968).

Tab. 1: Ausländer in den Ländern der Bundesrepublik
Land 6.6.1961 30.9.1970 30.9.1976
in Tsd. in % aller Ausl. in Tsd. in % aller Ausl. in Tsd. in % aller Ausl.
Nordrhein-Westfalen 204,8 29,8 825,9 27,7 1.204,8 30,5
Baden-Württemberg 167,5 24,4 724,3 24,3 831,9 21,1
Bayern 110,9 16,2 497,8 16,7 641,8 16,3
Hessen 60,7 8,8 329,7 11,1 431,3 10,9
Bundesgebiet 686,2 100 2976,5 100 3948,3 100

Auszug Tab. 27 in: Bethlehem, Heimatvertreibung, 121; Die Ausländer im Bundesgebiet (1964), 646; Ausländer im Bundesgebiet am 30. September 1974 (1974), 767, am 30. September 1976 (1976), 724.

Zielgebiete der "Gastarbeiter" in Deutschland

Der türkischstämmige Ismail Bahadir (2. von links) wurde am 27. November 1969 vom Blitzlichtgewitter der Presse und vom Präsidenten der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl (2. von rechts), als "millionster Gastarbeiter aus Südosteuropa" am Gleis 11 empfangen. Als Begrüßungsgeschenk erhielt er einen Fernseher. (Stadtarchiv München, RD0667D04)

Die Ziele der "Gastarbeiter" waren die westdeutschen Industriegebiete wie Stuttgart (Baden-Württemberg), Köln (Nordrhein-Westfalen), München, Wolfsburg (Niedersachsen) und das Ruhrgebiet (Nordrhein-Westfalen). Mit der Organisation der Einreise aller süd- und südosteuropäischen Arbeitskräfte in die Bundesrepublik und ihrer Verteilung war die "Weiterleitungsstelle des Landesarbeitsamts Südbayern" beauftragt, die ihren Sitz am Münchner Hauptbahnhof hatte. Hier kamen an Gleis 11 die Züge der "Gastarbeiter" an. Nordrhein-Westfalen wies die absolut höchste Zahl an Ausländern aus, gefolgt von Baden-Württemberg und Bayern (Tab. 1). 1961 entfiel allein die Hälfte aller Ausländer in Westdeutschland auf die Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Die Zuwanderung nach Bayern nahm zu, als das Wirtschaftswachstum seit den 1970er Jahren deutlich über dem Durchschnitt der anderen Länder lag: 1970 lebten nahezu die Hälfte und 1976 über zwei Drittel aller Ausländer in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern.

Tab. 2: Zahl der an der Weiterleitungsstelle am Hauptbahnhof München registrierten Gastarbeiter
Italien Griechenland Türkei Jugoslawien Gesamt
1960 93.250 9.500 102.750
1961 107.100 21.500 2.100 130.700
1962 76.690 31.930 11.040 119.660
1963 31.830 40.600 23.430 95.860
1964 26.570 40.620 54.910 122.100
1965 26.550 33.240 45.560 105.350
1966 13.405 26.876 32.538 72.819
1967 3.978 1.948 7.222 13.148
1968 10.416 24.254 41.496 76.166
1969 10.215 51.253 98.172 71.690 231.310
1970 7.405 49.792 95.660 106.462 259.319

Bundesanstalt für Arbeit (Hg.), Repräsentativuntersuchung 1972, Nürnberg 1973.

