Vertriebenengemeinden und -siedlungen
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gründeten Flüchtlinge bzw. Vertriebene aus dem Osten in Bayern die Gemeinden Waldkraiburg (Lkr. Mühldorf a.Inn), Traunreut (Lkr. Traunstein), Geretsried (Lkr. Bad-Tölz-Wolfratshausen) und Neutraubling (Lkr. Regensburg), ferner Neugablonz (Stadt Kaufbeuren). Alle diese Gemeinden bzw. Siedlungen entstanden auf ehemaligem Wehrmachtsgelände. Sie waren zunächst durch einen hohen Anteil an Sudetendeutschen gekennzeichnet, später siedelten sich auch Menschen aus dem ländlichen Umfeld, Gastarbeiter und Spätaussiedler an. Wirtschaftlich waren die Vertriebenengemeinden und -siedlungen von der traditionellen Flüchtlingsindustrie geprägt; es kamen aber auch neue Industriezweige hinzu. Die starke Migration resultierte in Multikulturalität, was sich u. a. in den zahlreichen Vereinen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund widerspiegelt.
Definition
Unter Vertriebenen- bzw. Flüchtlingsgemeinden in Bayern versteht man vier Gemeinden, die in den Jahren 1950/51 überwiegend von Flüchtlingen bzw. Vertriebenen aus dem Osten gegründet wurden. Es handelt sich dabei um Waldkraiburg, Traunreut und Geretsried in Oberbayern sowie Neutraubling in der Oberpfalz. Als weitere Vertriebenensiedlung mit städtischen Strukturen entwickelte sich ab 1946 die Siedlung Neugablonz im Allgäu, die zwar seit 1950 ein Stadtteil von Kaufbeuren ist, aber dennoch viele Besonderheiten mit den oben genannten Vertriebenengemeinden teilt. Waldkraiburg und Traunreut wurden 1960, Geretsried 1970 und Neutraubling 1986 zur Stadt erhoben, nachdem sie die Schwelle von 10.000 Einwohnern erreicht hatten. Die von Flüchtlingen 1951 gegründete Gemeinde Neuwildflecken in der Rhön musste später wieder aufgegeben werden. In zahlreichen weiteren bayerischen Gemeinden entstanden geschlossene Vertriebenensiedlungen rund um wiederaufgebaute Flüchtlingsindustrien. So fanden im mittelfränkischen Bubenreuth (Lkr. Erlangen-Höchstadt) die Schönbacher Geigenbauer, im oberpfälzischen Vohenstrauß (Lkr. Neustadt an der Waldnaab) die Haida-Steinschönauer Glasindustrie eine neue Heimat; Gablonzer Glasverarbeiter gelangten nicht nur ins Allgäu, sondern u. a. auch nach Weidenberg und Warmensteinach (beide Lkr. Bayreuth).
Außerhalb Bayerns sind die heutigen Städte Stadtallendorf in Hessen, Espelkamp in Westfalen und die Gemeinde Trappenkamp in Holstein aus Vertriebenensiedlungen hervorgegangen.
Vorgeschichte
Die vier genannten Gemeinden sowie die Siedlung Neugablonz wurden alle auf ehemaligem Wehrmachtsgelände gegründet. Neutraubling entstand auf dem Gelände eines ehemaligen Fliegerhorsts mit Flugzeugproduktion, die anderen auf dem Gebiet ehemaliger Munitionsfabriken, die gut getarnt innerhalb ausgedehnter Waldgebiete angelegt worden waren. Die Wehrmachtsanlagen mit ihren Bunkern und Baracken waren durch massive amerikanische Demontagen und in Waldkraiburg sowie in Neutraubling auch durch Luftangriffe erheblich zerstört worden und nur schwer für zivile Zwecke verwendbar. In Traunreut waren schwierige Entgiftungsmaßnahmen erforderlich. Die Standorte der Rüstungsindustrien bedeuteten für die späteren Siedlungen erschwerten Zugang zum Straßen- und Schienenverkehr, aber auch zusätzliche Lebensqualität durch eine naturnahe Umgebung.
