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Abraxas-Skandal: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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[[Datei:Abraxas Plakat.jpg|thumb|Plakat zur Uraufführung von Werner Egks Ballett "Abraxas" am 6. Juni 1948 im Münchner Prinzregententheater. (Bayerische Theaterakademie August Everding im Residenztheater)]]
[[Datei:Abraxas Plakat.jpg|thumb|Plakat zur Uraufführung von Werner Egks Ballett "Abraxas" am 6. Juni 1948 im Münchner Prinzregententheater. (Bayerische Theaterakademie August Everding im Residenztheater)]]
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Nie zuvor wurde der Vorhang in der Bayerischen Staatsoper häufiger hochgezogen. Das von Heinrich Heines (1797-1856) "Der Doktor Faust" (1846) inspirierte Ballett "Abraxas" von Werner Egk (geb. Werner Mayer, 1901-1983) war so umstritten wie erfolgreich. Während das Publikum die Aufführungen feierte, erregte es insbesondere in kirchlichen Kreisen großen Unmut und wurde sogar zum Gegenstand heftiger Debatten im Bayerischen Landtag. Kultusminister Alois Hundhammer (CSU, 1900-1974, Staatsminister für Unterricht und Kultus 1946-1950) verbot nicht nur den Verkauf des Anstoß erregenden Librettos, er ließ das Stück gleich ganz absetzen. Die Debatten, die daraufhin nicht nur in Landtag und Presse entbrannten, drehten sich v. a. um die nun wieder als bedroht angesehene Freiheit der Kunst. Sowohl das Vorgehen des Staates als auch das Ballett an sich wurden von der jeweils anderen Seite als Skandal wahrgenommen. Der "Abraxas-Skandal" spiegelt damit wenige Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur das Spannungsverhältnis von konservativ-kirchlichen und liberalen Kreisen sowie die Gratwanderung des Staates bei Einmischung in künstlerische und publizistische Freiheit wider.
Am 6. Juni 1948 wurde im Münchner Prinzregententheater das Ballett 'Abraxas' von Werner Egk (geb. Werner Mayer, 1901-1983) uraufgeführt. Es war ein großer Publikumserfolg, wurde aber nach der Sommerpause nicht mehr aufgeführt, da Kultusminister Alois Hundhammer (CSU, 1900-1974) Vorbehalte gegen als unsittliche erachtete Elemente des Stücks hatte. Die Anfang 1949 in Medien und Landtag einsetzenden Debatten um Abraxas drehten sich um grundsätzliche Fragen der Freiheit der Kunst und staatlicher Zensur.


[[Datei:Werner Egk München (Lochham).jpg|thumb|Werner Egk in seinem Wohnhaus in [[Ort:ODB_S00014973|Lochham]]{{#set:OID=ODB_S00014973}} bei München. (Fotografie um 1952, Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv [https://bildarchiv.bsb-muenchen.de/search?id=timp-007055 timp-007055])]]
== Faustballett "Abraxas" ==
 
== Zu Werner Egks Ballett "Abraxas" ==


=== Inhalt ===
=== Inhalt ===
Inhaltlich orientiert sich [[Person:118529129|Werner Egk]]{{#set:PND=118529129}} (geb. Werner Mayer, 1901-1983) vollständig an der Vorlage [[Person:118548018|Heinrich Heines]]{{#set:PND=118548018}} (1797-1856). Sein Ballett ist ebenfalls in fünf Bilder unterteilt:
Das Faustballett ‚Abraxas‘ wurde 1946 von [[Person:118529129|Werner Egk]]{{#set:PND=118529129}} (geb. Werner Mayer, 1901-1983) abgefasst, einem zentralen Akteur der westdeutschen Musiklandschaft der Nachkriegszeit. Die Choreographie hatte der Ballettdirektor der Bayerischen Staatsoper [[Person:124202489|Marcel Luipart]]{{#set:PND=124202489}} (geb. Marcel Fenchel, 1912-1989) entwickelt. Das Stück basiert weitgehend auf dem hundert Jahre zuvor entstandenen Tanzpoem "Der Doktor Faust" von [[Person:118548018|Heinrich Heines]]{{#set:PND=118548018}} (1797-1856) und setzt sich wie dieses aus fünf Bildern zusammen.


==== 1. Bild: Mitternacht ====
In diesen wird die Geschichte von Faust geschildert, der mit der von ihm beschworenen Bellastriga (ein weiblicher Mephisto) einen ihn verjüngenden Teufelspakt schließt, wodurch er der Teufelsbuhle Archisposa nachstellen kann (1. Bild: Der Pakt). Im weiteren Verlauf des Balletts gelangen Faust und seine teuflischen Gefährtinnen an den Hof König Karls IV. von Spanien (2. Bild: Die Verstrickung), auf einen Hexensabbat, auf dem in einer Schwarzen Messe Satan gehuldigt wird (3. Bild: Pandämonium), ins antike Troja, wo es zu einer kurzweiligen Zusammenkunft mit der schönen Helena kommt (4. Bild: Das Trugbild) und schließlich auf ein mittelalterliches Volksfest (5. Bild: Die Begleichung). Dort verliebt sich Faust in die tugendhafte Margarete und widerruft den Teufelspakt, wodurch er sein ursprüngliches Alter zurückerhält. Das Stück endet damit, dass Faust und Margarete von der durch Archisposa und Bellastriga aufgepeitschten Volksfestmenge zu Tode getrampelt werden.
Faust nimmt eine Teufelsbeschwörung vor, während der sich unter Blitz und Donner die Erde öffnet und Mephistophela erscheint. Nach anfänglichem Zögern lässt sich Faust willig das Tanzen lehren. Faust wird zu einem Pakt mit dem Teufel verleitet (Trugbild): Er tauscht die himmlische Glückseligkeit gegen irdische Freuden ein. Ein Teufelsballett feiert den Pakt.


==== 2. Bild: Fürstenhof mit Herzog und Herzogin ====
=== Uraufführung ===
In der Herzogin erkennt Faust das Trugbild, das ihn zum Teufelspakt verleitet hat. Während Faust mit der Herzogin innig tanzt, wird der Herzog von Mephistophela abgelenkt. Faust erkennt am Hals der Herzogin ein Teufelsmal, das sie als Zauberin auszeichnet. Es kommt zu einer Einladung zum Hexensabbat. Nachdem der Herzog den innigen Flirt Fausts mit der Herzogin erkannt hat, müssen Faust und Mephistophela fliehen.
Der Intendant der Bayerischen Staatsoper, [[Person:116497610|Georg Hartmann]]{{#set:PND=116497610}} (1891-1972), konnte Anfang 1948 Egk dafür gewinnen, ‚Abraxas‘  in [[Ort:ODB_S00008915|München]]{{#set:OID=ODB_S00008915}} anstatt in Stuttgart uraufzuführen. Die Premiere fand am 6. Juni 1948 im Prinzregententheater (erste Uraufführung seit 1940) in hochrangiger Besetzung (die französische Ballerina [[Person:1329901770|Solange Schwarz]]{{#set:PND=1329901770}}, 1910-2000, als Bellastriga, die tschechische Solotänzerin [[Person:119400677|Irína Kladivova]]{{#set:119400677}}, 1921-1992, als Archisposa, [[Person:124202489|Marcel Luipart]]{{#set:PND=124202489}} als Faust) statt und wurde vom Publikum sowie von der Presse mit großer Begeisterung aufgenommen. Es folgten vier weitere Aufführungen bis zum 10. Juni. Nach der Sommerpause wurde das Stück dann aber trotz seines großen Erfolgs nicht erneut auf den Spielplan gesetzt.


==== 3. Bild: Hexensabbat oder Treffen der Unterwelt ====
== Kritik ==
Auf dem Hexensabbat tanzen maskierte Wesen aus der Hölle und beten eine schwarze Bockstatue an. Herzogin und Faust tanzen abermals und entschwinden für kurze Zeit hinter einen Busch. Anschließend gibt sich die Herzogin dem schwarzen Bock hin, was Faust anwidert. Es kommt erneut zur Flucht von Faust und Mephistophela. Die ersten Sonnenstrahlen beenden den Spuk, der schwarze Bock geht in Flammen auf.
Die näheren Hintergründe, die zur Absetzung bzw. zur Nicht-Wiederaufnahme von 'Abraxas' führten, erschienen noch zwei Jahre später nach Behandlung im [[Landtagsausschüsse|Landtagsausschuss]] für kulturpolitische Fragen unzureichend geklärt.


