• Versionsgeschichte

Vertriebenenverbände

Aus Historisches Lexikon Bayerns

(Weitergeleitet von Vertriebenenverbände)
Hans Schütz (1901-1982), Sudetendeutscher, Mitbegründer der CSU und von 1946 bis 1970 Vorsitzender der Ackermann-Gemeinde, MdB (1949-1963), in Bayern Staatssekretär und Staatsminister für Arbeit und Soziales (1962-1966). Hier bei einem Gespräch im Rahmen der Jungen Aktion der Ackermann Gemeinde, ca. 1980. (Foto Wikimedia Commons)
Georg von Manteuffel-Szoege (1889-1962), Deutschbalte, seit 1950 Vorsitzender der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft, MdB für die CSU (1953-1962) und profilierter Außenpolitiker, Vorsitzender des VdL (1954-1959), Mitglied des Präsidiums des BdV (1959-1962). (Foto von Wulf-Henrik v. Krosigk, lizensiert durch CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)
Herbert Prochazka (1923-2007), Sudetendeutscher, Witikobund, 1958-1962 MdL für den BHE, Mitvorsitzender des Hauptausschusses der Ausgewiesenen und Flüchtlinge in Bayern, 1965-1968 und 1972 MdB für die CSU. (Foto: Bildarchiv Bayerischer Landtag)
Richard Reitzner (1893-1962), Sudetendeutscher, SPD, stellvertretender Landesvorsitzender (1948-1949), stellvertretender Staatssekretär für das Flüchtlingswesen in Bayern (1947 bis 1948), MdB (1949-1962), dort profilierter Vertriebenenpolitiker, Mitbegründer der Sudetendeutschen Landsmannschaft. (Foto: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung/FA008360)
Volkmar Gabert (1923-2003), Sudetendeutscher, Seliger-Gemeinde, MdL (1950-1978) für die SPD, 1962 bis 1976 Vorsitzender der SPD-Fraktion, 1963-1972 Landesvorsitzender der SPD, MdEP (1978-1984). (Foto: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung/FA079744)

von Matthias Stickler

Der Begriff bezeichnet Verbände, die die Interessen von Menschen vertreten, die aufgrund von Flucht oder Vertreibung ihre Heimat verlassen mussten. Hierzulande umfasst der Begriff insbesondere die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland als Zusammenschluss sog. Heimatvertriebener gegründeten Organisationen. In Bayern entstanden sehr früh Vertriebenenorganisationen auf lokaler Ebene; die erste landsmannschaftliche Vereinigung in Bayern wie auch in Deutschland war die "Sudetendeutsche Hilfsstelle", die am 12. Juli 1945 in München gegründet wurde. Eine rigide Lizensierungspraxis der Westalliierten, die zunächst die Bildung von Vertriebenenorganisationen zu verhindern suchten, führte u. a. dazu, dass auf Landesebene verschiedene Interessenvertretungen für die sog. Heimatvertriebenen entstanden, die lange Zeit miteinander konkurrierten. Nachdem erste Fusionsversuche gescheitert waren, erfolgte 1957/58 schließlich die Gründung eines Dachverbandes unter dem Namen "Bund der Vertriebenen. Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände" (BdV). Die Vertriebenenverbände legten sich weder in Bayern noch im Bund auf eine einzige politische Partei fest. Eine wichtige Rolle spielte in Bayern bis Anfang der 1960er Jahre die Partei "Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE). Bereits ab Mitte der 1950er Jahre setzte jedoch ein schleichender Niedergang der Vertriebenenverbände ein (starker Mitgliederschwund, Überalterung, Verlust der politischen Bedeutung), der letztlich eine Neuausrichtung an der Wende zum 21. Jahrhundert zur Folge hatte (z. B. Schutz nationaler Minderheiten, Engagement gegen neue Vertreibungen).