Auf dem Gebiet der hier genannten Vertriebenensiedlungen waren während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter vor allem aus Mittel- und Osteuropa eingesetzt worden, die durch die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und teilweise auch durch amerikanische Bombardements hohe Verluste erlitten. Diese Vorgeschichte bedeutete eine Hypothek für die neuen Siedlungen, die lange Zeit verdrängt wurde, obwohl die ehemaligen Zwangsarbeiter als Displaced Persons (DPs) in den ersten Nachkriegsjahren noch nahebei wohnten. Mittlerweile wurden für sie jedoch Mahnmale aufgestellt oder Gedenkräume in den städtischen Museen eingerichtet. Dies gilt auch für die (ehemalige) Vertriebenensiedlung "Waldram" (Stadt Wolfratshausen), die ab 1957 vom Kath. Siedlungswerk auf dem Gelände des früheren DP-Lagers Föhrenwald errichtet wurde.
Entstehung und Gemeindegründung
Am Anfang der neuen Gemeinden und -siedlungen standen einzelne Industrielle und Wirtschaftsfachleute wie Erich Huschka (1912-1998) und Fritz Enz (1908-1990) in Neugablonz oder Emil Lode (1906-1986) in Waldkraiburg, die vor dem Neuaufbau ihrer Existenz standen. Huschka bemühte sich bereits Ende 1945 um eine geschlossene Wiederansiedlung der Gablonzer Schmuckindustrie und wandte sich mit seinem Anliegen an das bayerische Wirtschaftsministerium. Anfang 1946 kamen dann die ersten Vertriebenen aus dem Raum Gablonz (Nordböhmen) in Kaufbeuren an, um als Arbeitskräfte daran mitzuwirken. Ähnlich wie in Neugablonz, wenn auch weniger koordiniert, verlief die Entwicklung später an den anderen Orten. Während die Werkstätten und später auch die Siedlungen überwiegend auf dem ehemaligen Wehrmachtsgelände entstanden, mussten die Arbeiter zunächst in Flüchtlingslagern untergebracht werden. Neben dem Wirtschaftsministerium bemühten sich auch regionale und lokale Stellen um die Flüchtlingsindustrien. Der bayerische Ministerrat diskutierte weitere größere Ansiedlungsprojekte in Oberfranken und Niederbayern, die sich aber aufgrund der dortigen Gegebenheiten bzw. der ablehnenden Haltung des Landtags nicht verwirklichen ließen.
Da außer im Falle von Neugablonz die ländlichen Umlandgemeinden mit der Versorgung der neuen Siedlungen überfordert waren, wurden neue Gemeindegründungen nötig. Diese wurden durch einen Ausschuss vorbereitet und erfolgten durch das bayerische Innenministerium in Waldkraiburg und Geretsried am 1. April 1950, in Traunreut am 1. Oktober 1950 und in Neutraubling am 1. April 1951. Während die Gemeinde Geretsried hauptsächlich aus ehemals gemeindefreiem Gebiet gebildet wurde, mussten im Falle Waldkraiburgs Flächen umliegender Gemeinden in Anspruch genommen werden; Neutraubling entstand teilweise auf früherem Grund des Fürsten von Thurn und Taxis. Allerdings blieb in den meisten Fällen bis in die 1950er Jahre hinein der größte Teil der ehemaligen Wehrmachtsgelände Staatseigentum (LfA) und wurde den Gemeinden und Siedlern nur miet- oder pachtweise überlassen, was die gemeindliche Entwicklung tendenziell verzögerte.