==== 4. Bild: Eine Insel im Archipel ====
Im Fokus der Kritik stand das 3. Bild 'Pandämonium' mit der darin zur Schau gestellten Verballhornung eines christlichen Hochamtes als Schwarze Messe, dem Mitwirken minderjähriger Balletttänzer sowie der Darstellung des erzwungenen Geschlechtsverkehrs des Satans mit Archisposa. In diesem Zusammenhang wurde seitens des [[Staatsministerium für Unterricht und Kultus (nach 1945)|Kultusministeriums]] auf Eingaben von Tänzerinnen und Eltern von Ballettkindern verwiesen, die sich im Ministerium, bei der Polizeidirektion und dem Erzbischöflichen Ordinariat München über unzumutbare Darstellungspraktiken in der Ausführung beschwert hätten. Ebenfalls wurde auf hohe Zusatzkosten verwiesen, die die Aufführung des Balletts unrentabel erschienen ließen.
Auf ihrer Flucht kommen Faust und Mephistophela an den Tempel der Aphrodite und treffen dort auf Helena von Troia. Es kommt zum Tanz zwischen Helena und Faust, der in ihr die reine Schönheit und Natürlichkeit sieht. Ohne Fausts Wissen ist die Herzogin ihnen gefolgt. Sie sieht das Tanzpaar und voller Zorn kehrt sie alles Schöne ins Hässliche um. Es folgt ein Unwetter, das die Herzogin heraufbeschworen hat. Faust, ebenfalls blind vor Zorn, erdolcht darauf die Herzogin. Erneut fliehen Faust und Mephistophela.


==== 5. Bild: Schützenumzug vor einer Kathedrale ====
Zu zentralen Aspekten des Abraxas-Skandals lassen sich keine schriftlichen Belege in staatlichen oder kirchlichen Archiven ermitteln. Unklar bleibt etwa die angebliche Rolle von Weihbischof [[Person:119039893|Johannes Neuhäusler]]{{#set:PND=119039893}} (1888-1973), dem eine entscheidende Bedeutung als nichtstaatliche Zensurinstanz zugeschrieben wurde: entsprechende Behauptungen sind soweit ersichtlich nur aus der Perspektive Egks überliefert. Der FDP-Abgeordnete [[Person:116160942|Otto Bezold]]{{#set:PND=116160942}} (FDP, 1899-1984) stellte hingegen am 22. Februar 1949 im [[Bayerischer Landtag (nach 1945)|Landtag]] in verklausulierter Form fest, dass der Angriff auf 'Abraxas' allein von Kultusminister [[Person:118708104|Alois Hundhammer]]{{#set:PND=118708104}} (CSU, 1900-1974) ausgegangen sei, während Kirchenvertreter geschwiegen hätten. Auch die Beschwerden von an 'Abraxas' beteiligten Balletttänzerinnen, die der Anlass für Hundhammers Intervention gewesen sein sollen, lassen sich nicht weiter verifizieren: Luipart erwähnt 1949 in einer Eidesstattlichen Erklärung zwar Protestbekundungen einer Tänzerin wegen Anstößigkeit der Choreographie, es werden aber keine Namen genannt. Etwaige Unmutsbekundungen wurden auf die Zurücksetzung einzelner Tänzerinnen -  etwa Gudrun Tücksen (geb. 1922) und Franziska Tona (geb. 1914) – zurückgeführt. Unklar bleibt auch, ob Hundhammer eine der fünf 'Abraxas'-Aufführung ganz oder in Teilen gesehen hatte.
Faust verliebt sich in die Tochter des Bürgermeisters und hält um deren Hand an. Mephistophela erinnert Faust an die Einhaltung des geschlossenen Paktes und beschwört ein Unwetter herauf, als sich der Brautzug gebildet hat. Vor dem Unwetter flieht das Volk in die Kathedrale und Faust bittet Mephistophela um Gnade. Diese verwandelt sich in eine Schlange und erdrosselt Faust. Daraufhin öffnet sich die Erde und Faust verschwindet in der Hölle.


[[Datei:Szene Abraxas.jpg|thumb|Szene aus der Uraufführung von Egks "Abraxas" am 6. Juni 1948 im Münchner Prinzregententheater mit (von links) Solange Schwarz als Bellastriga, Marcel Luipart als Faust, [[Person:119400677|Irina Kladivova]]{{#set:PND=119400677}} (1921-1992) als Archisposa: 'Die Begleichung' – "Sie zeigt ihm, daß die Zeit des Kontraktes verflossen sei und Leib und Seele jetzt der Hölle gehöre" (Heinrich Heine). (Foto: Werner Bochmann, aus: Thomas Poeschel, Abraxas - Höllen-Spektakulum. Ein zeitgeschichtliches Libretto des deutschen Nationalmythos von Heinrich Heine bis Werner Egk, Berlin 2002, 272)]]
== Maßnahmen gegen 'Abraxas' ==
[[Datei:Slominski Alois Hundhammer.jpg|thumb|Alois Hundhammer (CSU, 1900-1974). (HSS-ACSP/Foto Josef A. Slominski)]]
Bedenken gegen 'Abraxas' kamen erst kurz vor der Uraufführung des Stücks auf. Staatsintendant Hartmann, der zu keinem Zeitpunkt Vorbehalte gegen die Inszenierung Egks aufgebracht hatte, befand sich Anfang Juni zur Vorbereitung einer Gastspielreise in Lissabon. Hartmanns Abwesenheit führte dazu, dass der ihn vertretende Generaldirektor der Bayerischen Staatstheater [[Person:118678337|Wilhelm Diess]]{{#set:PND=118678337}} (1884-1957) involviert wurde. Nachdem Diess ein Exemplar des Librettos erhalten und darin Kenntnis vom Bild 'Pandämonium' genommen hatte, untersagte er dessen Verkauf durch das Staatstheater, informierte Kultusminister Hundhammer und ließ am 4. Juni eine Aufführung des 3. Bildes ansetzen, die von einer dreiköpfigen Kommission bestehend aus Diess, Staatsintendant Alois Lippl (1903-1957) und Prof. Hedwig Fichtmüller (1894-1975) in Augenschein genommen wurde. Es kam zu kleineren Änderungen von als obszön kritisierten Elementen, die aber offenbar nichts an der grundsätzlichen Ablehnung der Vertreter des Kultusministeriums am 3. Bild änderte. Trotzdem wurde das Stück von Hundhammer freigegeben, da eine kurzfristige Absetzung angesichts der für den übernächsten Tag angesetzten Uraufführung unmöglich erschien.


=== Uraufführung in München ===
Hundhammer versuchte am 9. Juni die [[US-Militärregierung]] für ein Verbot des Stückes zu gewinnen. Nachdem diese Bemühungen erfolglos blieben, sollte 'Abraxas' möglichst ohne viel Aufsehens aus dem Verkehr gezogen und nach der Sommerpause nicht mehr aufgeführt werden. Egk erfuhr Ende Oktober nach wiederholtem Nachfragen von Hundhammers definitiver Entscheidung, 'Abraxas' nicht mehr aufzuführen. Verschiedene Versuche, den Minister umzustimmen, blieben vergeblich.
Am 6. Juni 1948 wurde das von Egk geschaffene Ballett "Abraxas. Ein Faustballett" an der Bayerischen Staatsoper in [[Ort:ODB_S00008915|München]]{{#set:OID=ODB_S00008915}} unter der Leitung Egks uraufgeführt. Egk hatte das Tanzpoem "Der Doktor Faust" von Heinrich Heine aus dem Jahr 1847 adaptiert. Die Choreographie hatte der französische Ballettmeister [[Person:124202489|Marcel Luipart]]{{#set:PND=124202489}} (geb. Marcel Fenchel, 1912-1989) entwickelt. Spielort war das Münchner Prinzregententheater. Bis zur Sommerpause erfolgten fünf erfolgreiche, von Publikum und Presse sehr gut aufgenommene Aufführungen (vgl. u. a. Die ZEIT, 17.6.1948): "Nach dem 38. Vorhang war der bisherige Beifallsrekord der Münchner Staatsoper seit Jahrzehnten gebrochen. Erst nach dem 48. Vorhang konnten sich Werner Egk [...] und das Tanz Dreigestirn [...] von der entfesselt huldigenden Menge verabschieden. Am Bühnenausgang setzten sich die lärmenden Ovationen mit Autogrammkämpfen fort." (Der SPIEGEL, 12.6.1948).