Die Entstehung des Bundes der Vertriebenen (BdV)

Die Vertriebenenverbände gehören zu den eigentümlichen Erscheinungen der frühen Bundesrepublik. Obgleich auch andere europäische Staaten nach 1945 erhebliche Probleme mit der Aufnahme und Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen hatten, entwickelte sich nur in Westdeutschland ein derart differenziertes und einflussreiches Organisationswesen der Betroffenen (1950 in Westdeutschland immerhin knapp 8 Mio. Menschen, was einem Bevölkerungsanteil von etwa 16 % entsprach). Da Bayern nach 1945 eines der Hauptaufnahmeländer für Vertriebene war, entstanden dort – anfangs teilweise getarnt – bereits sehr früh Vertriebenenorganisationen. Die "Sudetendeutsche Hilfsstelle", die am 12. Juli 1945 in München gegründet wurde, war die erste landsmannschaftliche Gründung in Deutschland überhaupt. Nach deren Verbot wurde als Ersatzorganisation der "Hauptausschuss der Flüchtlinge und Ausgewiesenen in Bayern" gegründet (17. Juli 1946).

Anders als die meisten anderen Interessengruppen, denen es nach 1945 überwiegend gelang, beim (Wieder-)Aufbau ihrer Organisationen die überkommene partikularistische Zersplitterung nach weltanschaulichen, religiösen, landsmannschaftlichen oder ständischen Kriterien zu überwinden, blieben die Vertriebenen auf Jahre hinaus gespalten in zwei bzw. - bezieht man die 1950 gegründete Vertriebenenpartei Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) mit ein - drei konkurrierende Interessenvertretungen. Diese Anomalie hängt v. a. damit zusammen, dass die Westalliierten unmittelbar nach Kriegsende durch eine rigide Lizensierungspraxis zunächst die Bildung von Vertriebenenorganisationen zu verhindern suchten, weil sie durch diese Radikalisierungstendenzen befürchteten.

Die Vertriebenenverbände waren insofern "Spätkommer" (Wambach), die versuchen mussten, sich in einem bereits etablierten Parteien- und Verwaltungsstaat zu behaupten. Dem Modell einer "Vertriebenengewerkschaft" mit föderativer Organisation und vorrangig sozialpolitischen Arbeitsschwerpunkten folgte der am 9. April 1949 in Frankfurt am Main gegründete "Zentralverband vertriebener Deutscher" (ZvD). Wesentlich lockerer organisiert waren dagegen die die gemeinsame Herkunft betonenden Landsmannschaften, die sich ebenfalls am 9. April 1949 in Frankfurt am Main zu den "Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften" (VOL) zusammenschlossen.

Drei Jahre später (18. August 1952) wandelten sich die VOL nach erheblichen inneren Auseinandersetzungen in Bad Kissingen in den straffer organisierten "Verband der Landsmannschaften" (VdL) um. Beide Verbände standen nicht zuletzt wegen persönlicher Rivalitäten ihrer Führungspersönlichkeiten zueinander in distanzierter Konkurrenz. Daran scheiterten letztlich auch Anfang der 1950er Jahre Fusionsversuche unter dem Namen "Bund vertriebener Deutscher" (BVD). Erst am 27. Oktober 1957 (bzw. endgültig am 14. Dezember 1958) gelang vor dem Hintergrund massiver Mitgliederverluste des sich seit 1954 als BVD bezeichnenden ZvD die Gründung eines Dachverbandes unter dem Namen "Bund der Vertriebenen. Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände" (BdV).

In der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) bzw. der DDR unterbanden UdSSR und SED nach 1945 dauerhaft die Entstehung von Vertriebenenverbänden. Bayern gehörte zu den Ländern, in denen die Überwindung der organisatorischen Spaltung der Vertriebenen besonders früh versucht wurde: So entstand hier bereits 1953 ein BVD-Landesverband. Bedeutender als dieser waren allerdings die Landsmannschaften; im Vergleich zu Ländern mit ähnlich hohem Vertriebenenanteil, etwa Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Hessen, war Mitte der 1950er Jahre der Organisationgrad des BVD in Bayern mit 1,5 % sehr gering.