Industrie
Unter den Industriebetrieben galt den traditionellen Flüchtlingsindustrien mit arbeitsintensiver Produktion und starker Exportorientierung staatlicherseits das größte Augenmerk. Dazu gehörte etwa die Gablonzer Schmuckindustrie in Neugablonz, die Glasherstellung in Neugablonz und Waldkraiburg oder der Musikinstrumentenbau in Waldkraiburg und Geretsried. Zunächst konnten diese Industrien mit Hilfe staatlicher Kredite zwar wieder an ihre frühere Stellung anknüpfen, in den 1960er Jahren mussten aber mehrere Betriebe wegen der ausländischen Billigkonkurrenz schließen, so auch der traditionsreiche Betrieb "Müllers Karlsbader Backpulver" in Neutraubling. Aber nicht alle Flüchtlinge bauten ihre früheren Betriebe wieder auf, sondern es gab auch völlige Neugründungen und ambitionierte Aktivitäten nord- und mitteldeutscher Unternehmer. So kamen die wichtigsten Arbeitgeber in Traunreut, das Hausgerätewerk der Firma Siemens sowie das Optikwerk Heidenhain, aus Berlin. In Neutraubling gründete der gebürtige Oberpfälzer Maschinenbauer Hermann Kronseder (1924-2010) die Firma Krones. Die Industriebetriebe der Vertriebenengemeinden schlossen sich häufig zu Interessenvereinigungen zusammen und verfügten über erheblichen politischen Einfluss vor Ort. Die neuen Gemeinden verstanden sich in Abgrenzung von der bäuerlichen Umgebung eher als "Industriegemeinden" denn als "Vertriebenengemeinden". Nach wie vor bieten die vier bayerischen Vertriebenenstädte innerhalb ihrer Landkreise überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze und erzielen hohe Gewerbesteuereinnahmen.
Bevölkerungsstruktur
Zum Zeitpunkt ihrer Gründung hatten die neuen Siedlungen zwischen 1.300 und 3.000 Einwohner. Diese waren zu über 80 % Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie den deutschen Siedlungsgebieten in Böhmen und Mähren und in Südosteuropa. Dabei war der Anteil der Sudetendeutschen unter allen Neubürgern, gemessen am bayerischen Durchschnitt von etwa 50 %, überdurchschnittlich hoch: Mit Ausnahme von Traunreut lag er überall über 60 %, in Neugablonz sogar bei etwa 90 %. Die meisten der sudetendeutschen Arbeiter und Unternehmer in den Neugemeinden stammten aus Nordböhmen und dem Egerland. Nur Traunreut verzeichnete aufgrund der örtlichen Industriestruktur neben einem höheren Anteil an Südostdeutschen auch zahlreiche Zuwanderer aus Berlin und Mitteldeutschland. Der Anteil der Schlesier betrug durchschnittlich 10-15 %, lag also deutlich unter dem bayerischen Durchschnitt von 25 %, aus Pommern und Ostpreußen stammten nur etwa 5 %. Bereits in den 1950er Jahren gab es auch eine zunehmende Zuwanderung aus dem bayerischen Umland, sodass der Anteil an Vertriebenen bald merklich zurückging. An die Herkunftsorte und -regionen der ursprünglichen Bewohner erinnern noch heute zahlreiche Straßennamen und einige Denkmäler.
Der Rüdiger-Brunnen im Kaufbeurer Stadtteil Neugablonz wurde 1968 aus Gablonz a.d. Neiße (Jablonec) angekauft. Das Relief und die Bronzefigur des Rüdiger von Bechelaren - eine Gestalt der Nibelungensage - fertigte der aus Böhmen stammende Bildhauer Franz Metzner (1870-1919). (Foto von VanGore lizensiert durch CC0 1.0 via Wikimedia Commons)
Im Jahr 2006 wurde in Waldkraiburg ein Mahnmal der Vertreibung eingeweiht. Geschaffen hat es der aus dem schlesischen Deutsch-Piekar (Polen) stammende und in Waldkraiburg beiheimatete Bildhauer Matthäus Rutkowski (geb. 1975). Das Mahnmal zeigt eine aus einem Monolith herausgearbeitete Figur und ist aus Warthauer Sandstein aus Schlesien gearbeitet. Es stellt die Entwurzelung der Vertriebenen aus der Heimat dar. (Foto: Stadtarchiv Waldkraiburg)
Konfessionell dominierten wegen des starken sudetendeutschen Anteils überall die Katholiken; die kirchliche Bindung war allerdings deutlich niedriger als im ländlichen bayerischen Umland. Das Schulwesen war, anders als damals in Bayern üblich, von Anfang an überkonfessionell. Während zunächst für beide Konfessionen meist gemeinsame Notkirchen in den Flüchtlingslagern bestanden, wurden in den 1950er Jahren katholische und evangelische Gemeinden gegründet und Kirchengebäude gebaut. Die entstehenden evangelischen Gemeinden wurden vorwiegend von schlesischen Zuwanderern getragen.