== Auslöser ==
== Auslöser und Verlauf des Skandals ==
Am 2. Juni 1948, vier Tage vor der Uraufführung von "Abraxas", hatte Dr. [[Person:118678337|Wilhelm Diess]]{{#set:PND=118678337}} (1884-1957), Generaldirektor der Bayerischen Staatstheater, das Libretto auf dem üblichen Dienstweg erhalten. Bereits am darauffolgenden Tag untersagte das [[Staatsministerium für Unterricht und Kultus (nach 1945)|Kultusministerium]] den Verkauf des Librettos wegen darin enthaltener anstößiger Passagen. Um sich ein genaueres Bild zu verschaffen, besuchte Diess zudem die Generalprobe zum dritten Bild des Balletts. Kritisiert wurde neben verschiedenen anstößigen Formulierungen insbesondere der Begriff der "Schwarzen Messe" - eine orgiastische Feier des Bösen, die dem katholischen Messritus nachempfunden war. Zudem wurden kleinere Korrekturen in der tänzerischen Darstellung verlangt. Obszön empfunden wurde etwa eine Tanzszene, bei der das Höschen der Tänzerin zu sehen war, als diese einen Überschlag machte. Egk und Luipart setzten diese Korrekturen bereitwillig um, wovon die Öffentlichkeit keine Kenntnis nahm.
[[Datei:Georg Schneider 1946.jpg|thumb|Der Coburger Landtagsabgeordnete Georg Schneider (FDP, 1902-1972) war der Hauptwortführer seiner Fraktion im Landtag im Abraxas-Skandal, Photo 1946. (Bildarchiv Bayerischer Landtag)]]
Die Vorgänge um 'Abraxas' eskalierten, nachdem die Deutsche Nachrichtenagentur am 24. Januar 1949 über die Hintergründe der von Hundhammer veranlassten Absetzung des Balletts berichtete. Dass die Lancierung der Pressemeldung durch den im Umgang mit den Medien bewanderten Egk ausgegangen sein dürfte, erscheint trotz dessen Abstreiten und Verweis auf Hundhammers parteiinternen Konkurrenten Josef Müller (CSU, 1898-1972) wahrscheinlich. Die Meldung löste nicht nur ein großes Echo in den Medien aus, sondern führte bereits zwei Tage später zu einer Behandlung im Landtag. Während vor allem Abgeordnete der [[Freie Demokratische Partei (FDP)|Freien Demokratischen Partei (FDP)]] in dieser und zwei weiteren Landtagssitzungen (22. Februar 1949 und 14. Juni 1950) die Absetzung von 'Abraxas' auf das Schärfste kritisierten und darin einen Angriff auf die in der [[Bayerische Verfassung, 1946|Bayerischen Verfassung]] garantierte Freiheit der Kunst sahen, beharrte Hundhammer auf sein Recht als Kultusminister, in die Spielpläne der in seinem Verantwortungsbereich befindlichen Staatstheater einzugreifen. Er lehnte es ab, in seinen Augen moralisch verwerfliche Stücke wie 'Abraxas' unter Aufwendung von Steuergeldern dort aufzuführen. In der Zeitungsberichterstattung wurde neben dem Vorwurf der Zensur die rücksichtslose Durchsetzung von Kulturpolitik durch die Landtagsmehrheit der [[Christlich-Soziale Union (CSU)|Christlich-Sozialen Union (CSU)]] thematisiert und vor einem Abwürgen künstlerischer Impulse nach zwölf Jahren NS-Diktatur gewarnt.


Erst eine Intervention des bayerischen Kultusministers Dr. Dr. [[Person:118708104|Alois Hundhammer]]{{#set:PND=118708104}} ([[Christlich-Soziale Union (CSU)|CSU]], 1900-1974, Staatsminister für Unterricht und Kultus 1946-1950) führte zum eigentlichen Skandal um das Ballett. Hundhammer verhinderte eine Wiederaufnahme der Inszenierung in der neuen Spielzeit und griff damit ein weiteres Mal in die Politik der Bayerischen Staatstheater ein. Maßgeblich für diese Intervention war laut Aussage des damaligen Staatssekretärs [[Person:116974877|Dieter Sattler]]{{#set:PND=116974877}} (1906-1968) ein Anruf des Weihbischofs von München und Freising Dr. [[Person:119039893|Johannes Neuhäusler]]{{#set:PND=119039893}} (1888-1973). Neben moralischer Bedenken stand die die Darstellung der "Schwarzen Messe" im Mittelpunkt des Verbots. Gelegen kamen den Befürwortern eines Verbots auch die hohen Kosten, die die Inszenierung verursachte. Hundhammers Versuch, die [[US-Militärregierung]] in dieser Angelegenheit zu aktivieren, scheiterte. Sie betrachtete es als innere deutsche Angelegenheit: "We would put our necks out over very debatable and vulnerable territory should we interfere in something of this nature. I suggest, that you toss the ball straight back to Dr. Hundhammer's own clammy hands" (Carlos Mosley, Music Specialist der Militärregierung, an James A. Clark, 22.6.1948). Als Kompensation für die Absetzung von "Abraxas" sollten andere Stücke Egks aufgeführt werden. Öffentlich bemerkt wurden die Vorgänge um "Abraxas" noch nicht.  
Neben der Diskussion um staatliche Eingriffe in die Kunstfreiheit verlief die juristische Auseinandersetzung über Schadenersatzansprüche, die Egk wegen Unterlassung der vertraglich vereinbarten Aufführung von 'Abraxas' vom Bayerischen Staat forderte. Am 19. April 1951 erfolgte vor dem Landgericht München die Beweisaufnahme in dieser Angelegenheit, bei der Egk die Verantwortung für die umstrittene Choreographie auf Luipart abzuwälzen suchte. Zu einem Gerichtsprozess kam es nicht, stattdessen wurde im August ein Vergleich zwischen den um Deeskalation bemühten Streitparteien geschlossen, der die Bayerische Staatsoper verpflichtete, drei Werke Egks unter dessen Leitung aufzuführen. Egk sollte dafür mit jeweils 10.000 DM vergütet werden.


Am 24. Januar 1949 berichtete allerdings der Bayerndienst der "Deutschen Nachrichtenagentur" (Dena) offenbar auf Drängen Werner Egks über die Absetzung: "Man hatte ursprünglich angenommen, daß dies [die Absetzung des Balletts vom Spielplan] aus finanziellen Gründen wegen der zu kostspieligen Verpflichtung auswärtiger Kräfte geschehen sei. Jetzt wurde jedoch bekannt, daß Abraxas auf Wunsch des Kultusministers [Hundhammer] vom Spielplan abgesetzt wurde." Aufgrund dieser Meldung entstand in [[Bayerischer Landtag (nach 1945)|Landtag]], Medien, Öffentlichkeit und vor Gericht eine breite Auseinandersetzung um die Frage, ob es sich hier um unzulässige staatliche Zensur handele.
== Nachwirkungen ==
 