Herkunft der "Gastarbeiter"

Der griechische Botschafter Alexis Kyrou (1901-1969) und Handelsattaché Gerassimos Papavassiliou besuchen 1964 griechische Gastarbeiter am Motorradendmontageband von BMW. (BMW Group Archiv, Foto von Karl Attenberger)

Den Arbeitskräftemangel glichen an erster Stelle die angeworbenen Italiener aus, die im Unterschied zu den norditalienischen Saisonarbeitern zu Zeiten des Kaiserreichs mehrheitlich aus dem strukturschwachen "Mezzogiorno" (v. a. Kampanien, Kalabrien, Sizilien) stammten. Bis 1970 die größte Gruppe unter den ausländischen Arbeitnehmern, prägten sie das Bild der "Gastarbeiter" nachhaltig und werden in diesem Beitrag stärker berücksichtigt. Auch in Bayern bildeten die Italiener noch 1969 die stärkste Ausländergruppierung, gefolgt von Türken, Jugoslawen, Österreichern und Griechen (Tab. 3). Ebenso wie in Westdeutschland sank der Anteil der Italiener, Griechen und Spanier, während aufgrund der Abkommen von 1968 bzw. 1961 die Quote der Jugoslawen und vor allem der Türken anstieg. Bundesweit wuchs die ausländische Erwerbsbevölkerung sprunghaft von 279.390 (1960) auf 2,284 Mio. (1972) an, davon in Bayern von 36.979 (Juli 1960) auf 371.253 (1972).

Tab. 3: Ausländische Wohnbevölkerung und Erwerbstätige in Bayern
1960 1970
Wohn-
bevölkerung
zum 31.3.
Erwerbstätige zum 30.9. Wohn-
bevölkerung
zum 30.9.
Erwerbstätige zum 30.6.
davon männlich davon männlich
Italien 10.511* 14.309 13.347 79.173 48.713 38.342
Österreich 23.587 12.978 7.937 57.926 39.399 27.526
Griechenland 3.514 1.772 1.520 63.484 42.418 23.477
Jugoslawien 7.241 899 666 99.014 67.555 44.973
Türkei 1.795 307 275 83.872 58.016 41.802
Andere 84.254 6.714 4.982 114.308 36.776 24.169
Gesamt 130.902 36.979 28.727 497.777 292.877 200.289

Eigene Berechnungen nach: Statistisches Jahrbuch für Bayern 1961, 27. Jg., 18: Ausländer nach ihrer Staatsangehörigkeit (Ergebnis der halbjährigen Ausländererhebung bei den Einwohnermeldeämtern); Statistisches Jahrbuch für Bayern 1972, 30. Jg., 26: Ausländer seit 1969 nach der Staatsangehörigkeit (Ergebnisse der Meldungen der Ausländerbehörde), 134: Beschäftigte ausländische Arbeitnehmer nach Staatsangehörigkeit. *: Der vermeintliche Widerspruch zwischen Wohnbevölkerung und Erwerbstätigen erklärt sich aus den unterschiedlichen Erhebungen zum 31.3. bzw. 30.9.

Branchen, in denen "Gastarbeiter" beschäftigt wurden

Der rasante Aufschwung der jungen Bundesrepublik nach 1945 wäre in den 1960er Jahren ohne die zahlreichen Gastarbeiter kaum möglich gewesen. Gastarbeiter fanden sich insbesondere im produzierenden und im Baugewerbe. Vielfach übernahmen sie Tätigkeiten, die von Deutschen nicht mehr gemacht werden wollten. Das Bild zeigt Bauarbeiten in der Münchner Kaufingerstraße zwischen Fürstenfelder Straße und Liebfrauenstraße. Aufnahme von 1969. (Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NL-GRO-357-093)