Selbstverständnis und verbandspolitisches Auftreten des BdV

Obgleich es sich bei den Vertriebenenverbänden um klassische Lobbyorganisationen handelt, die die Interessen ihrer Mitglieder vertreten, entspricht diese Außensicht nicht dem eigenen Selbstverständnis. Jene verstanden sich vielmehr als eine Art nationaler Avantgarde. Hinter dem teilweise noch bis Anfang der 1990er Jahre vertretenen Anspruch einer Wiedervereinigung Deutschlands (mindestens) in den Grenzen von 1937 stand unausgesprochen die im revisionistischen Denken der 1920er Jahre wurzelnde, völkischer und rassistischer Implikationen allerdings überwiegend entkleidete Vorstellung, dass Deutschland in den Potsdamer Rumpfgrenzen nicht existenzfähig sei und unbedingt als mitteleuropäische Hegemonialmacht wiederhergestellt werden müsse. Deshalb beanspruchten die Vertriebenenverbände in der frühen Bundesrepublik auch (vergeblich) ein quasi öffentliches Wächteramt im Hinblick auf die Deutschland- und Ostpolitik und versuchten eine "ergänzende Außenpolitik" (Wambach) zu betreiben. Mit Kritikern der Verbandspolitik ging der BdV nach innen wie außen äußerst schroff um.

Aufbau des BdV und Organisation

Der BdV ist bis heute eine sehr föderalistisch aufgebaute Organisation. Vorstand und Bundesversammlung können zwar im Namen aller Mitglieder handeln, doch ist die interne Meinungsvielfalt wie auch der Verbandspartikularismus größer als in der Öffentlichkeit meist angenommen wird. Der Verband blieb stets ein im Grunde fragiles Gebilde, weil er als Zusammenschluss von Landesverbänden und Landsmannschaften (ordentliche Mitglieder des BdV) sowie der "Deutschen Jugend des Ostens" (DJO), des "Verbandes Heimatvertriebener Deutscher Studenten" (VHDS), der "Frauenarbeit im BdV e. V.", der "Traditionsgemeinschaft der Leichtathleten aus den deutschen Ostgebieten e. V." (TG), des "Bauernverbandes der Vertriebenen" und der "Vertretung der heimatvertriebenen Wirtschaft" (außerordentliche Mitglieder des BdV) weder ein Zusammenschluss von natürlichen Personen noch ein gemeinsames Exekutivorgan der einzelnen Vertriebenenorganisationen war. Er war lediglich ein autonom handelnder expertokratischer Führungsapparat.

Das BdV-Präsidium bediente sich hierzu seines in Sachbereiche (Referate) gegliederten Apparats und den von diesen betreuten Ausschüssen als organisatorisches Grundgerüst, welches wiederum im Wesentlichen auf den entsprechenden Gremien des vormaligen ZvD/BVD beruhte. Dieses unbürokratische System war insofern von Vorteil, als der BdV dadurch schnell in der Lage war, auf wechselnde politische Situationen zu reagieren; doch bedeutete es andererseits, dass die Vielfalt der Organisationsformen fortbestand und dadurch die Bindungen zwischen Organisierten und Organisierenden geschwächt wurden, was die Wirksamkeit des Verbandshandelns spürbar beeinträchtigte und den politischen Entscheidungsträgern immer wieder ermöglichte, den BdV in der tagespolitischen Auseinandersetzung zu marginalisieren.

Auftreten nach Außen

Die verbandsinternen Probleme versuchten der BdV und seine Mitgliedsorganisationen durch machtvolle öffentliche, bis in die späten 1960er Jahre hinein teilweise mehrere hunderttausend Menschen mobilisierende Großkundgebungen ("Tage der Heimat", "Pfingsttreffen") zu überdecken. Diese verfolgten erstens den Zweck, in der "Heimatfamilie" (Ingeborg Zeiträg) die gemeinsame Abstammung gleichsam sinnlich erfahrbar zu machen, damit deren innere Geschlossenheit zu bekräftigten und einer Assimilierung der "Schicksalsgemeinschaft" in der "Fremde" entgegenzuwirken. Zweitens wurde durch den scheinbar basisdemokratischen Appell an den kollektiv verstandenen Willen der "Volksgruppe" die öffentliche Legitimierung der Verbandspolitik bezweckt und auf diese Weise öffentlicher Druck insbesondere auf die Bundesregierung und die politischen Parteien ausgeübt. Zum ersten Mal wurde diese durchaus erfolgreiche Strategie praktiziert anlässlich der Verkündung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen am 5./6. August 1950 in Stuttgart, die den Willen zur Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands dokumentieren sollte und diese Erklärung verband mit einem Bekenntnis zur Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft und der Forderung nach gleichberechtigter politischer Teilhabe.

