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Wir Wunderkinder (Kurt Hoffmann, 1958)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Version vom 8. November 2023, 13:19 Uhr von imported>Rittenauerd
Die Besetzung des Films "Wir Wunderkinder" aus dem Jahr 1958: (v.l.n.r.) Johanna von Koczian (geb. 1933), Hansjörg Felmy (1931-2007), Wera Frydtberg (1926-2008) und Robert Graf (1923-1966). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv, fruh-02659)
Hans Boeckel und Vera von Lieffen lernen sich als Zeitungsverkäufer kennen. Beide verkörpern ein junges, liberales Deutschland. Während Vera mit ihrer Familie nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach Paris emigriert, muss sich Boeckel mit den neuen politischen Verhältnissen in der Heimat auseinandersetzen. (Filminstitut Hannover)
Nach der NS-Machtergreifung wird der Journalist Hans Boeckel (2. v. l.) mit der neuen politischen Wirklichkeit konfrontiert. Die Nationalsozialisten haben auch die Kontrolle über die Zeitung "Münchner Tagblatt" erlangt. Auch sein Verleger fordert von ihm nun Linientreue. (Filminstitut Hannover)
Kurz nach Kriegsende muss Boeckel mit seiner Familie ums Überleben kämpfen. Unterdessen hat sich Tiches nach dem Zusammenbruch an das neue politische System angepasst und profitiert bereits vom sog. Wirtschaftswunder. Über seine NS-Vergangenheit breitet er erfolgreich den Mantel des Schweigens. (Filminstitut Hannover)
Auch Boeckel kann bald nach Kriegsende beruflich wieder Fuß fassen. Er arbeitet wieder als Journalist bei einer Zeitung. Tiches konnte abermals Karriere machen. Über einen kritischen Zeitungsartikel über Opportunisten aus der NS-Zeit, die im demokratischen Deutschland abermals Karriere machten, fordert Tiches die Entlassung des Autors. Er ist überrascht, als er erfährt, dass Boeckel der Verfasser des Artikels ist. Boeckel lehnt eine Entschuldigung kategorisch ab. Wutentbrannt verlässt Tiches das Büro und stürzt aus Unachtsamkeit in einen Liftschacht und stirbt. (Filminstitut Hannover)

von Maren Willkomm

Schon 1958 verfilmte Regisseur Kurt Hoffmann (1910-2001) den 1957 erschienenen satirischen Roman "Wir Wunderkinder" von Hugo Hartung (1901-1972). Der Film erzählt die Geschichte zweier Deutscher aus der fiktiven Kleinstadt Neustadt a.d. Nitze, Bruno Tiches, gespielt von Robert Graf (1923-1966), und Hans Boeckel, gespielt von Hansjörg Felmy (1931-2007) zwischen 1913 und 1957. Thematisiert wird die vor allem die NS-Zeit. Der Film war auch als Lehrstück zur jüngsten deutschen Geschichte konzipiert.

Handlung

"Wir Wunderkinder" erzählt auf kabarettistisch-satirische Weise die fiktive Geschichte zweier Deutscher zwischen 1913 und den 1950er Jahren. Eingebettet in ein dem Kabarett entliehenes Strukturmoment, die Conférence, erzählt der Film die gegensätzlichen Lebensgeschichten zweier Kindheitsfreunde aus der fiktiven Kleinstadt Neustadt an der Nitze in einzelnen Episoden. Bruno Tiches, gespielt von Robert Graf (1923-1966), ist ein typisch angepasster Aufsteiger; Hans Boeckel, gespielt von Hansjörg Felmy (1931-2007), hingegen ein Nonkonformist.

Als junge Erwachsene leben beide in München. Boeckel finanziert sein Studium als Zeitungsverkäufer, um Journalist zu werden. Er verliebt sich in seine Kollegin Vera von Lieffen (Wera Frydtberg, 1926-2008), die aber bald mit ihren Eltern nach Paris emigriert. Tiches macht eine Banklehre und arbeitet sich im Aktiengeschäft rasch nach oben. Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 wird Tiches aber bald arbeitslos. Boeckels kurze Anstellung bei einer Tageszeitung endet 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Dort macht Tiches in Uniform nun schnell Karriere – er wird ein hohes Parteimitglied innerhalb der NSDAP. Er möchte Boeckel vom Nationalsozialismus überzeugen, doch der wehrt ab und heiratet in Dänemark Kirsten (Johanna von Koczian, geb. 1933 als Johanna von Miskolczy), seine ehemalige Mitbewohnerin aus München. Bei Kriegsbeginn wird Boeckel eingezogen und muss zurück nach Deutschland.