In Bayern arbeiteten die italienischen Migranten vor allem im Hoch- und Tiefbau — z. B. auf den Münchner Großbaustellen für die Errichtung von U- und S-Bahn sowie den Bau des Olympiageländes — und im Fahrzeug- und Maschinenbau. Von insgesamt 21.522 erwerbstätigen Italienern (1961) gingen 19.502 als Arbeiter einer Beschäftigung nach, der Rest verteilte sich auf Angestellte (942), Selbständige (823) und Lehrlinge (231). Vor allem nach München nahm die italienische Zuwanderung stark zu: Von 1960 bis 1961 stieg die Zahl der gemeldeten italienischen Staatsbürger von 5.319 auf 9.789 Einwohner. 1963 waren bereits 20.471 Italiener beiderlei Geschlechts registriert und verzeichneten mit 18,3 % den höchsten Ausländeranteil in der bayerischen Landeshauptstadt. Ende 1972 befanden sich unter den inzwischen 25.906 amtlich registrierten Italienern nur 4677 Frauen. Im Stadt- und Landkreis München erfasste die Statistik im September 1961 10.075 Beschäftigte aus Italien. Zwei Jahre später erreichte ihr Anteil an den ausländischen Beschäftigten mit 13.332 Erwerbstätigen 33,6 % (Statistik Arbeitsamt München). Unter den Wirtschaftszweigen rangierten an erster Stelle der Hoch- und Tiefbau (6.613), gefolgt vom Fahrzeugbau (1.643), von der Gewinnung und Verarbeitung von Steinen und Erden (611), vom Handel und Handelshilfsgewerbe (563) sowie vom Gaststättenwesen (451). 1972 verteilten sich die italienischen Arbeitnehmer vor allem auf die Branchen Hoch- und Tiefbau (6.551), Handel und Handelshilfsgewerbe (1.635), Gaststättenwesen (1.610), Fahrzeugbau (1.579) und Elektrotechnik (1.202). Damit rückte die Gastronomie innerhalb von neun Jahren in der Beschäftigung von fünfter Stelle auf Platz drei, was nicht zuletzt dem Tourismusboom seit Anfang der 1960er Jahre geschuldet ist, der die mediterrane Küche bekannt machte.

Qualifikation

Sprache blieb zumindest anfänglich ein großes Problem, so dass erstmals mehrsprachige Hinweisschilder Eingang in den Behördenalltag fanden. Türschild des Münchner Arbeitsamtes, April 1963. (Stadtarchiv München, RD0667A10)

Häufig nahmen die "Gastarbeiter" die untersten Ränge in der Beschäftigungshierarchie der westdeutschen Aufnahmegesellschaft ein (Müllabfuhr, Straßenreinigung). Wie schon im Kaiserreich kam es zu einer sozialen und beruflichen Unterschichtung der deutschen durch die ausländische Erwerbsbevölkerung, die auch den Vertriebenen und Flüchtlingen zugute kam. Die "Gastarbeiter" waren vorrangig in Bereichen beschäftigt, die ihnen schwere körperliche Arbeit abverlangte, verbunden mit Akkord- und Schichtarbeit sowie gesundheitlichen Risiken. Beim Auftakt der Anwerbung (1955) fragte die Wirtschaft überwiegend kein beruflich qualifiziertes Personal nach, der Schwerpunkt lag auf un- bzw. angelernten Tätigkeiten vorwiegend im Niedrigsegment der industriellen Produktion. Erst später rekrutierten die Außenstellen der Bundesanstalt für Arbeit (die sog. Deutsche Kommission), die in den jeweiligen Heimatländern in Absprache mit deutschen Unternehmen Anwerbung und Vermittlung übernahmen, Facharbeiter. Berufsausbildungsabschlüsse wurden häufig nicht anerkannt, da sie nicht den deutschen Parametern entsprachen. Die Nürnberger Nachrichten schrieben im Artikel "In fremdem Land. Gast ohne echtes Gastrecht" (NN, 16./17.5.1970): "Es gibt wenig Ansätze, aus denen erkennbar wird, dass Gastarbeiter als mehr denn relativ billige Arbeitsmaschinen betrachtet werden." In diesem Jahr erfasste die Bundesanstalt für Arbeit in ihrer Statistik nicht einmal ein Prozent "Gastarbeiter" im Angestelltenverhältnis. Bezeichnenderweise fehlt somit der Begriff "Gastangestellter".