Die Rolle des BdV im politischen System der frühen Bundesrepublik und des Freistaats Bayern

Die Vertriebenenverbände bedienten sich bei ihrer Lobbypolitik zeitweise sehr erfolgreich der Strukturen des Partei- und Verwaltungsstaates. Dieser Einfluss wurde in gewissem Sinne allerdings konterkariert und partiell überlagert durch die Funktionsmechanismen der Parteiendemokratie: Im Konfliktfall galt die höhere Loyalität der Vertriebenenpolitiker nämlich in der Regel ihrer Partei. Äußerst erfolgreich agierte die Vertriebenenlobby beispielsweise bei der Gesetzgebung zum Lastenausgleich. Weniger erfolgreich waren die Vertriebenenverbände dagegen auf dem Felde der sog. Heimatpolitik. Sie vermochten hier lediglich retardierend zu wirken und trugen dadurch nicht unerheblich dazu bei, dass die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren immer mehr in die Sackgasse geriet.

Parteipolitisch waren der BdV und seine Vorläuferorganisationen trotz einer erkennbaren Affinität der Mehrheit seiner Mitglieder für die Unionsparteien neutral. In den 1960er Jahren war als Folge des intensiven Werbens v. a. Willy Brandts (SPD, 1913-1992, eigentlich Herbert Ernst Frahm) und Herbert Wehners (KPD, SPD, 1906-1990) um den BdV eine Hinwendung zur SPD zu beobachten. Die deutschnationalen Parolen der damaligen SPD-Führung ("Verzicht ist Verrat!") kamen bei den Vertriebenen an, und es ist auch kein Zufall, dass mit Wenzel Jaksch (SDAP, DSAP, SPD, 1896-1966) und Reinhold Rehs (NSDAP, SPD, CDU, 1901-1971) zwischen 1964 und 1970 zwei SPD-Politiker BdV-Präsidenten waren.

Im Rückblick wird indes deutlich, dass diese Hinwendung der SPD zum BdV vor allem taktische Gründe hatte: Dieser sollte durch Mobilisierung des Vertriebenenklientels der SPD zur Regierungsbeteiligung verhelfen, während im Hintergrund bereits der "Wandel durch Annäherung" (Konzept von Egon Bahr [SPD, 1922-2015, Bundesministerium für besondere Aufgaben 1972-1974]) vorbereitet wurde. Der Übergang der SPD/FDP-Regierung zur Neuen Ostpolitik ab 1969 führte schließlich zur weitgehenden Distanzierung des BdV von der SPD und zu Austritten mehrerer prominenter Vertriebener aus der SPD, darunter etwa des BdV-Vizepräsidenten Herbert Hupka (SPD, CDU, 1915-2006). Dennoch handelte es sich hierbei insgesamt gesehen um Ausnahmen.

Obgleich der Anspruch auf parteipolitische Neutralität nie förmlich aufgegeben wurde, lehnte sich der BdV seither eng an CDU und CSU an. Doch auch dieses Verhältnis war nie frei von Belastungen, da die Union letztlich nicht gewillt war, den weitgesteckten heimatpolitischen Zielsetzungen des BdV zum Durchbruch zu verhelfen. Erst die gemeinsame Opposition gegen die Neue Ostpolitik führte Union und BdV wieder eng zusammen. Die CSU - und hierbei insbesondere Franz Josef Strauß (CSU, 1915-1988, Ministerpräsident 1978-1988) - übernahm bei diesem informellen Bündnis, das ganz offensichtlich das Ziel verfolgte, durch eine Bündelung der bürgerlich-konservativen Kräfte die sozialliberale Koalition im Bund zu stürzen, eine Art Führungsrolle. Vor diesem Hintergrund muss auch die von der bayerischen Staatsregierung angestrengte Klage gegen die Ostverträge vor dem Bundesverfassungsgericht gesehen werden, dessen Urteile (1973 bzw. 1975) von Union und BdV als bedeutender Erfolg gewertet wurden.