[[Datei:Abraxas Szene 1949.jpg|thumb|Szene aus der "Abraxas"-Aufführung in der Städtischen Oper Berlin am 8. Oktober 1949. (Deutsche Fotothek, df_pk_0000786_001)]]
[[Datei:Pressekonferenz Egk.jpg|thumb|Werner Egk steht den Journalisten auf einer Pressekonferenz in Bad Segeberg am 18.12.1950 zum Ballett "Abraxas" Rede und Antwort; rechts im Bild: [[Person:1034903306|Alfred Hering]] (1904-1978), Leiter des Hamburger Sinfonieorchesters. (Interfoto/Friedrich 00436351)]]
Die in Bayern stattgefundenen Kontroversen um 'Abraxas' waren dem Renommee des Stücks nicht abträglich, sondern steigerten im Gegenteil dessen Bekanntheitsgrad. In den folgenden Jahren inszenierte Egk sein Faustballett in einer abgemilderten Form an anderen Spielstätten (u.a. Berlin, Hamburg, Stockholm, Stuttgart). An den Staatstheatern in München blieb es hingegen auch nach dem Ende von Hundhammers Amtszeit als Kultusminister im Dezember 1950 weiterhin tabu (auch in den Jahren der sog. [[Kabinett Hoegner II, 1954-1957|Vierer-Koalition 1954-1957]]). Im März 1951 versuchte die [[Staatskanzlei]] sogar eine von einem privaten Veranstalter im Kongreßssaal des [[Deutsches Museum, München|Deutschen Museums]] inszenierte Aufführung zu unterbinden. Erst anlässlich von Egks 100. Geburtstag 2001 wurde 'Abraxas' wieder im Prinzregententheater gezeigt.
== Verlauf ==
Die amerikanische Militärregierung verfolgte die Vorgänge mit Besorgnis, sah jedoch keine Möglichkeit einzugreifen und bewertete immerhin die erregte Debatte als gutes Lernfeld für die Schärfung demokratischen Bewusstseins.
 
Im Bayerischen Landtag verlangten am 26. Januar 1949 die Fraktionen von [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) (nach 1945)|Sozialdemokratischer Partei Deutschlands (SPD)]] und [[Freie Demokratische Partei (FDP)|Freier Demokratischer Partei (FDP)]] in einer Landtagsanfrage eine Erklärung von Minister Hundhammer zu dem Fall. So fragte der Abgeordnete [[Person:116824921|Georg Schneider]]{{#set:PND=116824921}} (FDP, 1902-1972): "Auf welche Rechtsgrundlage stützt sich der Herr Kultusminister bei seinem ausdrücklich ausgesprochenen Verbot der weiteren Aufführungen des Balletts Abraxas? Will der Herr Kultusminister im Gegensatz zu Art. 108 der [[Bayerische Verfassung, 1946|Bayerischen Verfassung]] die Freiheit von Kunst und Wissenschaft erneut durch staatliche Bewertung und Verbote beschränken?" Hundhammer verwies in seiner Antwort auf Beschwerden, die an ihn herangetragen worden seien, auf hohe Sonderkosten bei der Inszenierung und vor allem auf moralische Bedenken. Weiter sagte er: "Ich betone, daß sich die Freiheit der Kunst dort entwickeln kann, wo sie nicht vom Staat bezahlt wird." Ein fataler Ausspruch Hundhammers, da sich Egk in seiner Klage auch auf diese Aussage bezog.


Am 22. Februar 1949 fand eine Landtagsaussprache über die Interpellation statt, in der es darum ging, ob der Kultusminister zu seinem Verbot berechtigt gewesen sei. Der FDP-Abgeordnete [[Person:116160942|Otto Bezold]]{{#set:PND=116160942}} (FDP, 1899-1984) warf Hundhammer weltanschauliche Voreingenommenheit vor. Hundhammer seinerseits beharrte auf seinem Standpunkt, dass er juristisch im Recht sei, da es sich nicht um ein Verbot, sondern eine Absetzung vom Spielplan gehandelt habe. Finanziell verwies er wieder auf die hohen Ausgaben; moralisch schließlich habe er sich verpflichtet gefühlt einzugreifen, da das Ballett "als eine Beleidigung der Mehrheit des Volkes und als eine Verletzung der religiösen Gefühle betrachtet werden" könne.
Der Streit um 'Abraxas' war vor allem auch eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Egk und Hundhammer: der brüskierte Komponist wollte Hundhammer wegen Beleidigung ("Wer die Schweinerei sehen will, kann ihr ruhig nachlaufen.") verklagen und suchte dessen politische Gegner gegen ihn zu mobilisieren. Hundhammer ließ Egks [[Entnazifizierung|Spruchkammerverfahren]] und damit dessen NS-Vergangenheit näher unter die Lupe nehmen.


In der Presse wurde die Frage nach der Freiheit der Kunst bzw. dem Eingreifen des Kultusministers über Bayern hinaus kontrovers diskutiert. Nach den neuerlichen Landtagsdebatten am 14. Juni 1950 verebbte die mediale Berichterstattung aber bald.
Jenseits dieses Konflikts kam es allerdings zu keiner nachhaltigen Störung des Verhältnisses Egks zum Bayerischen Staat: 1951 wurde er Mitglied der [[Bayerische Akademie der Schönen Künste|Bayerischen Akademie der Schönen Künste]], 1954 begann ein zwanzig Jahre währendes Arrangement Egks an der Bayerischen Staatsoper. Er erhielt 1962 den Bayerischen Verdienstorden, 1981 den Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst.  
[[Datei:Pressekonferenz Egk.jpg|thumb|Werner Egk steht den Journalisten auf einer Pressekonferenz in Bad Segeberg am 18.12.1950 zum Ballett "Abraxas" Rede und Antwort. (Interfoto/Friedrich 00436351)]]
Ebenfalls standen die Abgänge Luiparts im August 1948 (Nichtverlängerung des Vertrags wegen Diebstahls von Tanzschuhen) und Hartmanns 1951 (Nichtverlängerung des Vertrags auf eigenen Wunsch) aus München in keinem Zusammenhang zu 'Abraxas'.


Juristisch mündete die Auseinandersetzung in einen vom Oberstaatsanwalt nicht akzeptierten Strafantrag im September 1950 und einer Schadensersatzklage Egks gegen den [[Freistaat Bayern]] im November 1950. Sie endete letztlich im August 1951 mit einem Vergleich. Dieser sah folgende Einigung vor:
Für Egk dürfte der Abraxas-Skandal auch in anderer Hinsicht von Bedeutung gewesen sein: Aufgrund seiner glänzenden Karriere im Nationalsozialismus (1936 Kapellmeister der Berliner Staatsoper, 1941 Leiter der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, 1944 Aufnahme in die 'Gottbegnadeten-Liste') hatte sich Egk in der Nachkriegszeit als Nutznießer einem Spruchkammerverfahren zu unterziehen. Trotz antisemitischer Tendenzen in Opern wie 'Die Zaubergeige' und 'Peer Gynt' und seiner hervorragenden Rolle im nationalsozialistischen Kulturleben konnte sich Egk als Gegner des NS-Staats inszenieren und seine Einstufung als vom Entnazifizierungsgesetz nicht Betroffener erreichen. Das Urteil der Spruchkammer München wurde allerdings erst drei Monate vor der Uraufführung von 'Abraxas' endgültig rechtskräftig. Inwieweit die Aufführung eines Balletts (klassisches Ballett war im Nationalsozialismus als undeutsch verpönt), das auf einer Vorlage des jüdischstämmigen Heinrich Heine basierte und dessen Hauptrollen im Juni 1948 mit französischen und tschechischen Tänzerinnen besetzt waren, als erstes Werk nach 1945 Teil einer groß inszenierten Selbstreinigung Egks von seiner NS-Vergangenheit zu sehen ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Durch den Skandal um 'Abraxas' als ein von ungerechter Zensur Gebrandmarkter, dürfte Egk jedenfalls Diskussionen um seine NS-Vergangenheit endgültig überwunden haben.