Rotation und "Anwerbestopp"

Die Anwerbung war ursprünglich vom Grundsatz der "Rotation" geleitet, ein erst in den 1970er Jahren auftauchender analytischer Terminus für die Einjahresverträge. Die wegen ihrer Mobilität gefragten jungen und alleinstehenden Arbeiter – zunächst kamen wenig weibliche Arbeitnehmer – sollten sich nur befristet in der Bundesrepublik aufhalten. Auch die ausländischen Arbeitnehmer hatten nicht vor, sich dauerhaft eine neue Heimat zu suchen. Ihre anhaltend hohe freiwillige Rückwanderung in die Herkunftsländer schien das "Rotationsprinzip" als zentrales Element der "Gastarbeit" zu bestätigen.

Doch wurde es nicht konsequent angewendet, da eingearbeitetes Stammpersonal für Industriebetriebe unverzichtbar ist. Ein häufiger Wechsel war mit betriebswirtschaftlich teuren Einarbeitungszeiten neuer fremdsprachiger Arbeitskräfte verbunden. Die Arbeitgeber waren angesichts des anhaltend starken Wirtschaftswachstums an längeren Arbeitsaufenthalten interessiert und beantragten meistens die Verlängerung der Arbeitsgenehmigung ihrer bewährten ausländischen Mitarbeiter, die fast immer erteilt wurde. Als die Firmen auf Empfehlung ihrer ausländischen Belegschaft Verwandte beim Arbeitsamt anforderten, führte die damit einsetzende Kettenmigration zur allmählichen Emigration nahezu ganzer süditalienischer Dörfer in deutsche Industriestädte.

Konjunkturpuffer

Die Arbeitsämter konnten Dauer und Umfang der Ausländerbeschäftigung flexibel lenken. Solange die deutsche Industrie nicht in der Lage war, ausreichend Arbeitskräfte über den einheimischen Arbeitsmarkt zu rekrutieren, sollten die angeworbenen Ausländer als mobile Arbeitskraftreserve eingesetzt werden. Dieses fluktuierende Arbeitskräftepotenzial balancierte vorübergehend saisonal oder konjunkturell bedingte Engpässe auf dem Arbeitsmarkt. Im Wechsel von Aufschwung und Krise übernahmen sie am Arbeitsmarkt Ersatz- und Erweiterungs- bzw. Pufferfunktionen. Der bereits aus dem Kaiserreich bekannte "Konjunkturpuffer" Ausländerbeschäftigung bestätigte sich bereits bei der ersten Rezession 1966/67. Bundesweit ging ihre Beschäftigung von 1,3 Mio. (1966) auf 0,9 Mio. (Jan. 1968) zurück. Besonders prägnant waren die Auswirkungen im stark konjunkturabhängigen Baugewerbe. In Bayern traf die Rezession vor allem die italienischen Bauarbeiter.

Anwerbestopp

Als die Ölpreiskrise eine Wachstumsstagnation auslöste, beschloss die Bundesregierung im November 1973 einen "Anwerbestopp" in den Herkunftsländern der ausländischen Arbeitnehmer, um den Arbeitsmarkt zu entlasten. Aufgrund eines allmählichen informellen Austauschs mit Ländern paralleler industrieller Entwicklung und analoger Arbeitnehmerrekrutierung (Schweiz, Frankreich) über die Folgen einer dauerhaften Niederlassung dieser Arbeitnehmer mit ihren Familien war die seit längerem vorbereitete Maßnahme nicht nur von wirtschaftlichen Erwägungen motiviert, sondern auch von der administrativen Erkenntnis eines sozial- und rechtspolitischen Handlungsbedarfs über den Umgang mit Einwanderung und neuen Migranten. Der Anwerbestopp betraf Arbeiter aus den Staaten außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). "Gastarbeiter" galten nun als Arbeitsplatzkonkurrenten. Die Bundesanstalt für Arbeit ordnete an, neue Arbeitserlaubnisse nur nach strenger Prüfung des Inländerprimats zu erteilen. Trotz der Auflage, bestehende Arbeitsverhältnisse nicht zu verlängern, beließen die Arbeitsämter in der Praxis den Unternehmen jedoch ihre eingearbeitete Belegschaft.