Theodor Oberländer (1905-1998), Staatssekretär für das Flüchtlingswesen in Bayern (1950-1953), ursprünglich Mitglied der FDP, dann des BHE, dessen Vorsitzender er zunächst in Bayern (1950-53), schließlich im Bund (1954/55) war, MdL (1950-1953), MdB (1953-1961, 1963-1965), Bundesvertriebenenminister (1953-1960), 1956 Übertritt zur CDU. Foto von 1952. (Bundesarchiv, Bild 183-23645-0002 / CC-BY-SA 3.0)
Walter Stain (1916-2001), Sudetendeutscher, Witikobund, MdL (1950-1962) für den BHE, in Bayern 1953/54 Staatssekretär für Vertriebenenfragen, 1954 bis 1962 Staatsminister für Arbeit und soziale Fürsorge. Foto von 1958. (Foto: Bildarchiv Bayerischer Landtag)

Wie vor allem jüngere Forschungen nachgewiesen haben, gab es im Führungspersonal der Vertriebenenverbände eine nicht unerhebliche Zahl von Politikern, die aus der NS-Zeit politisch belastet waren, in Bayern etwa Walter Stain (NSDAP, GB/BHE, GDP, 1916-2001), Theodor Oberländer (NSDAP, GB/BHE, CDU, 1905-1998) und Walter Becher (NSDAP, DG, GB/BHE, GDP, CSU, 1912-2005). Auch wenn aus heutiger Sicht derartige Kontinuitäten zurecht problematisiert bzw. kritisiert werden, so trugen die Vertriebenenverbände doch im Ergebnis erheblich zur Integration der Mehrheit der alten nationalen Rechten in die Bonner Demokratie bei. Von zentraler Bedeutung war hierbei v. a. die Propagierung einer kämpferischen antikommunistischen Grundhaltung. Dadurch wurde es möglich, der Sowjetunion, völlig ahistorisch, die alleinige Verantwortung für den Verlust der Heimat zuzuschieben und damit die Rolle der Westmächte, aber auch die Verantwortung Deutschlands für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu vernebeln. Dies verhinderte eine Renaissance antiwestlicher Ressentiments der alten deutschen Rechten dauerhaft; "Europa", stets verstanden als Europa der Vaterländer durchaus im gaullistischen Sinne, wurde stattdessen als neue Zukunftshoffnung aufgebaut und die Demokratie als Bollwerk gegen den Bolschewismus attraktiv gemacht. Deshalb gelang es rechtsextremistischen Parteien wie der NPD auch nie, den BdV für ihre Ziele einzuspannen.

Wenn Mitglieder von Vertriebenenverbänden dennoch für die NPD kandidierten – in Bayern etwa Reinhard Pozorny (1908-1993) –, so geschah dies ohne Rückendeckung der Verbandsführungen, da diese sich vom Rechtsextremismus strikt abgrenzten. Erfolglos blieben auch Versuche von linksextremistischer Seite, über den 1951 gegründeten "Westdeutschen Flüchtlingskongress" (WFK), eine von der DDR gesteuerte kommunistische Tarnorganisation, Einfluss auf die Vertriebenen zu gewinnen. Eine Landgeschäftsführung des WFK existierte auch in Bayern; hier wurde der Verband bereits 1957 verboten, 1958 schließlich auch bundesweit.

In Bayern gewann der BdV vor allem deswegen an Bedeutung, weil die CSU seit Mitte der 1950er Jahre die Vertriebenen verstärkt als Wählerklientel entdeckte. Eine besondere Rolle spielte hierbei die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL), die durch die Übernahme der Schirmherrschaft über die "Sudetendeutsche Volksgruppe" durch den Freistaat (1954) eine quasi privilegierte Position erhielt. Doch waren die Vertriebenenverbände auch in Bayern keineswegs auf eine einzige politische Partei festgelegt; vor allem die SPD war über die Seliger-Gemeinde tief im Vertriebenenmilieu verankert. Eine wichtige Rolle spielte bis Anfang der 1960er Jahre auch der BHE, der von 1950 bis 1962 in wechselnden Koalitionen an der Regierungsbildung beteiligt war. Als der BHE bzw. die GDP in den 1960er Jahren immer mehr zerfiel, wechselten viele prominente Mitglieder dieser Partei, darunter zahlreiche Angehörige des Witikobundes, in die CSU, deren nationalkonservativer Flügel dadurch gestärkt wurde. An wichtigen bayerischen Politikern aus dem Kreise der Vertriebenenverbände sind u. a. zu nennen:

Name Lebensdaten Abstammung Partei Funktion
Hans Schütz 1901-1982 Sudetendeutscher CSU Mitbegründer der CSU und von 1946 bis 1970 Vorsitzender der Ackermann-Gemeinde, MdB 1949-1963, Staatssekretär und Staatsminister für Arbeit und Soziales (1962-1966) in Bayern
Rudolf Lodgman von Auen 1877-1962 Sudetendeutscher Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (1950-1959), Vorsitzender des VdL (1952-1954)
Georg von Manteuffel-Szoege 1889-1962 Deutschbalte CSU seit 1950 Vorsitzender der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft, MdB für die CSU (1953-1962) und profilierter Außenpolitiker, Vorsitzender des VdL (1954-1959), Mitglied des Präsidiums des BdV (1959-1962)
Theodor Oberländer 1905-1998 1948 FDP, 1950 BHE, ab 1956 CDU Staatssekretär für das Flüchtlingswesen in Bayern (1950-1953), Vorsitzender des BHE in Bayern (1950-53) und im Bund (1954/55), MdL (1950-1953), MdB (1953-1961, 1963-1965), Bundesvertriebenenminister (1953-1960)
Herbert Prochazka 1923-2007 Sudetendeutscher BHE, CSU Mitglied des Witikobundes, 1958-1962 MdL für den BHE, Mitvorsitzender des Hauptausschusses der Ausgewiesenen und Flüchtlinge in Bayern, 1965-1968 und 1972 MdB für die CSU
Walter Stain 1916-2001 Sudetendeutscher BHE Mitglied des Witikobundes, MdL (1950-1962) für den BHE, in Bayern 1953/54 Staatssekretär für Vertriebenenfragen, 1954 bis 1962 Staatsminister für Arbeit und soziale Fürsorge
Walter Becher 1912-2005 Sudetendeutscher BHE, CSU Mitglied des Witikobundes, Generalsekretär des Sudetendeutschen Rats (1947-1982), Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (1968-1982), MdL (1950-1962) für den BHE, Fraktionsvorsitzender, MdB (1965-1980), 1967 Mitglied der CSU
Richard Reitzner 1893-1962 Sudetendeutscher SPD Stellvertretender Landesvorsitzender der SPD (1948-1949), stellvertretender Staatssekretär für das Flüchtlingswesen in Bayern (1947 bis 1948), MdB (1949-1962), dort profilierter Vertriebenenpolitiker, Mitbegründer der Sudetendeutschen Landsmannschaft
Volkmar Gabert 1923-2003 Sudetendeutscher SPD Seliger-Gemeinde, MdL (1950-1978) für die SPD, 1962 bis 1976 Vorsitzender der SPD-Fraktion, 1963-1972 Landesvorsitzender der SPD, MdEP (1978-1984)
Franz Neubauer 1930-2015 Sudetendeutscher CSU Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (1982-2000), MdL für die CSU (1970-1986), Staatssekretär im Justizministerium (1977/78) und im Innenministerium (1978-1984), Staatsminister für Arbeit und Sozialordnung (1984-1986), geschäftsführender Präsident des Bayerischen Sparkassen- und Giroverbandes (1987-1993), Vorstandsvorsitzender der Bayerischen Landesbank (1993-1998)
Johann Böhm geb. 1937 Sudetendeutscher CSU Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (2000-2008), MdL (1974-2003), Landtagspräsident (1994-2003)
Bernd Posselt geb. 1956 Sudetendeutscher CSU Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (seit 2008), MdEP (1994-2014)

Der BdV nach 1972

Mitgliederschwund

Dass der BdV trotz stärker werdenden öffentlichen Gegenwinds deutschland- und ostpolitisch weiter an den Geschäftsgrundlagen des Jahres 1949, wie er sie verstand, festhielt, führte im Ergebnis dazu, dass er sich gesamtgesellschaftlich immer mehr isolierte und faktisch zur Interessenvertretung einer immer marginaler werdenden Randgruppe wurde. Ein deutliches Indiz hierfür sind die Mitgliederzahlen, die bereits seit Mitte der 1950er Jahre zurückgingen und bis zur Jahrtausendwende zu einem für die Gesamtklientel keineswegs mehr repräsentativen Kernbestand zusammenschrumpften:

Verfügten zu Beginn der 1950er Jahre ZvD und VOL/VdL zusammen noch über 3 bis 4 Mio. Mitglieder, so sank bis Mitte der 1960er Jahre als Folge der erfolgreichen Eingliederungsanstrengungen diese Zahl auf (vom BdV offiziell angegebene) 2,3 Mio. Wie viele Mitglieder der BdV heute hat, ist unklar. Die Nachrichtenagentur ddp ermittelte 2010 550.000 Mitglieder, eine Zahl, die der BdV bestritt. Erschwert werden derartige Recherchen durch die komplexe Verbandsstruktur mit ihrem Nebeneinander von Landsmannschaften und Landesverbänden sowie bis heute offenbar diffuse Mitgliedschaftsverhältnisse. Die Homepage des BdV gibt aktuell (19.8.2013, ohne Nachweis) 1,3 Mio. Mitglieder an. Seit den 1960er Jahren ist zudem eine zunehmende Überalterung der Mitgliederschaft zu beobachten.

Verlust der politischen Bedeutung

Der schleichende Niedergang der Vertriebenenverbände setzte sich auch in den 1980er Jahren fort; die Ära der Kanzlerschaft Helmut Kohls (CDU, 1930-2017, Bundeskanzler 1982-1998) brachte trotz einzelner Zugeständnisse auf dem Felde der symbolischen Politik keineswegs eine Renaissance für die Vertriebenenverbände. Dies gilt im Wesentlichen auch für Bayern, wo Franz Josef Strauß nach der Übernahme des Amts des Ministerpräsidenten (1978) und dem endgültigen Scheitern seiner bundespolitischen Ambitionen (Kanzlerkandidatur 1980 bzw. 1982/83) gleichsam einen zweigleisigen Kurs fuhr: Zum einen wurden die Vertriebenenverbände innenpolitisch als Bündnispartner wertgeschätzt und entsprechend unterstützt, auch durch entsprechende öffentliche Auftritte bei Vertriebenentreffen; zum anderen stellte Strauß die Ergebnisse der sozialliberalen Deutschland- und Ostpolitik grundsätzlich nicht in Frage und ging im Rahmen seiner "bayerischen Nebenaußenpolitik" sehr pragmatisch zu Werke. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu den Ostverträgen von 1973 und 1975 erwiesen sich für den BdV im Nachhinein insofern als wertlos, als dadurch nicht verhindert werden konnte, dass der gesamtdeutsche Gesetzgeber unter Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 gegen den massiven Widerstand des BdV die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze endgültig anerkannte. Die CSU folgte hierbei im Großen und Ganzen der Linie der Schwesterpartei.

Neuausrichtung und innerer Wandel

Bernd Posselt (geb. 1956), Sudetendeutscher, Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (seit 2008), MdEP (1994-2014). Hier bei den 20. Andechser Europatagen 2008. (Foto Wikimedia Commons)

Kritisch wird man anmerken müssen, dass sich die organisierten Vertriebenen - und hierbei insbesondere viele ihrer gewählten Repräsentanten - in einen Kokon von Rechtspositionen eingewoben hatten, die zwar akademisch-völkerrechtlich gut begründet waren, man darüber jedoch die Realisierbarkeit völlig aus dem Auge verloren hatte. Die Rechtstitel nützten dem BdV nichts, da sie nach außen nicht durchsetzbar waren und sich innenpolitisch die Mehrheit der Deutschen, aber auch die Mehrheit der Vertriebenen selbst bzw. deren Nachkommen, mit dem Verlust der Ostgebiete abgefunden hatte.

