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Bayerisch-Patriotischer Bauernverein Tuntenhausen, 1869-1933

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Wallfahrtskirche Tuntenhausen in den 1920er Jahren. (aus: 60 Jahre Bayerischer, patriotischer Bauernverein Tuntenhausen, 1)

von Friedrich Hartmannsgruber

In der bayerisch-patriotischen Bewegung formierte sich 1868/69 das katholisch-konservative Element erstmals als mehrheitsfähige Sammlungspartei. Allgemeinpolitische Ziele verbanden sich in ihr mit den wirtschaftlich-sozialen Interessen des agrarischen und kleinstädtischen Mittelstands, auf der Basis einer klaren konfessionellen Orientierung. Der in diesem Kontext im Marienwallfahrtsort Tuntenhausen (Lkr. Rosenheim), einem religiösen Zentrum Oberbayerns, 1869 entstandene Bauernverein gewann dank enger personeller Verbindungen zur Führungsriege der Bayerischen Patrioten- bzw. Zentrumspartei, nach 1918 zur Bayerischen Volkspartei (BVP) alsbald überregionale Bedeutung. Seine jährlichen Generalversammlungen bildeten bis 1933 ein häufig landesweit beachtetes Forum für die öffentliche Vermittlung katholisch-konservativer Politik.

Gründungsumfeld

Am 19. September 1869 gründeten Graf Ludwig von Arco-Zinneberg (1840–1882), Gutsbesitzer auf Maxlrain, und der Freisinger Geistliche und Lyzealprofessor Dr. Balthasar Daller (1835–1911) den Bayerisch-Patriotischen Bauernverein Tuntenhausen. Wie in den Städten Patriotische Vereine und Katholische Kasinos aufblühten, bildeten Bauernvereine die ländliche Subsidiärorganisation der Bayerischen Patriotenpartei. Gemeinsam war ihnen der Kampf für die großdeutsche Reichsidee, gegen die kleindeutsch-preußische Lösung, für eine sozialkonservative Gesellschaftspolitik und die Verteidigung der tradierten Wirkungsmacht der Kirche. Speziell das Bauerntum fürchtete um die durch Industrialisierung, Freihandel, Gewerbefreiheit und erhöhte Mobilität bedrohten Voraussetzungen eigenen Wirtschaftens. Der Selbsthilfegedanke hatte schon beim Westfälischen Bauernverein (1862) Pate gestanden, in Bayern beförderte nun auch das nationalpolitische Moment die Standesorganisation. Richtungweisend wurde der seit Januar 1869 aktive Bayerisch-Patriotische Bauernverein zu Deggendorf. Er strahlte für wenige Jahre überregional aus und regte weitere Gründungen an. Neben landwirtschaftlicher Fortbildung bezweckte er die Kenntnis "der in das Gebiet der Landwirthschaft und socialen Ordnung einschlagenden Gesetze", darüber hinaus die "Besprechung socialer und politischer Tagesfragen [...] zur Belebung des Standes- und Rechtsbewußtseins des Bürgers und Landmanns" (Statuten).


Entfaltung im Kaiserreich

Der Tuntenhausener Verein übernahm das Deggendorfer Programm wörtlich, blieb aber selbständig. Er überdauerte den Niedergang des patriotischen Vereinswesens nach der Reichsgründung, dehnte seine Tätigkeit auf die benachbarten Kreise aus und wuchs kontinuierlich (1869: 224 Mitglieder, 1876: 1.300, 1885: 2.000, 1902: 4.800, 1913: 7.000). So hielt allein er die christliche Bauernvereinsidee bis zu deren Wiedererstehen in den 1890er Jahren lebendig. Auch gegenüber dem Oberbayerischen bzw. Bayerischen Christlichen Bauernverein (1897/98) wahrte er seine Eigenständigkeit, erwog sogar die landesweite Ausbreitung. 1912 verständigte man sich auf die Kooperation mit der Regensburger Bauernvereinszentrale und eine territoriale Abgrenzung.

Diese Attraktivität beruhte primär auf der Tatsache, dass der Tuntenhausener Verein auch im Kulturkampf seinen wirtschaftlichen Daseinszweck nicht aus dem Auge verlor; Graf Arco, der ihn bis zu seinem Tod leitete, entwickelte selbst ein Programm zur "Erhaltung des Bauernstandes" (Schutzzölle, staatliche Baukredite, Flurbereinigung, genossenschaftliche Selbsthilfe, Versicherungen). Daller, ab 1891 zugleich Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Bayerischen Landtag, folgte ihm nach. Unter seiner Ägide wurden die großen Septembertagungen, auf denen regelmäßig führende Parlamentarier des Zentrums das Wort ergriffen, zu Heerschauen gegen Liberalismus und Bauernbund ("Herbstparaden", dagegen 1909 Ludwig Thoma: "Stimmviehmarkt"). Nach Dallers Tod übernahm von 1911–1919 sein Neffe Pfarrer Josef Gasteiger (1873-1943) den Vereinsvorsitz. Als Geschäftsführer fungierte über fast vier Jahrzehnte der Rosenheimer Lebzelter und Ökonom Sebastian Ruedorffer (1854–1926), auch er Mitglied der Landtagsfraktion des Zentrums.