Aufenthaltsrecht, Rückkehr, Einwanderung

Tatsächlich beschleunigte der gestoppte Zuzug ausländischer Arbeitskräfte eine nicht intendierte Entwicklung: Die Maßnahme verstärkte die wachsende Tendenz zur Verlagerung des Lebensmittelpunkts von den Herkunftsländern in die Bundesrepublik. Dadurch entstand seit Mitte der 1970er Jahre mit fließenden Übergängen eine Einwanderungssituation. Da mit dem "Anwerbestopp" einige der bisherigen Freiheiten der Arbeitsmigranten am Arbeitsmarkt entfielen, konnte eine freiwillige Rückkehr auf Zeit in einen Staat außerhalb der EWG wie z.B. Griechenland den Verlust der erworbenen Aufenthalts- und Arbeitsrechte bedeuten. Die "Gastarbeiterbevölkerung", die nicht auf Dauer von ihren Familien in der Heimat getrennt leben wollte, stand vor der Alternative einer endgültigen Rückkehr in eine häufig wirtschaftlich und teilweise politisch unsichere Zukunft oder dem Familiennachzug in die Bundesrepublik.

Vor allem für Angehörige der Mitgliedsstaaten der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC; ab 1961 OECD) und der EWG hatte sich der aufenthaltsrechtliche Status verbessert. Bereits ab 1966 reisten über 90 % der italienischen Arbeitnehmer als privilegierte Bürger des EWG-Gründerstaates auf dem "zweiten Weg" in die Bundesrepublik ein. Unter den angeworbenen Ausländern sank ihr Anteil auf unter sechs Prozent. Die Verordnung des EWG-Rats vom 15. Oktober 1968 gewährte den Arbeitnehmern innerhalb der Gemeinschaft Freizügigkeit. Nach dem "Anwerbestopp" verstärkten die weiterhin geltenden EWG-Bestimmungen den rechtlichen Unterschied zwischen den EWG-Ausländern und den anderen Ausländern.

Da die EWG-Migranten ein Aufenthaltsrecht erhielten, war der staatliche Einfluss und Handlungsspielraum auf den Verlauf des Migrationsprozesses limitiert. Die Regierung hatte sich auf ein Provisorium eingerichtet, langfristige Konzepte einer "Gastarbeiter-Politik" unter Einbeziehung der sozialen Folgen längerer Arbeitsaufenthalte gab es weder in den 1950er noch in den 1960er Jahren. Bereits 1964 kritisierte der Direktor des Arbeitsamtsbezirks Südbayern, Valentin Siebrecht (1957-1972), auch öffentlich die Konzeptionslosigkeit der Ausländerbeschäftigungspolitik der Bundesregierung: "Man muß auf lange Sicht disponieren, die Probleme der Ausländerarbeit in dem größeren Rahmen unserer gesellschaftlichen Entwicklung sehen". Da ein Großteil der Migranten zurückkehrte, wie das Beispiel der italienischen "Gastarbeiter" zeigt (Tab. 4), ist der Vorwurf, die Regierung hätte sich viel früher auf die dauerhafte Integration der Ausländer einstellen müssen, nicht berechtigt: Von rund 14 Mio. angeworbenen ausländischen Arbeitskräften, die bis 1973 kamen, kehrten 12 Mio. wieder in ihre Heimatländer zurück und beabsichtigten keine Integration. Dennoch ist festzustellen, dass gerade die Beendigung der Anwerbungen dazu führte, dass "Gastarbeiter" in Deutschland blieben, um nach einer temporären Rückkehr in die Heimat nicht das Anrecht auf eine Weiterbeschäftigung am bundesdeutschen Arbeitsmarkt zu verwirken.