Stadtplanung und -entwicklung
Obwohl die neuen Gemeinden anfangs nur einige Tausend Einwohner hatten, waren die kommunalen Planungen von Anfang an auf eine städtische Entwicklung mit kontinuierlichem Wachstum angelegt. Die Siedlungsstruktur folgte zunächst den räumlichen Gegebenheiten des ehemaligen Rüstungsgeländes. In den Siedlungskernen dominierten lange Zeit Wohnblöcke in der einheitlichen Bauweise der 1950er Jahre, die mittlerweile zum Teil wieder abgerissen und durch Neubauten ersetzt worden sind. Die Industriebetriebe waren anfänglich vor allem in früheren Militärbauten untergebracht. Später folgten neben einigen Wohnhochhäusern Siedlungen mit Einfamilienhäusern im Stil der 1960er und 1970er Jahre. Obwohl etwa in Waldkraiburg und Geretsried sudetendeutsche Architekten maßgeblich am Aufbau beteiligt waren und teilweise von Gründungen "aus wilder Wurzel" im Sinne der mittelalterlichen deutschen Ostkolonisation die Rede war, knüpfte man architektonisch nicht an sudetendeutsche Muster an; lediglich in Neugablonz wurden einzelne Alt-Gablonzer Architekturmuster aufgenommen. Eine Besonderheit der Vertriebenengemeinden ist jedoch ihre weitläufige Anlage mit vielen Grünflächen.
Die Kommunen tauschten sich untereinander aus und es fanden wiederholt gegenseitige Besuche und Treffen von Kommunalpolitikern und Fachleuten statt. Überregional wurden die Vertriebenensiedlungen und -gemeinden seit 1945 vor allem von Seiten der Landesplanung wahrgenommen. Die zunehmende städtische Entwicklung erforderte seit den 1960er Jahren einen Ausbau der kommunalen Infrastruktur durch weiterführende Schulen, neue Rathäuser, Sportanlagen, Parks, schließlich auch Kulturhäuser, Museen und ähnliche Einrichtungen.
Politisches Leben
Politisch zeichneten sich die neuen Gemeinden, bedingt durch ihre Sozialstruktur, zunächst durch hohe Wähleranteile für die SPD aus, deren Ortsverbände unmittelbar an die sudetendeutsche Tradition anknüpfen konnten. Auch die Flüchtlingspartei BHE konnte in den 1950er Jahren besonders bei Landtags- und Bundestagswahlen sehr gute Ergebnisse erzielen, trat aber bei Kommunalwahlen meist nicht an. Die CSU, die als betont bayerisch auftretende Partei anfänglich weniger Zulauf hatte, konsolidierte sich erst in den 1960er Jahren auf lokaler Ebene; stattdessen kandidierten bei den Gemeinderats- und auch Bürgermeisterwahlen zunächst meist überparteiliche Bewerber, die sich, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen in Traunreut und Neutraubling, überwiegend aus Vertriebenen rekrutierten. In Neugablonz etwa war der letzte deutsche Bürgermeister von Gablonz als dritter Bürgermeister von Kaufbeuren maßgeblich am Aufbau der Siedlung beteiligt. Die Kommunalpolitik und -verwaltung war anfangs vielfach durch Improvisation, aber auch durch eine parteiübergreifende und sachorientierte Grundhaltung geprägt. Ab den 1970er Jahren dominierte auch in den Vertriebenengemeinden meist die CSU.
Kulturelles Leben
Kulturell waren in den Vertriebenengemeinden neben den üblichen Vereinen die Landsmannschaften der Vertriebenen, deren Redner häufig dort auftraten, und kleinere Heimatgruppen (z. B. die Egerländer ["Eghalanda Gmoin"], die Böhmerwäldler und verschiedene nordböhmische Gruppen) bestimmend. Die Sudetendeutschen brachten auch Traditionen wie das Sonnwendfeuer mit und pflegten, so besonders in Waldkraiburg, das Turnen, oder, wie in Traunreut, den Gesang. Auch einzelne schlesische Bräuche wie das Sommersingen fanden Eingang, konnten sich aber wie auch die Dialekte der einzelnen Gruppen nicht dauerhaft halten.