* "Der Bayerische Staat läßt durch die Bayerische Staatsoper in München innerhalb von vier aufeinanderfolgenden Spielzeiten, laufend vom 1. September 1951 bis 31. August 1955 drei Werke von Prof. Werner Egk an der Bayerischen Staatsoper unter der musikalischen Einstudierung und musikalischen Leitung von Prof. Werner Egk zur Aufführung bringen. Das erste dieser Werke Peer Gynt [, dessen Erstaufführung 1938 erfolgte] soll bereits in der Spielzeit 1951/52 gegeben werden."
== Resümee ==
* "Prof. Egk erhält für das persönliche Einstudieren und Dirigieren jedes der drei Werke eine Vergütung von 10.000 DM."
Der Skandal um 'Abraxas' verfestigte das Bild Bayerns als Vorreiter einer restaurativ-katholischen Kulturpolitik. Allerdings handelte es sich bei den Vorgängen um Egks Münchner Inszenierung um keinen außerordentlichen Einzelfall. Filme, Opern- oder Theaterstücke waren wie bereits in vorangegangenen Zeiten auch in der Bundesrepublik immer wieder von Zensurmaßnahmen betroffen und/oder wurden abgesetzt (z.B. 1951 'Die Sünderin' wegen Zurschaustellung von Prostitution, Sterbehilfe und Selbstmord, 1985 'Der Müll, die Stadt und der Tod' in Frankfurt/Main wegen Antisemitismusvorwürfen, 2006 'Idomeneo' in Berlin wegen Religionsschmähung und Furcht vor islamistischer Gewalt).
* "Durch gegenwärtigen Vergleich sind alle Ansprüche von Prof. Werner Egk gegenüber dem Bayerischen Staate aus der Absetzung des Abraxas-Balletts vom Spielplan der Bayerischen Staatsoper im Jahre 1948 abgefunden."
Dass sich der Umgang mit 'Abraxas' zum ersten größeren Skandal im bayerischen Kulturbetrieb der Nachkriegszeit entwickelte, mag auch der Prominenz der beiden maßgeblichen Protagonisten Egk und Hundhammer geschuldet gewesen sein, die die seit 1949 geführte Kontroverse beständig befeuerten. Die Auseinandersetzung um ‚Abraxas‘ widmete sich auch der Frage, welche Freiräume bzw. Grenzen progressive Kunst in der noch jungen bayerischen Demokratie hatte und wie viel Einfluss parlamentarische Mehrheiten in der Durchsetzung von Kulturpolitik nehmen dürften.


Nach dem Vergleich zog Egk am 4. September 1951 seine Klage zurück.
Das Stück 'Abraxas' selbst trat in der Rezeption hinter den Skandal zurück. Es galt relativ bald als veraltet und nimmt im Gesamtrepertoire Egks keine herausragende Rolle ein.
 
[[Datei:Abraxas Szene 1949.jpg|thumb|Szene aus der "Abraxas"-Aufführung in der Städtischen Oper Berlin am 8. Oktober 1949. (Deutsche Fotothek, df_pk_0000786_001)]]
[[Datei:Abraxas Szene 1966.jpg|thumb|Szene aus der "Abraxas"-Aufführung in der Komischen Oper Berlin. Das Stück wurde dort am 23. und 29. Dezember 1966 aufgeführt. (Deutsche Fotothek, df_pk_0004988_002)]]
 
== Bewertung ==
Durch den Vergleich wahrten alle Beteiligten ihr Gesicht. Für den geschädigten Komponisten Werner Egk war der Skandal letztlich sogar zuträglich, da seine Werke nun größere Aufmerksamkeit erfuhren und insbesondere das Ballett "Abraxas" durch eine Neuinszenierung in Berlin (zwischen 1949 und 1956 insgesamt 95 Aufführungen) und durch Gastspieltourneen in der ganzen Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre immer wieder aufgeführt wurde. Sogar im Ausland wurde das Stück seit 1951 (Königliche Oper Stockholm) aufgeführt. Eine zweite Fassung des Librettos von "Abraxas" änderte Egk in einem Akt von Selbstzensur freiwillig, wohl um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden.
 
Bei dem "Skandal" Abraxas ging es nicht um Musik und Choreographie, sondern um Politik- und Moralverständnis. Nach den Repressionen der nationalsozialistischen Diktatur war die Bevölkerung sensibilisiert für Einmischungsversuche des Staates in Kunstbelange. In Kultusminister Hundhammer und Weihbischof Neuhäusler spiegelte sich eine für die unmittelbare Nachkriegszeit typische Rückbesinnung auf die Werte des christlichen Abendlandes. Sie sollten durch obrigkeitsstaatliches Eingreifen auch in die Freiheit der Kunst dort verteidigt werden, wo Moral und religiöse Gefühle missachtet wurden. Sowohl Hundhammer als auch Neuhäusler gehörten im Dritten Reich zur Gruppe der politisch Verfolgten und hatten die Diktatur am eigenen Leib erfahren. Hundhammer sah sein Vorgehen gegen das Ballett auch später noch als "ein Beispiel für eine konstruktive christliche Kulturpolitik". In der öffentlichen Wahrnehmung blieb allerdings auch über die Zeit der unmittelbaren Auseinandersetzungen hinaus ein negatives Urteil haften.
 
Noch während der Debatten um die Zensur des Balletts tauchten Mutmaßungen über tiefergehende politische Zusammenhänge auf, die unmittelbar mit der NS-Zeit in Verbindung stehen. Während Neuhäusler und Hundhammer aufgrund ihrer politischen Überzeugung zeitweise Insassen des Konzentrationslagers Dachau waren, gehörte Egk zu jenen Künstlern, die sich mit Ihrer Tätigkeit während des Dritten Reichs im demokratischen Deutschland Kritikern erklären mussten. Egk war von 1941 bis 1945 Leiter der "Fachschaft Komponisten" der Reichsmusikkammer und komponierte die Musik für die Olympischen Spiele 1936. Gleichwohl war das [[Entnazifizierung|Entnazifizierungsverfahren]] Egks von der Spruchkammer München Land im Oktober 1947 aus Mangel an Beweisen gegen ihn eingestellt worden. Diese Mutmaßungen gipfelten am 16. März 1949 in der Anfrage des Abgeordneten Dr. Rief im Bayerischen Landtag, in der dieser nach einer "Bevorzugung nationalsozialistischer Künstler bei staatlichen Einrichtungen" fragte. Hundhammer erklärte in diesem Zusammenhang, dass es keine diesbezüglichen Ressentiments bei ihm gegeben habe und die Entscheidung zur Absetzung allein aufgrund der moralischen Bedenken geschehen war. Neuhäusler selbst trat auch hier nicht öffentlich in Erscheinung.
 
Insgesamt verfestigte der Skandal um die Zensur von Werner Egks Ballett "Abraxas" das Bild Bayerns als Vorreiter einer restaurativ-katholischen Kulturpolitik.


== Literatur ==
== Literatur ==
* Gerhard Brunner, Aus der Zeit des Tanztheaters. An der Ostberliner Komischen Oper: Abraxas blieb provinziell, in: Express, 15.3.1967 (Morgenausgabe).
* Gerhard Brunner, Aus der Zeit des Tanztheaters. An der Ostberliner Komischen Oper: Abraxas blieb provinziell, in: Express, 15.3.1967 (Morgenausgabe).
* Jutta Göbber/Edeltraud Schramm, (Un)Vergessen. Der Komponist Werner Egk in Inning (Inninger Geschichtsblätter 2), Grafrath 2008.
* Iris Julia Bührle, Literatur und Tanz. Die choreographische Adaptation literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute, Würzburg 2014.
* Klaus Kanzog, Ballettzensur. Der Skandal um Werner Egks Faustballett "Abraxas", in: Oper aktuell. Die Bayerische Staatsoper 2001/2002, 52-63.
* Michael Custodis/Friedrich Geiger, Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel (Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik 1), Münster 2013.
* Klaus Kanzog, Ballettzensur. Öffentliche Moral und geschäftliche Interessen. Werner Egks "Faustballett" "Abraxas" (1948) in der Bayerischen Staatsoper, in: Beate Müller (Hg.), Zensur im modernen deutschen Kulturraum (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 94), Tübingen 2003, 115-129.
* Klaus Kanzog, Ballettzensur. Öffentliche Moral und geschäftliche Interessen. Werner Egks "Faustballett" "Abraxas" (1948) in der Bayerischen Staatsoper, in: Beate Müller (Hg.), Zensur im modernen deutschen Kulturraum (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 94), Tübingen 2003, 115-129.
* Ulrike Stoll, Freiheit der Kunst? Der Fall "Abraxas", in: Jürgen Schläder (Hg.), Werner Egk - eine Debatte zwischen Ästhetik und Politik (Studien zur Münchner Theatergeschichte 3), München 2008, 134-146.
* Thomas Poeschel, Abraxas Höllen-Spectaculum. Ein zeitgeschichtliches Libretto des deutschen Nationalmythos von Heinrich Heine bis Werner Egk, Berlin 2002.
* Anna Kreszentia Schamberger, "Keine Reue! Heil!". Eine Studie zu Werner Egk und seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus, München 2024.
* Jürgen Schläder (Hg.), Werner Egk - eine Debatte zwischen Ästhetik und Politik (Studien zur Münchner Theatergeschichte 3), München 2008.
* Ulrike Stoll, Kulturpolitik als Beruf. Dieter Sattler (1906-1968) in München, Bonn und Rom (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 98), Paderborn u. a. 2005, 215-224.
* Ulrike Stoll, Kulturpolitik als Beruf. Dieter Sattler (1906-1968) in München, Bonn und Rom (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 98), Paderborn u. a. 2005, 215-224.
* Christiane Wilke, Das Theater der großen Erwartungen. Wiederaufbau des Theaters 1945-1948 am Beispiel des Bayerischen Staatstheaters (Europäische Hochschulschriften 3/507), Frankfurt am Main u. a. 1992, 111-127.
* Christiane Wilke, Das Theater der großen Erwartungen. Wiederaufbau des Theaters 1945-1948 am Beispiel des Bayerischen Staatstheaters (Europäische Hochschulschriften 3/507), Frankfurt am Main u. a. 1992, 111-127.
* Monika Woitas, Abraxas und kein Ende. Kontext und Hintergründe eines Skandals, in: Jürgen Schläder (Hg.), Werner Egk - eine Debatte zwischen Ästhetik und Politik (Studien zur Münchner Theatergeschichte 3), München 2008, 119-133.
* Hans Zehetmair, Einer der drei Großen der bayerischen Musik. Mit der Zaubergeige gelang dem Komponisten Werner Egk der Durchbruch - Abraxas machte ihn prominent, in: Süddeutsche Zeitung, 2.11.1999.