Nach Kriegsende schlägt er sich mit Kirsten und seinen Kindern mühsam durch und begegnet wieder Tiches. Der hat sich erneut unter dem Decknamen "Anders" am Schwarzmarkt als Geschäftemacher etabliert. In den 1950er Jahren kann Boeckel durch die Hilfe seines emigrierten jüdischen Schulfreundes Siegfried Stein, gespielt von Pinkas Braun (1923-2008), wieder bei der Zeitung in München als Feuilletonist arbeiten und schreibt gegen die ehemaligen Nationalsozialisten. Diese verschaffen sich nach dem Krieg ungehindert erneut Vorteile. So auch Opportunist Tiches, der mittlerweile als Generaldirektor einer Stiftung fungiert. Als mächtiger Industrieller, wird auch er von Boeckel in seinem Artikel nicht verschont und fühlt sich dadurch angegriffen. Tiches versucht Druck auf die Zeitung auszuüben, doch nun wehrt sich Boeckel zum ersten Mal öffentlich und setzt sich durch. Aufgebracht stürzt Tiches in einen Aufzugschacht und verunglückt tödlich.

Regisseur und Darsteller

Für Regisseur Kurt Hoffmann (1910-2001) war "Wir Wunderkinder" nicht die erste Komödie. Bereits "Paradies der Junggesellen" (1939) und "Quax der Bruchpilot" (1941) waren filmische Erfolge während der NS-Zeit. Nach dem Krieg folgten "Fanfaren der Liebe" (1951) und innerhalb von sechs Jahren weitere 17 Filme, darunter die Kästner-Verfilmung "Das fliegende Klassenzimmer" (1954) oder der ebenfalls aus Hugo Hartungs (1902-1972) Feder stammende "Ich denke oft an Piroschka" (1955). Damit war Hoffmann einer der erfolgreichsten deutschen Regisseure geworden. Nach seinem letzten Film 1971 zog er sich zurück und wurde zu einem Vergessenen seiner Branche (nach Achim Zeilmann, "Drehort München", 71).

Hansjörg Felmy hatte mit "Wir Wunderkinder" seinen Durchbruch als Darsteller. Später wurde er mit seinen Rollen in den Edgar-Wallace-Filmen und als Tatort-Kommissar berühmt. Als Schauspieler an den Kammerspielen in München machte sich Robert Graf einen Namen. Nach Hoffmanns Film bekam er die Rolle des Bendix Grünlich in den "Buddenbrooks" und spielte 1963 im viel beachteten Film "Gesprengte Ketten". Er verstarb jung mit 42 Jahren in München.

Filmgeschichtlicher Zusammenhang

Kurt Hoffmanns Komödie verfilmt den 1957 erschienenen satirischen Roman "Wir Wunderkinder" von Hugo Hartung. Der Regisseur orientiert sich an seinem ein Jahr zuvor gedrehten Film "Das Wirtshaus im Spessart", in dem die Kabarettisten Wolfgang Neuß (1923-1989) und Wolfgang Müller (1922-1960) einen Auftritt haben. In Hoffmanns Film wird die episodenhafte Erzählung erneut von ihnen akzentuiert. Sie spielen zwei Kinoerzähler, die zahlreiche Andeutungen und Kommentare auf musikalischer Basis und nach dem Moritatenprinzip an die Zuschauer herantragen – quasi die Geschichte als Film im Film.

Hoffmann verschafft dem Film eine gesellschaftskritische Bedeutung, in dem er anhand von Sprachwitz, Ironie und kabarettistischen Sequenzen den Rahmen vorgibt, um auf die Kontinuitäten der NS-Zeit bis hinein in die Bundesrepublik aufmerksam zu machen. "In Wir Wunderkinder wird die Zeitgeschichte mit den Mitteln des Kabaretts traktiert: Die deutsche Geschichte kann nur noch ironisch gesehen werden" (Koebner, Filmklassiker Band 2, 330). Der Titel des Films und des Romans lehnt sich an den damaligen und bis heute allgemein gebräuchlichen Begriff des "deutschen Wirtschaftswunders" an, den man 1949 erstmals in der Süddeutschen Zeitung lesen konnte.