Trotz der Aktivitäten der Landsmannschaften war die Rückkehrorientierung der Vertriebenen in den Vertriebenengemeinden tendenziell geringer als anderswo, da viele ein Stück Heimat an Ort und Stelle verwirklicht sahen. Auch einige prominente Sudetendeutsche nahmen dort ihren Altersruhesitz, so der Schriftsteller Erwin Guido Kolbenheyer (1878-1962) in Geretsried, der Maler Ferdinand Staeger (1880-1976) in Waldkraiburg und der Historiker und Archivar Kurt Oberdorffer (1900-1980) in Traunreut. Alle drei waren und sind wegen ihrer NS-Vergangenheit nicht unumstritten. Der gemeindliche Zusammenhalt der verschiedenen Gruppen wurde durch regelmäßige Ortsfeste und –jubiläen gefestigt. Durch den Mitgliederschwund der Landsmannschaften und Heimatgruppen in den letzten Jahrzehnten sind deren folkloristische Aktivitäten und damit auch die kulturellen Besonderheiten der Städte stark zurückgegangen; teilweise wandte man sich sogar bewusst von der eigenen Vergangenheit ab und folgte modernen überregionalen Entwicklungen. Nach der "Wende" von 1989 haben die Städte, z. T. in Kooperation mit tschechischen Partnern, mehrere Ausstellungen mit deutsch-böhmischem Hintergrund gezeigt und dadurch zum kulturellen Austausch beigetragen.
Migration und Integration
Die Bevölkerungsstruktur der Vertriebenengemeinden war seit ihrer Gründung einem ständigen Wandel ausgesetzt: In den 1950er Jahren kamen vorwiegend Zuwanderer aus dem bayerisch geprägten Umland und Spätaussiedler aus Rumänien, in den 1960er Jahren folgten zahlreiche Gastarbeiter aus Südeuropa und vor allem der Türkei und ab den 1980er Jahren wieder Spätaussiedler aus Polen, Rumänien und der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten, die meist nur rudimentäre Deutschkenntnisse hatten.
Die anhaltende Zuwanderung resultierte aus der starken Nachfrage nach Arbeitskräften, wurde aber auch staatlicherseits durch die Bereitstellung von Unterkünften und die Unterstützung von Integrationsmaßnahmen gelenkt und gefördert. Dadurch beträgt der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund - also Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die seit 1956 ins Land gekommen sind, sowie deren Nachkommen - in allen vier Gemeinden inzwischen zwischen 40 und 50 % (Zensus 2011), die höchsten Werte bayernweit. Die Eingliederung der Neuankömmlinge wird auch von staatlicher Seite als große kommunale Leistung gewürdigt, ist jedoch vor allem bei den Russlanddeutschen noch nicht abgeschlossen; deren gesellschaftliche Aktivität ist nach wie vor gering.
Die Eingemeindung mehrerer kleinerer Umlandgemeinden im Zuge der Gebietsreform der 1970er Jahre führte dagegen zu keiner wesentlichen Veränderung der Bevölkerungsstruktur.
Durch die Zuwanderung ergab sich bis gegen 2000 ein stetiger Bevölkerungszuwachs auf rund 20.000–23.000 Einwohner in Geretsried, Traunreut und Waldkraiburg und ca. 13.000 Einwohner in Neutraubling. Seitdem stagnieren die Zahlen jedoch. Obwohl sich die (ehemaligen) Vertriebenengemeinden auf vielen Feldern vergleichbaren bayerischen Städten angenähert haben, bleiben sie mit ihrer Bevölkerungsstruktur nach wie vor Orte der Multikulturalität und Vielfalt inmitten einer meist ländlich geprägten Umgebung. Dies wird nicht nur durch Sprache und Kleidung, sondern beispielsweise auch durch türkische Vereine, islamische Religionsgemeinschaften und interkulturelle Veranstaltungen deutlich. Die anhaltend starke Migration bildet eine wesentliche Erklärung dafür, dass sich eine bayerische oder spezifisch lokale Identität unter den Einwohnern nur relativ schwach ausprägen konnte.
Literatur
Allgemein
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- Bernhard Taubenberger, Erich Kohlrausch. 1899-1960. Ein deutsches Leben, München 2010, 198-214.