== Quellen ==
== Quellen ==
* Bayerische Staatsbibliothek, Nachlass Werner Egk (1901-1983).
* Bayerische Staatsbibliothek, Nachlass Werner Egk (1901-1983).
* [https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP01/Protokolle/01%20Wahlperiode%20Kopie/01%20WP%20Plenum%20LT%20Kopie/099%20PL%20260149%20ges%20endg%20Kopie.pdf Bayerischer Landtag, Plenum, Protokolle 1/99]
* [https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP01/Protokolle/01%20Wahlperiode%20Kopie/01%20WP%20Plenum%20LT%20Kopie/099%20PL%20260149%20ges%20endg%20Kopie.pdf Bayerischer Landtag, Plenum, Protokolle 1/99 vom 26. Januar 1949.]
* [https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP01/Protokolle/01%20Wahlperiode%20Kopie/01%20WP%20Plenum%20LT%20Kopie/101%20PL%20220249%20ges%20endg%20Kopie.pdf Bayerischer Landtag, Plenum, Protokolle 1/101]
* [https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP01/Protokolle/01%20Wahlperiode%20Kopie/01%20WP%20Plenum%20LT%20Kopie/101%20PL%20220249%20ges%20endg%20Kopie.pdf Bayerischer Landtag, Plenum, Protokolle 1/101 vom 22. Februar 1949.]
* [https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP01/Protokolle/01%20Wahlperiode%20Kopie/01%20WP%20Plenum%20LT%20Kopie/166%20PL%20140650%20ges%20endg%20Kopie.pdf Bayerischer Landtag, Plenum, Protokolle 1/166]
* [https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP01/Protokolle/01%20Wahlperiode%20Kopie/01%20WP%20Plenum%20LT%20Kopie/166%20PL%20140650%20ges%20endg%20Kopie.pdf Bayerischer Landtag, Plenum, Protokolle 1/166 vom 14. Juni 1950.]
* [https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP01/Drucksachen/0000002000/01-02177.pdf Bayerischer Landtag, Drucksachen 1/2177]
* [https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP01/Drucksachen/0000003000/01-03387.pdf Bayerischer Landtag, Drucksachen 1/3387]
* Werner Egk, Abraxas. Ballett in 5 Bildern, Mainz 1948.
* Werner Egk, Abraxas. Ballett in 5 Bildern, Mainz 1948.
* Heinrich Heine, Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem, nebst kuriosen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst, Hamburg 1851.
* [https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10110704?page=%2C1 Heinrich Heine, Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem, nebst kuriosen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst, Hamburg 1851.]
 
== Externe Links ==


* [https://digipress.digitale-sammlungen.de/search/extended?content=Abraxas&fromYear=1948&fromMonth=06&fromDay=01&untilYear=1951&untilMonth=04&untilDay=22&place= Erwähnung des Abraxas-Skandals in bayerischen Zeitungen 1948-1951]
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Fall Abraxas
Fall Abraxas
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== Empfohlene Zitierweise ==
== Empfohlene Zitierweise ==
Ulrike Natzer/Bernhard von Zech-Kleber, Abraxas-Skandal, publiziert am 13.12.2016, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Abraxas-Skandal> ({{CURRENTDAY}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
Ulrike Natzer/Bernhard von Zech-Kleber/Daniel Rittenauer, Abraxas-Skandal, publiziert am 13.12.2016 (Aktualisierte Version 24.04.2024), in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Abraxas-Skandal> ({{CURRENTDAY}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})


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Aktuelle Version vom 24. April 2025, 09:52 Uhr

Plakat zur Uraufführung von Werner Egks Ballett "Abraxas" am 6. Juni 1948 im Münchner Prinzregententheater. (Bayerische Theaterakademie August Everding im Residenztheater)

von Ulrike Natzer , Bernhard von Zech-Kleber und Daniel Rittenauer

Am 6. Juni 1948 wurde im Münchner Prinzregententheater das Ballett 'Abraxas' von Werner Egk (geb. Werner Mayer, 1901-1983) uraufgeführt. Es war ein großer Publikumserfolg, wurde aber nach der Sommerpause nicht mehr aufgeführt, da Kultusminister Alois Hundhammer (CSU, 1900-1974) Vorbehalte gegen als unsittliche erachtete Elemente des Stücks hatte. Die Anfang 1949 in Medien und Landtag einsetzenden Debatten um Abraxas drehten sich um grundsätzliche Fragen der Freiheit der Kunst und staatlicher Zensur.

Faustballett "Abraxas"

Inhalt

Das Faustballett ‚Abraxas‘ wurde 1946 von Werner Egk (geb. Werner Mayer, 1901-1983) abgefasst, einem zentralen Akteur der westdeutschen Musiklandschaft der Nachkriegszeit. Die Choreographie hatte der Ballettdirektor der Bayerischen Staatsoper Marcel Luipart (geb. Marcel Fenchel, 1912-1989) entwickelt. Das Stück basiert weitgehend auf dem hundert Jahre zuvor entstandenen Tanzpoem "Der Doktor Faust" von Heinrich Heines (1797-1856) und setzt sich wie dieses aus fünf Bildern zusammen.

In diesen wird die Geschichte von Faust geschildert, der mit der von ihm beschworenen Bellastriga (ein weiblicher Mephisto) einen ihn verjüngenden Teufelspakt schließt, wodurch er der Teufelsbuhle Archisposa nachstellen kann (1. Bild: Der Pakt). Im weiteren Verlauf des Balletts gelangen Faust und seine teuflischen Gefährtinnen an den Hof König Karls IV. von Spanien (2. Bild: Die Verstrickung), auf einen Hexensabbat, auf dem in einer Schwarzen Messe Satan gehuldigt wird (3. Bild: Pandämonium), ins antike Troja, wo es zu einer kurzweiligen Zusammenkunft mit der schönen Helena kommt (4. Bild: Das Trugbild) und schließlich auf ein mittelalterliches Volksfest (5. Bild: Die Begleichung). Dort verliebt sich Faust in die tugendhafte Margarete und widerruft den Teufelspakt, wodurch er sein ursprüngliches Alter zurückerhält. Das Stück endet damit, dass Faust und Margarete von der durch Archisposa und Bellastriga aufgepeitschten Volksfestmenge zu Tode getrampelt werden.