Bayern- bzw. Münchenbezug

"Wir Wunderkinder" ist überwiegend in München verortet. Grund ist die Romanvorlage von Hugo Hartung. Er "lebte nach dem Krieg in München und siedelt hier auch seine Geschichte an. In der einstigen 'Hauptstadt der Bewegung' ließ sich deutsche Geschichte wie in einem Brennglas bündeln" (Achim Zeilmann, Drehort München, 68). Der Film beginnt mit einem Streifzug über Münchens Trümmerfelder. Kurt Hoffmann verwendete dafür zehn Jahre altes Dokumentarmaterial. Die damals komplett zerstörte Ludwigstraße war zu Drehbeginn weitgehend wieder aufgebaut. Die Spielorte ziehen sich vom Chinesischen Turm im Englischen Garten, dem Rathaus, der Frauenkirche bis zum Hauptgebäude der Universität an der Ludwigstraße.

Inhaltlich wird v. a. das Aufkommen des Nationalsozialismus rund um den Hitlerputsch 1923 thematisiert. Aber auch das Studentenleben, die Kleinkunst, der Fasching, die Tageszeitung und der Buchladen Hugendubel zeichnen den Spielort. Der Film spielt mit der deutschen Sprache und wechselt munter zwischen Schriftsprache und Dialekt hin und her. So zum Beispiel hat die renommierte Münchner Schauspielerin Liesl Karlstadt (eigtl. Elisabeth Wellano, 1892-1960) – sie spielt die Vermieterin Boeckels – einen wiederholten Auftritt im Film und hebt somit die lokale Mundart und deren Gebrauch hervor.

Die Produktionsfirma Filmaufbau GmbH aus Göttingen (Niedersachsen) fand in München optimale Drehbedingungen vor. Als Filmstadt war München zu dieser Zeit bereits etabliert und die Dreharbeiten fanden, neben den Originalschauplätzen innerhalb der Stadt, auf dem Bavaria Filmgelände am Geiselgasteig (Lkr. München) statt. Regisseur Hoffmann lebte zu dieser Zeit schon unter anderem in München, wo er 2001 verstarb. Für die Landeshauptstadt selbst bedeutet der Film eine geschichtliche Auseinandersetzung mit den Geschehnissen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Darstellung der Zerstörung und des Wiederaufbaus einer so bedeutenden Stadt während der NS-Zeit sollte die Gesellschaft ermahnen. In der letzten Szene auf dem Westfriedhof enthält der Film die dazu passende Botschaft: Aus dem Schriftzug "Wir mahnen die Lebenden" wird auf "ENDE" eingezoomt.

Resonanz beim Publikum und Kritik

Der Film gilt als herausragendes Beispiel des deutschen Kinos der Nachkriegszeit. Als einer der wenigen dieser Epoche setzte er sich schon in den 1950er Jahren kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinander. 1959 wurde ihm beim Deutschen Filmpreis das Filmband in Silber verliehen. Internationale Anerkennung erhielt er 1960 als bester ausländischer Film bei den Golden Globes.

Bei den deutschen Kritikern fiel die Resonanz unterschiedlich aus. Vorgeworfen wird Kurt Hoffmann, der Film hätte fehlende Ernsthaftigkeit oder auch der Nationalsozialismus wäre zu harmlos dargestellt. Für die nachfolgenden Regisseure und Kritiker war Hoffmann ein seichter Komödienmacher und ein Vertreter von "Papas Kino" - eine diffamierende Bezeichnung für deutsche Filme der 1950er Jahre, die sich zu kritiklos mit der Nazi-Vergangenheit auseinander setzten und als bloßes Unterhaltungskino galten (Zeilmann, Drehort München, 70). Im Ganzen hatte Hoffmann "Wir Wunderkinder" als unterhaltsame Attacke auf die junge Bundesrepublik angedacht. Insgesamt gesehen funktionierte der Film damals mehr als Belustigung des Publikums denn als Zeit- und Selbsterkenntnis.