In der Weimarer Republik

Auch nach 1918 spiegelte das öffentliche Wirken des Vereins alle aktuellen Fragen, welche die bayerische Politik umtrieben. Vornehmlich in den christlichen Bauernvereinen hatte sich über der Ablehnung des Friedens- und Parlamentarisierungskurses der Zentrumsfraktion im Reichstag seit 1917 die Abspaltung der Bayerischen Volkspartei (BVP) angekündigt.

Fortan wurde "Tuntenhausen" zum beliebten Forum der Agitation gegen den "Berliner Zentralismus". Mitglieder der Staatsregierung wie führende BVP-Politiker markierten hier pointiert föderalistische, zuweilen partikularistische Positionen, schürten Aversionen gegen die ungeliebte Republik. So umwarb Ministerpräsident Eugen von Knilling (1865–1927) im September 1923 die rechtsradikalen "Vaterländischen Verbände", seinen "nationalen" Kurs mitzutragen. Als das Reich zur Haushaltssanierung nach der Bankenkrise von 1931 die Länderkompetenzen beschnitt (Dietramszeller Notverordnung), warnte Ministerpräsident Heinrich Held (1868–1938), etwa die Reichsreform per Notverordnung einzuleiten: Dies werde "die Mainlinie in ihrer ganzen Breite von Grund aus aufreißen". Im Herbst 1932 geißelte der populäre Bauernführer und BVP-Mitinitiator Georg Heim (1865–1938) die demokratische Reichsverfassung als "untauglichste der Weltgeschichte", empfahl dagegen die Monarchie oder den italienischen Faschismus, verdammte aber in gleicher Deutlichkeit auch die Diktaturgelüste Hitlers.

Zwangsauflösung 1933 und Wiederbelebung der Tradition 1945

Die "Machtergreifung" des Nationalsozialismus und die schnelle Ausschaltung aller politischen Gegner läutete das Ende auch des Tuntenhausener Bauernvereins ein, der noch knapp 5.000 Mitglieder zählte. Am 27. Juli 1933, drei Wochen nach Selbstauflösung der BVP, beschloss eine Generalversammlung unter dem letzten Vorsitzenden, Ökonomierat Josef Wieser (seit 1919), die Liquidation.

1945 belebte man durch Gründung eines Katholischen Männervereins die Vereinstradition ideell neu, konnte aber trotz prominenter Vorsitzender wie Alois Hundhammer (1900-1974) und Max Streibl (1932-1998) nicht wieder an die alte Bedeutung anknüpfen.

Literatur

  • 60 Jahre Bayerischer, patriotischer Bauernverein Tuntenhausen (1869-1929). Ein Gedenkblatt, seinen Mitgliedern und Freunden gewidmet, o. O. o. J. [1929].
  • Wolfgang Stäbler, Der Bayerisch-Patriotische Bauernverein und der Katholische Männerverein Tuntenhausen, in: Ferdinand Kramer (Hg.), Tuntenhausen. Vom Herrenhof zum Wallfahrtsdorf. Geschichtliche Grundlagen seiner Dorfentwicklung, Weißenhorn (Bayern) 1991, 262-272.
  • Friedrich Hartmannsgruber, Die Bayerische Patriotenpartei (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 82), München 1986.
  • Johann Kirchinger, Die Bauern, ihre Verbände und der Staat. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Partizipation und Administration (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 186), Düsseldorf 2023.
  • Karl Petermeier, Balthasar von Daller. Politiker und Parteiführer 1835-–1911. Studien zur Geschichte der bayerischen Zentrumspartei, Diss. Masch. München 1956.
  • Hannsjörg Bergmann, Der Bayerische Bauernbund und der Bayerische Christliche Bauernverein 1919–-1928 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 81), München 1986.

Quellen

  • Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MInn 73483.
  • Staatsarchiv München, RA 57826.

Weiterführende Recherche

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Empfohlene Zitierweise

Friedrich Hartmannsgruber, Bayerisch-Patriotischer Bauernverein Tuntenhausen, 1869-1933, publiziert am 16.05.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerisch-Patriotischer_Bauernverein_Tuntenhausen,_1869-1933 (19.03.2024)