Tab. 4: Italienische Auswanderer in die Bundesrepublik und Rückkehrer 1958-1975
Jahr Auswanderer Rückkehrer Rückkehrer
pro 100
Auswanderer
1958 10.551 6.145 58.2
1959 28.394 15.295 53,9
1960 100.544 34.088 33,9
1961 114.012 48.016 42,1
1962 117.427 69.600 59,3
1963 81.261 73.266 90,2
1964 75.210 58.899 78,3
1965 90.853 69.485 76,5
1966 78.343 78.885 100,7
1967 47.178 56.876 120,6
1968 51.152 43.402 84,8
1969 47.563 40.462 85,1
1970 42.849 36.755 85,8
1971 54.141 36.241 66,9
1972 43.891 41.331 94,2
1973 41.386 37.751 91,2
1974 33.485 36.809 100,6
1975 28.233 36.789 130,3

Zahlen im Jahressaldo (nach ISTAT). Unberücksichtigt sind Italiener, die binnen Jahresfrist zurückkehrten (hoher Anteil). Auszug aus Tab. 5 in: Rieker, Ein Stück Heimat, 106.

Da die Arbeitswanderer mit der Zeit arbeits- und aufenthaltsrechtliche Ansprüche erworben hatten, entglitt dem Staat immer mehr die Steuerung ihrer Beschäftigung. Bereits 1959 hatte die neunte Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung festgelegt, dass ausländische Arbeitnehmer nach fünf Jahren ununterbrochener, unselbständiger und erlaubter Tätigkeit im Bundesgebiet oder nach einem achtjährigen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt einen Rechtsanspruch auf eine beruflich oder betrieblich uneingeschränkte Arbeitserlaubnis erlangten. Nach einem zehnjährigen rechtmäßigen ununterbrochenen Aufenthalt in Westdeutschland konnte eine unbefristete Arbeitserlaubnis erteilt werden.

Über die "Deutsche Kommission" angeworbene "Gastarbeiter" waren bereits vor ihrer Auswanderung im Besitz eines Arbeitsvertrags und konnten damit zum Teil soziale Rechte beanspruchen. Integrationsprobleme entstanden bereits mit dem Plan, Arbeitskräfte befristet nach Bedarf ein- oder auszuwechseln, ohne für ihre Ausbildungskosten und Renten aufkommen zu müssen, und schließlich mit dem Nachzug von Kindern und Ehefrauen. Da zunächst vor allem Saisonarbeiter einreisten, trafen die Verantwortlichen für sprachliche und soziale Integrationsmaßnahmen keine Vorkehrungen.

Die meisten Gastarbeiter wohnten während ihres Aufenthalts in Gemeinschaftsunterkünften, in denen kaum Privatsphäre möglich war. Nur so konnten sie den Großteil ihres Verdienstes in die Heimat schicken. Foto: Juli 1963. (Stadtarchiv München, RD0667A29)
Viele Gastarbeiter waren unter einfachsten Verhältnissen in Mehrbettzimmern in Wohnheimen untergebracht. Hier pflegten sie weitestgehend Kontakte innerhalb des eigenen Kulturkreises. Foto Juli 1963. (Stadtarchiv München, RD0667A14)

Dem System der "Gastarbeit" entsprach vorerst auch die Lebensplanung der Zuwanderer. So spielte in der "Gastarbeiterära" der Geldtransfer in die Herkunftsstaaten eine zentrale Rolle. Im von Arbeit und Konsumverzicht bestimmten Alltag sparten viele "Gastarbeiter" beiderlei Geschlechts eisern bis zu zwei Drittel ihres Einkommens für die Überweisung in ihre Heimat. Die Summen waren zum Teil beträchtlich: So glich die Türkei 1972 ihr Handelsbilanzdefizit mit der Bundesrepublik durch die Überweisung von 2,1 Mrd. DM durch türkische "Gastarbeiter" aus. Das Leben zwischen Arbeitsstätte und Wohnheim war zunächst ganz auf die Rückkehr ausgerichtet. Einfache Gemeinschaftsunterkünfte in firmeneigenen Baracken oder in 4- bis 6-Bett-Zimmern in Wohnheimen waren häufig das erste "Zuhause" der angeworbenen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik. Sie waren in der Regel isoliert von den Einheimischen untergebracht. Auch der Wohnungsbereich zeigt neben dem Erwerbsbereich ein Nachrücken der "Gastarbeiter", die bis in die 1960er Jahre mitunter in Wohnbaracken einzogen, die zuvor deutsche Vertriebene und Flüchtlinge bewohnt hatten, und die in Einzelfällen im Krieg auch als Fremd-oder Zwangsarbeiterlager fungiert hatten.