Seit Übernahme des BdV-Vorsitzes durch die in Westpreußen geborene Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach (CDU, geb. Hermann 1943, Präsidentin des BdV von 1998-2014) scheint sich in der Programmatik des BdV eine deutliche Interessenverlagerung anzubahnen. Das Engagement des Verbandes für Fragen des Schutzes nationaler Minderheiten und gegen neue Vertreibungen, v. a. aber das 1999 ins Leben gerufene Projekt "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin sowie die Beteiligung des BdV an der 2008 errichteten Bundesstiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" führten weg von der früheren Konzentration auf Grenzfragen und die eigene Opferrolle. In diesem Zusammenhang kam es auch zu einer Wiederannäherung an die SPD; für Bayern ist hierbei insbesondere der in Eger geborene Peter Glotz (SPD, 1939-2005) zu nennen. Andererseits ist festzustellen, dass einzelne Repräsentanten des BdV immer wieder durch polarisierende Stellungnahmen öffentliche Kritik geradezu herausfordern, womit sie letztlich den Gegnern des BdV in die Hände spielen.

Ob der BdV und seine Mitgliederverbände vor dem Hintergrund weiter schrumpfender Mitgliederzahlen und einer immer mehr zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung von Lebensstilen auch in Zukunft Sprachrohr der Interessen der Vertriebenen und ihrer Nachkommen bleiben werden, muss offen bleiben.

Literatur

  • Pertti Ahonen, After the expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945-1990, Oxford/New York 2003.
  • Heike Amos, Vertriebenenverbände im Fadenkreuz. Aktivitäten der DDR-Staatssicherheit 1949 bis 1989 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2011.
  • Gerhard Hopp, Machtfaktor auch ohne Machtbasis? Die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die CSU, Wiesbaden 2010 (zugleich Diss. phil. Regensburg 2010).
  • Matthias Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949-1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht (Politik und Geschichte 8), Berlin 2012.
  • Franz Neumann, Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten 1950-1960, Meisenheim am Glan 1968.
  • Beata Ociepka, Zwiazek Wypedzonych w systemie politycznym RFN i jego wplyw na stosunki polsko-niemieckie 1982-1992 [= Der Bund der Vertriebenen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland und sein Einfluss auf die deutsch-polnischen Beziehungen 1982-1992], Wrocław [Breslau] 1997. [deutsche Zusammenfassung des Inhaltes auf den Seiten 318 bis 324]
  • Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das "Dritte Reich", München 2013.
  • Matthias Stickler, "... bis an die Memel"? Die Haltung der deutschen Vertriebenenverbände zur deutsch-polnischen Grenze, in: Karoline Gil/Christian Pletzing (Hg.), Granica. Die deutsch-polnische Grenze vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, München 2010, 105-134.
  • Matthias Stickler, "Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch". Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 46), Düsseldorf 2004.
  • Matthias Stickler, "Unserer Heimat droht Gefahr!" - Der Kampf des Bundes der Vertriebenen (BdV) gegen die Ostverträge, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 1 (2010), 18-33.
  • Manfred Max Wambach, Verbändestaat und Parteienoligopol. Macht und Ohnmacht der Vertriebenenverbände, Stuttgart 1971.

Quellen

  • Walter Becher, Zeitzeuge. Ein Lebensbericht, München 1990.
  • Herbert Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland. Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik, Frankfurt am Main 1996.
  • Erklärungen zur Deutschlandpolitik. Eine Dokumentation von Stellungnahmen, Reden und Entschließungen des Bundes der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände. 1. Teil: 1949-1972, Bonn 1984.
  • Erklärungen zur Deutschlandpolitik. Eine Dokumentation von Stellungnahmen, Reden und Entschließungen des Bundes der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände. 2. Teil: 1973-1978, Bonn 1986.
  • Erklärungen zur Deutschlandpolitik. Eine Dokumentation von Stellungnahmen, Reden und Entschließungen des Bundes der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände. 3. Teil: 1979-1986, Bonn 1987.
  • Peter Glotz, Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers, Berlin 2005.
  • Hildegard Kronawitter, Ein politisches Leben. Gespräche mit Volkmar Gabert, München 1996.
  • Almar Reitzner, Das Paradies läßt auf sich warten. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, München 1984.

Weiterführende Recherche

Externe Links

Verwandte Artikel

Empfohlene Zitierweise

Matthias Stickler, Vertriebenenverbände, publiziert am 19.08.2013; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Vertriebenenverbände (13.10.2024)