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Flüchtlingsgemeinden, Flüchtlingssiedlungen
Geretsried
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- Judith Holuba, Zwischen Identitätsbewahrung und Anpassung. Die sprachliche Integration der Heimatvertriebenen im Raum Kaufbeuren/Neugablonz im Spannungsfeld zwischen Dialekt und Hochsprache (Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen 6), München 2000.
- Nadine Skacha, Die Selbstwahrnehmung der Vertriebenen in Neugablonz. Kontinuität als Isolationsfaktor?, in: Marita Krauss (Hg.), Erinnerungskultur und Lebensläufe. Vertriebene zwischen Bayern und Böhmen im 20. Jahrhundert. Grenzüberschreitende Perspektiven, München 2013, 269-280.
- Walter Ziegler, Neugablonz. Eine neue Heimat für die Vertriebenen, in: Alois Schmid/Katharina Weigand (Hg.), Schauplätze der Geschichte in Bayern, München 2003, 405-425.
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- Elisabeth Fendl, Aufbaugeschichten. Eine Biographie der Vertriebenengemeinde Neutraubling (Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde 91), Marburg 2006.
- Josef Fendl (Hg.), Neutraubling. Junge Stadt im alten Donaugau, Neutraubling 1989.
- Matthias Meinert, Neutraubling. Geschichte und Entwicklung seit der Stadterhebung, in: Neutraublinger Blätter 3 (2001/2002), 7-45.
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- Axel Effner, Traunreut, Europastadt voller Dynamik, Traunreut 2009.
- Claudia Maria Schemmer, Internationalisierung im ländlichen Raum. Traunstein 1945-1989 (Münchener historische Studien. Abteilung Bayerische Geschichte 25), Kallmünz 2016, 92-112.
- Sigrid Zerlik, Die Neugemeinde Traunreut im Chiemgau in volkskundlicher Sicht. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 8 (1964), 3-36.
Waldkraiburg
- Konrad Kern (Hg.), Waldkraiburg erzählt. Geschichte einer jungen Stadt, Waldkraiburg 1999.
- Martin Renghart, Erinnerungen und Identitäten in Waldkraiburg. 1950 bis 2016, in: Jahrbuch Kulturelle Kontexte des östlichen Europa 62 (2021), 190-230.
- Barbara Würnstl, Vom Rüstungswerk zur Idealstadt: urbanistische und militärische Interdependenzen in der Planung der Vertriebenenstadt Waldkraiburg und dem zeitgenössischen Theoriekontext, in: Bohemia 50 (2010), 301-332.
Quellen
- Glettler, Monika (Hg.), Landtagsreden zur bayerischen Vertriebenenpolitik 1946-1950, München 1993 (Veröffentlichungen des Sudetendeutschen Archivs), 299-347 [Projekt Neuheim am Römerweg, Landkreis Deggendorf], 455-462 [Kaufbeuren/Neugablonz].
- Protokolle des Bayerischen Ministerrats, Ministerratssitzung vom 2.5.1946, TOP VI. Gablonzer Glasindustrie
- Protokolle des Bayerischen Ministerrats, Ministerratssitzung vom 27.9.1946, TOP XIII. Gablonzer Industrie
- Protokolle des Bayerischen Ministerrats, Ministerratssitzung vom 1.3.1947, TOP IV. Siedlung Neuheim am Römerweg bei Osterhofen
- Protokolle des Bayerischen Ministerrats, Ministerratssitzung vom 17.3.1947, TOP XVIII. Siedlung Neuheim am Römerweg bei Osterhofen
- Protokolle des Bayerischen Ministerrats, Ministerratssitzung vom 29.3.1947, TOP XVI. Siedlung Neuheim am Römerweg bei Osterhofen
- Protokolle des Bayerischen Ministerrats, Ministerratssitzung vom 19.4.1947, TOP XIV. Siedlung Neuheim am Römerweg
- Protokolle des Bayerischen Ministerrats, Ministerratssitzung vom 17.7.1947, TOP IV. Flüchtlingssiedlung Neuheim am Römerweg, Landkreis Vilshofen
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Empfohlene Zitierweise
Martin Renghart, Vertriebenengemeinden und -siedlungen, publiziert am 18.12.2017, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Vertriebenengemeinden_und_-siedlungen> (11.10.2024)