Uraufführung

Der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Georg Hartmann (1891-1972), konnte Anfang 1948 Egk dafür gewinnen, ‚Abraxas‘ in München anstatt in Stuttgart uraufzuführen. Die Premiere fand am 6. Juni 1948 im Prinzregententheater (erste Uraufführung seit 1940) in hochrangiger Besetzung (die französische Ballerina Solange Schwarz, 1910-2000, als Bellastriga, die tschechische Solotänzerin Irína Kladivova, 1921-1992, als Archisposa, Marcel Luipart als Faust) statt und wurde vom Publikum sowie von der Presse mit großer Begeisterung aufgenommen. Es folgten vier weitere Aufführungen bis zum 10. Juni. Nach der Sommerpause wurde das Stück dann aber trotz seines großen Erfolgs nicht erneut auf den Spielplan gesetzt.

Kritik

Die näheren Hintergründe, die zur Absetzung bzw. zur Nicht-Wiederaufnahme von 'Abraxas' führten, erschienen noch zwei Jahre später nach Behandlung im Landtagsausschuss für kulturpolitische Fragen unzureichend geklärt.

Im Fokus der Kritik stand das 3. Bild 'Pandämonium' mit der darin zur Schau gestellten Verballhornung eines christlichen Hochamtes als Schwarze Messe, dem Mitwirken minderjähriger Balletttänzer sowie der Darstellung des erzwungenen Geschlechtsverkehrs des Satans mit Archisposa. In diesem Zusammenhang wurde seitens des Kultusministeriums auf Eingaben von Tänzerinnen und Eltern von Ballettkindern verwiesen, die sich im Ministerium, bei der Polizeidirektion und dem Erzbischöflichen Ordinariat München über unzumutbare Darstellungspraktiken in der Ausführung beschwert hätten. Ebenfalls wurde auf hohe Zusatzkosten verwiesen, die die Aufführung des Balletts unrentabel erschienen ließen.

Zu zentralen Aspekten des Abraxas-Skandals lassen sich keine schriftlichen Belege in staatlichen oder kirchlichen Archiven ermitteln. Unklar bleibt etwa die angebliche Rolle von Weihbischof Johannes Neuhäusler (1888-1973), dem eine entscheidende Bedeutung als nichtstaatliche Zensurinstanz zugeschrieben wurde: entsprechende Behauptungen sind soweit ersichtlich nur aus der Perspektive Egks überliefert. Der FDP-Abgeordnete Otto Bezold (FDP, 1899-1984) stellte hingegen am 22. Februar 1949 im Landtag in verklausulierter Form fest, dass der Angriff auf 'Abraxas' allein von Kultusminister Alois Hundhammer (CSU, 1900-1974) ausgegangen sei, während Kirchenvertreter geschwiegen hätten. Auch die Beschwerden von an 'Abraxas' beteiligten Balletttänzerinnen, die der Anlass für Hundhammers Intervention gewesen sein sollen, lassen sich nicht weiter verifizieren: Luipart erwähnt 1949 in einer Eidesstattlichen Erklärung zwar Protestbekundungen einer Tänzerin wegen Anstößigkeit der Choreographie, es werden aber keine Namen genannt. Etwaige Unmutsbekundungen wurden auf die Zurücksetzung einzelner Tänzerinnen -  etwa Gudrun Tücksen (geb. 1922) und Franziska Tona (geb. 1914) – zurückgeführt. Unklar bleibt auch, ob Hundhammer eine der fünf 'Abraxas'-Aufführung ganz oder in Teilen gesehen hatte.

Maßnahmen gegen 'Abraxas'

Alois Hundhammer (CSU, 1900-1974). (HSS-ACSP/Foto Josef A. Slominski)

Bedenken gegen 'Abraxas' kamen erst kurz vor der Uraufführung des Stücks auf. Staatsintendant Hartmann, der zu keinem Zeitpunkt Vorbehalte gegen die Inszenierung Egks aufgebracht hatte, befand sich Anfang Juni zur Vorbereitung einer Gastspielreise in Lissabon. Hartmanns Abwesenheit führte dazu, dass der ihn vertretende Generaldirektor der Bayerischen Staatstheater Wilhelm Diess (1884-1957) involviert wurde. Nachdem Diess ein Exemplar des Librettos erhalten und darin Kenntnis vom Bild 'Pandämonium' genommen hatte, untersagte er dessen Verkauf durch das Staatstheater, informierte Kultusminister Hundhammer und ließ am 4. Juni eine Aufführung des 3. Bildes ansetzen, die von einer dreiköpfigen Kommission bestehend aus Diess, Staatsintendant Alois Lippl (1903-1957) und Prof. Hedwig Fichtmüller (1894-1975) in Augenschein genommen wurde. Es kam zu kleineren Änderungen von als obszön kritisierten Elementen, die aber offenbar nichts an der grundsätzlichen Ablehnung der Vertreter des Kultusministeriums am 3. Bild änderte. Trotzdem wurde das Stück von Hundhammer freigegeben, da eine kurzfristige Absetzung angesichts der für den übernächsten Tag angesetzten Uraufführung unmöglich erschien.

Hundhammer versuchte am 9. Juni die US-Militärregierung für ein Verbot des Stückes zu gewinnen. Nachdem diese Bemühungen erfolglos blieben, sollte 'Abraxas' möglichst ohne viel Aufsehens aus dem Verkehr gezogen und nach der Sommerpause nicht mehr aufgeführt werden. Egk erfuhr Ende Oktober nach wiederholtem Nachfragen von Hundhammers definitiver Entscheidung, 'Abraxas' nicht mehr aufzuführen. Verschiedene Versuche, den Minister umzustimmen, blieben vergeblich.

Auslöser und Verlauf des Skandals

Der Coburger Landtagsabgeordnete Georg Schneider (FDP, 1902-1972) war der Hauptwortführer seiner Fraktion im Landtag im Abraxas-Skandal, Photo 1946. (Bildarchiv Bayerischer Landtag)

Die Vorgänge um 'Abraxas' eskalierten, nachdem die Deutsche Nachrichtenagentur am 24. Januar 1949 über die Hintergründe der von Hundhammer veranlassten Absetzung des Balletts berichtete. Dass die Lancierung der Pressemeldung durch den im Umgang mit den Medien bewanderten Egk ausgegangen sein dürfte, erscheint trotz dessen Abstreiten und Verweis auf Hundhammers parteiinternen Konkurrenten Josef Müller (CSU, 1898-1972) wahrscheinlich. Die Meldung löste nicht nur ein großes Echo in den Medien aus, sondern führte bereits zwei Tage später zu einer Behandlung im Landtag. Während vor allem Abgeordnete der Freien Demokratischen Partei (FDP) in dieser und zwei weiteren Landtagssitzungen (22. Februar 1949 und 14. Juni 1950) die Absetzung von 'Abraxas' auf das Schärfste kritisierten und darin einen Angriff auf die in der Bayerischen Verfassung garantierte Freiheit der Kunst sahen, beharrte Hundhammer auf sein Recht als Kultusminister, in die Spielpläne der in seinem Verantwortungsbereich befindlichen Staatstheater einzugreifen. Er lehnte es ab, in seinen Augen moralisch verwerfliche Stücke wie 'Abraxas' unter Aufwendung von Steuergeldern dort aufzuführen. In der Zeitungsberichterstattung wurde neben dem Vorwurf der Zensur die rücksichtslose Durchsetzung von Kulturpolitik durch die Landtagsmehrheit der Christlich-Sozialen Union (CSU) thematisiert und vor einem Abwürgen künstlerischer Impulse nach zwölf Jahren NS-Diktatur gewarnt.

Neben der Diskussion um staatliche Eingriffe in die Kunstfreiheit verlief die juristische Auseinandersetzung über Schadenersatzansprüche, die Egk wegen Unterlassung der vertraglich vereinbarten Aufführung von 'Abraxas' vom Bayerischen Staat forderte. Am 19. April 1951 erfolgte vor dem Landgericht München die Beweisaufnahme in dieser Angelegenheit, bei der Egk die Verantwortung für die umstrittene Choreographie auf Luipart abzuwälzen suchte. Zu einem Gerichtsprozess kam es nicht, stattdessen wurde im August ein Vergleich zwischen den um Deeskalation bemühten Streitparteien geschlossen, der die Bayerische Staatsoper verpflichtete, drei Werke Egks unter dessen Leitung aufzuführen. Egk sollte dafür mit jeweils 10.000 DM vergütet werden.