Die "Entsendeländer", die den Lohntransfer zum Ausgleich des Handelsbilanzdefizits mit Westdeutschland benötigten, förderten zwar die Rückkehrorientierung der Emigranten, doch weder ihre tatsächliche Heimkehr noch ihre Integration. Auch weil sich die ökonomische Situation in den Herkunftsregionen kaum änderte – zunächst verringerten die europäische Integration (Griechenland, Spanien und Portugal traten erst 1981 bzw. 1986 der EWG bei) und die Migrationsströme das Wohlstandsgefälle nur gering –, blieben viele Arbeiter länger als geplant und gaben ihren Lohn immer mehr für den alltäglichen Konsum, Bausparverträge und Immobilien aus. Sparquoten und Geldüberweisungen in die Heimat sanken. Die "Gastarbeiter" verstärkten das deutsche Wirtschaftswachstum nun auch von der Kaufkraftseite her und manchem gelang nach mehreren Arbeitsjahren in Westdeutschland der Erwerb eines Geschäfts oder eines Grundstücks in der Heimat und der Aufbau einer geachteten Existenz für sich und seine Familie. War die Familie ein wichtiger Rückkehrgrund, so wurden nachgezogene oder in der Bundesrepublik geborene Familienmitglieder oder eine Familiengründung ein wichtiger Bleibegrund. Der Zuzug nicht-erwerbstätiger Angehöriger senkte die Erwerbsquote der Einwandererbevölkerung. Arbeitsplatzverluste durch Wirtschaftskrisen oder betriebliche Strukturreformen steigerten die Erwerbslosenquote und die Transferabhängigkeit insbesondere bei Un- und Angelernten. Mitte der 1970er Jahre nahm die Arbeitslosigkeit unter der zugewanderten Bevölkerung zu: z. B. sank die Zahl einheimischer Bauarbeiter von 1973 bis 1976 um 15 %, die der ausländischen um 41 %.

Somit leitete der "Anwerbestopp", die wichtigste ausländerpolitische Maßnahme der 1970er Jahre, die zweite Phase des Zuwanderungsprozesses ein, die durch die Familienzusammenführung, den Ausbau von Selbstorganisationen und den Aufbau von Kleingewerbetrieben, besonders in Gastronomie und Handel, charakterisiert ist. Immer mehr Angehörige der Nachkommen der "Gastarbeiter" gaben ihre Staatsangehörigkeit auf und erwarben die deutsche Staatsbürgerschaft, wobei italienischstämmige Immigranten diese aufgrund der umfassenden rechtlichen Gleichstellung als Unionsbürger mit der deutschen Bevölkerung eher selten beantragten. Das überwiegend negative Image vom geduldeten und beargwöhnten "Gastarbeiter" wandelte sich zu positiveren Klischees in der Aufnahmegesellschaft. Tourismuserfahrungen vieler Westdeutscher in den Mittelmeerländern begünstigten die gesellschaftliche Integration der fremden Arbeitswanderer aus dem Süden. Doch haftete das Stigma "Gastarbeiter" noch lange selbst denen an, die in wachsender Zahl zu Facharbeitern und Kleinunternehmern im "Ethnic business" aufstiegen. Aus der ehemaligen "Gastarbeiterbevölkerung" wurden nach einem weiten und harten Integrationsweg "einheimische Ausländer" (Bade) in einem Staat, der sich lange nicht zu einem Einwanderungsland bekannte. Inzwischen lebt "die Generation der Pionierwanderer" längst im Rentenalter.

Literatur

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Quellen

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Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Maximiliane Rieder, Gastarbeiter, publiziert am 26.06.2019; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Gastarbeiter> (28.03.2024)