Filmdaten
Typ Info/Name Lebensdaten
Produktionsort, -jahr Deutschland, 1958
Dreharbeiten 1958 in München (Bavaria-Atelier München-Geiselgasteig), Verona, Sizilien, Dänemark
Länge 108 Min., s/w
Premiere 28.10.1958, München, Sendlinger-Tor-Lichtspiele
Regie Kurt Hoffmann 1910-2001
Drehbuch Heinz Pauck 1904-1986
Günther Neumann 1913-1972
Romanvorlage "Wir Wunderkinder" von Hugo Hartung 1902-1972
Kamera Richard Angst 1905-1984
Musik Franz Grothe 1908-1982
Musiktexte Günther Neumann 1913-1972
Ton Walter Rühland 1905-1967
Schnitt Hilwa von Boro
Produktionsfirma Filmaufbau GmbH, Göttingen
Produktion Hans Abich 1918-2003
Rolf Thiele 1918-1994
Verleih Constantin Film Verleih GmbH, München
TV-Erstausstrahlung 18.11.1959, DFF
6.10.1964, ARD
Besetzung
Name Lebensdaten, Info Rolle
Hansjörg Felmy 1931-2007 Hans Boeckel
Robert Graf 1923-1966 Bruno Tiches
Johanna von Koczian geb. 1930, eigtl. Johanna von Miskolczy Kirsten
Wera Frydtberg 1926-2008 Vera von Lieffen
Helmut Rudolph 1900-1971, eigtl. Helmuth Heyn Baron von Lieffen
Wolfgang Neuß 1923-1989 Conferencier
Wolfgang Müller 1922-1960 Hugo (Pianist)
Elisabeth Flickenschildt 1905-1977 Frau Meisegeier
Jürgen Goslar geb. 1927 Schalle Meisegeier
Liesl Karlstadt eigtl. Elisabeth Wellano, 1892-1960 Frau Roselieb
Michl Lang 1899-1979 Herr Roselieb
Pinkas Braun 1923-2008 Siegfried Stein
Ingrid Pan eigtl. Ingrid Pankow, geb. 1930 Doddy Meisegeier
Peter Lühr 1906-1988 Chefredakteur Vogel
Ingrid van Bergen geb. 1931 Evelyn Meisegeier-Tiches
Hans Leibelt 1885-1974 Herr Lüttjensee
Lina Carstens 1892-1978 Bäuerin Frau Vette
Tatjana Sais 1910-1981 Frau Häflingen
Horst Tappert 1923-2008 Lehrer Schindler
Michael Burk geb. 1924 Studentenkabarettist
Rainer Penkert 1921-2012 Studentenkabarettist
Ralf Wolter geb. 1926 Toilettenmann
Karl Lieffen egtl. Carel František Lifka, auch: Karl Franz Lifka, 1926-1999 Obmann Wehackel
Franz Fröhlich 1901-1964 Obsthändler
Ludwig Schmidt-Wildy 1896-1982 Alter Herr
Otto Brüggemann 1901-1968 Dr. Engler
Emil Hass-Christensen 1903-1982 Herr Hansen
Karen Marie Löwert 1914-2002 Frau Hansen

Literatur

  • Evangelische Akademie Iserlohn (Hg.), 40 Jahre Bundesrepublik im literarischen Film. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 5.-7. Mai 1989 in Haus Ortlohn, Iserlohn 1989.
  • Hugo Hartung, Wir Wunderkinder. Der dennoch heitere Roman unseres Lebens, München/Zürich 2000.
  • Thomas Koebner (Hg.), Filmklassiker. 2. Band: 1947-1964, Stuttgart 1995.
  • Anna Pfitzenmaier, Wir Königskinder. Gesellschaftliche Selbstwahrnehmungen um 1960 im Vergleich: Zum Umgang mit dem NS-Erbe in den Spielfilmen Wir Wunderkinder (BRD) und Königskinder (DDR), Magisterarbeit masch. Halle 2007.
  • Michael Wenk: "Aren't we Wonderful?" Kurt Hoffmanns Filmsatire "Wir Wunderkinder", die "dennoch heitere Geschichte unseres Lebens", in: Wir Wunderkinder. 100 Jahre Filmproduktion in Niedersachsen. Gesellschaft für Filmstudien, Hannover 1995, 65-78.
  • Achim Zeilmann, Drehort München, Berlin-Brandenburg 2008.

Quellen

  • Deutsches Filmmuseum (Hg.), Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt am Main 1989.
  • Horst Peter Koll u. a. (Begr. Klaus Brüne), Lexikon des internationalen Films, hg. vom Katholischen Institut für Medienformation KMI, Reinbeck bei Hamburg 1995.
  • Humor ist eine ernste Sache. Der Filmregisseur Kurt Hoffmann. Portrait von Christian Bauer, Deutschland 1985.
  • Ingo Tornow, München im Film, München 1995.
  • Sylvia Wolf/Ulrich Kurowski, Das Münchner Film und Kino Buch, Herausgeber Eberhard Hauff, Edition Achteinhalb Lothar Just, Ebersberg 1988.

Weiterführende Recherche

Externe Links


Empfohlene Zitierweise

Maren Willkomm, Wir Wunderkinder (Kurt Hoffmann, 1958), publiziert am 7.12.2016, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Wir_Wunderkinder_(Kurt_Hoffmann,_1958)> (10.11.2024)