Nachwirkungen

Szene aus der "Abraxas"-Aufführung in der Städtischen Oper Berlin am 8. Oktober 1949. (Deutsche Fotothek, df_pk_0000786_001)

Die in Bayern stattgefundenen Kontroversen um 'Abraxas' waren dem Renommee des Stücks nicht abträglich, sondern steigerten im Gegenteil dessen Bekanntheitsgrad. In den folgenden Jahren inszenierte Egk sein Faustballett in einer abgemilderten Form an anderen Spielstätten (u.a. Berlin, Hamburg, Stockholm, Stuttgart). An den Staatstheatern in München blieb es hingegen auch nach dem Ende von Hundhammers Amtszeit als Kultusminister im Dezember 1950 weiterhin tabu (auch in den Jahren der sog. Vierer-Koalition 1954-1957). Im März 1951 versuchte die Staatskanzlei sogar eine von einem privaten Veranstalter im Kongreßssaal des Deutschen Museums inszenierte Aufführung zu unterbinden. Erst anlässlich von Egks 100. Geburtstag 2001 wurde 'Abraxas' wieder im Prinzregententheater gezeigt.

Der Streit um 'Abraxas' war vor allem auch eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Egk und Hundhammer: der brüskierte Komponist wollte Hundhammer wegen Beleidigung ("Wer die Schweinerei sehen will, kann ihr ruhig nachlaufen.") verklagen und suchte dessen politische Gegner gegen ihn zu mobilisieren. Hundhammer ließ Egks Spruchkammerverfahren und damit dessen NS-Vergangenheit näher unter die Lupe nehmen.

Jenseits dieses Konflikts kam es allerdings zu keiner nachhaltigen Störung des Verhältnisses Egks zum Bayerischen Staat: 1951 wurde er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1954 begann ein zwanzig Jahre währendes Arrangement Egks an der Bayerischen Staatsoper. Er erhielt 1962 den Bayerischen Verdienstorden, 1981 den Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst.

Werner Egk steht den Journalisten auf einer Pressekonferenz in Bad Segeberg am 18.12.1950 zum Ballett "Abraxas" Rede und Antwort. (Interfoto/Friedrich 00436351)

Ebenfalls standen die Abgänge Luiparts im August 1948 (Nichtverlängerung des Vertrags wegen Diebstahls von Tanzschuhen) und Hartmanns 1951 (Nichtverlängerung des Vertrags auf eigenen Wunsch) aus München in keinem Zusammenhang zu 'Abraxas'.

Für Egk dürfte der Abraxas-Skandal auch in anderer Hinsicht von Bedeutung gewesen sein: Aufgrund seiner glänzenden Karriere im Nationalsozialismus (1936 Kapellmeister der Berliner Staatsoper, 1941 Leiter der Fachschaft Komponisten in der Reichsmusikkammer, 1944 Aufnahme in die 'Gottbegnadeten-Liste') hatte sich Egk in der Nachkriegszeit als Nutznießer einem Spruchkammerverfahren zu unterziehen. Trotz antisemitischer Tendenzen in Opern wie 'Die Zaubergeige' und 'Peer Gynt' und seiner hervorragenden Rolle im nationalsozialistischen Kulturleben konnte sich Egk als Gegner des NS-Staats inszenieren und seine Einstufung als vom Entnazifizierungsgesetz nicht Betroffener erreichen. Das Urteil der Spruchkammer München wurde allerdings erst drei Monate vor der Uraufführung von 'Abraxas' endgültig rechtskräftig. Inwieweit die Aufführung eines Balletts (klassisches Ballett war im Nationalsozialismus als undeutsch verpönt), das auf einer Vorlage des jüdischstämmigen Heinrich Heine basierte und dessen Hauptrollen im Juni 1948 mit französischen und tschechischen Tänzerinnen besetzt waren, als erstes Werk nach 1945 Teil einer groß inszenierten Selbstreinigung Egks von seiner NS-Vergangenheit zu sehen ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Durch den Skandal um 'Abraxas' als ein von ungerechter Zensur Gebrandmarkter, dürfte Egk jedenfalls Diskussionen um seine NS-Vergangenheit endgültig überwunden haben.

Resümee

Der Skandal um 'Abraxas' verfestigte das Bild Bayerns als Vorreiter einer restaurativ-katholischen Kulturpolitik. Allerdings handelte es sich bei den Vorgängen um Egks Münchner Inszenierung um keinen außerordentlichen Einzelfall. Filme, Opern- oder Theaterstücke waren wie bereits in vorangegangenen Zeiten auch in der Bundesrepublik immer wieder von Zensurmaßnahmen betroffen und/oder wurden abgesetzt (z.B. 1951 'Die Sünderin' wegen Zurschaustellung von Prostitution, Sterbehilfe und Selbstmord, 1985 'Der Müll, die Stadt und der Tod' in Frankfurt/Main wegen Antisemitismusvorwürfen, 2006 'Idomeneo' in Berlin wegen Religionsschmähung und Furcht vor islamistischer Gewalt). Dass sich der Umgang mit 'Abraxas' zum ersten größeren Skandal im bayerischen Kulturbetrieb der Nachkriegszeit entwickelte, mag auch der Prominenz der beiden maßgeblichen Protagonisten Egk und Hundhammer geschuldet gewesen sein, die die seit 1949 geführte Kontroverse beständig befeuerten. Die Auseinandersetzung um ‚Abraxas‘ widmete sich auch der Frage, welche Freiräume bzw. Grenzen progressive Kunst in der noch jungen bayerischen Demokratie hatte und wie viel Einfluss parlamentarische Mehrheiten in der Durchsetzung von Kulturpolitik nehmen dürften.

Das Stück 'Abraxas' selbst trat in der Rezeption hinter den Skandal zurück. Es galt relativ bald als veraltet und nimmt im Gesamtrepertoire Egks keine herausragende Rolle ein.

Literatur

  • Gerhard Brunner, Aus der Zeit des Tanztheaters. An der Ostberliner Komischen Oper: Abraxas blieb provinziell, in: Express, 15.3.1967 (Morgenausgabe).
  • Iris Julia Bührle, Literatur und Tanz. Die choreographische Adaptation literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute, Würzburg 2014.
  • Michael Custodis/Friedrich Geiger, Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel (Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik 1), Münster 2013.
  • Klaus Kanzog, Ballettzensur. Öffentliche Moral und geschäftliche Interessen. Werner Egks "Faustballett" "Abraxas" (1948) in der Bayerischen Staatsoper, in: Beate Müller (Hg.), Zensur im modernen deutschen Kulturraum (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 94), Tübingen 2003, 115-129.
  • Thomas Poeschel, Abraxas Höllen-Spectaculum. Ein zeitgeschichtliches Libretto des deutschen Nationalmythos von Heinrich Heine bis Werner Egk, Berlin 2002.
  • Anna Kreszentia Schamberger, "Keine Reue! Heil!". Eine Studie zu Werner Egk und seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus, München 2024.
  • Jürgen Schläder (Hg.), Werner Egk - eine Debatte zwischen Ästhetik und Politik (Studien zur Münchner Theatergeschichte 3), München 2008.
  • Ulrike Stoll, Kulturpolitik als Beruf. Dieter Sattler (1906-1968) in München, Bonn und Rom (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 98), Paderborn u. a. 2005, 215-224.
  • Christiane Wilke, Das Theater der großen Erwartungen. Wiederaufbau des Theaters 1945-1948 am Beispiel des Bayerischen Staatstheaters (Europäische Hochschulschriften 3/507), Frankfurt am Main u. a. 1992, 111-127.

Quellen

Externe Links

Fall Abraxas

Empfohlene Zitierweise

Ulrike Natzer/Bernhard von Zech-Kleber/Daniel Rittenauer, Abraxas-Skandal, publiziert am 13.12.2016 (Aktualisierte Version 24.04.2024), in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Abraxas-Skandal> (6.12.2025)