• Versionsgeschichte

Reformpädagogik

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Der aus München stammende Pädagoge Georg Kerschensteiner (1854-1932) war eine der prägendsten Persönlichkeiten der Reformpädagogik in München und Bayern. Fotogravüre um 1900. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-014941)

von Helmwart Hierdeis

Die sog. Reformpädagogik (auch "Reformpädagogische Bewegung" oder "Pädagogische Bewegung") entwickelte sich aus einem kritischen Blick auf eine bestehende Erziehungs- und Bildungskultur, die von der patriarchalisch-autoritären Gesellschaft der Zeit um 1900 geprägt war. Den aus dem Bürgertum stammenden Reformern ging es um neue Erziehungsformen, die sich an den Bedürfnissen und den Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen ausrichteten. In Bayern ist die Reformpädagogik v. a. mit den Namen Georg Kerschensteiner (1854–1932) und Aloys Fischer (1880–1937) verbunden, deren Ideen und Konzepte sich in vielfältiger Weise durchsetzten.

Begriff

Der Begriff "Reformpädagogik" (auch "Reformpädagogische Bewegung" oder "Pädagogische Bewegung") steht in der pädagogischen Historiografie für eine vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1933 reichende Zeit ungewöhnlich vielfältiger und kontroverser pädagogischer Diskurse und Initiativen. Ihre pädagogischen, weltanschaulichen, politisch-ideologischen und anthropologischen Ausgangspunkte sind höchst unterschiedlich und reichen weit zurück. So lassen sich zahlreiche, zu Beginn des 20. Jahrhunderts modern erscheinende Vorstellungen – Eigenart und Eigenwert von Kindheit und Jugend, Individualität des Heranwachsenden, naturgemäße Erziehung und Unterweisung, Selbsttätigkeit, unmittelbare Begegnung mit der Welt, muttersprachliche Bildung, der Zusammenhang von kognitiver, emotionaler, sozialer und praktischer Bildung – auf Ursprünge vor allem im 16. bis 18. Jahrhundert zurückführen (z. B. Johann Amos Comenius [1592-1670], Jean-Jacques Rousseau [1712-1778], Christian Gotthilf Salzmann [1744-1811] und die "Philanthropen" sowie Johann Heinrich Pestalozzi [1746-1827]).

Gemeinsam war den Protagonisten der kritische Blick auf eine Erziehungs- und Bildungskultur, die ihrer Auffassung nach trotz besseren Wissens immer noch an den Bedürfnissen und Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen vorbeiging und die patriarchalisch-autoritäre Gesellschaft um 1900 stützte.

Der aus Berlin stammende Philosoph und Orientalist Paul de Lagarde (1817-1891) beeinflusste mit seinem kulturkritischen Denken die Diskussionen der Reformpädagogen in ihren Anfängen. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-2597)

Ihre Kritik bezog sich vor allem

  • auf die Besetzung des Bildungsbegriffs im Sinne der persönlichen Selbstvervollkommnung durch eine humanistisch ausgebildete gehobene Bürgerschicht;
  • auf die dadurch bedingte Abwertung von sozialer und praktischer Bildung;
  • auf die Undurchlässigkeit des Bildungssystems, das den sozialen Aufstieg erschwerte;
  • auf die Diskrepanz zwischen Bildungssystem und Arbeitswelt;
  • auf das fehlende Bewusstsein für die Bildungsbedürfnisse und Bildungsmöglichkeiten der weiblichen Jugend;
  • auf die fachlich, didaktisch und pädagogisch unzureichende Ausbildung der Lehrerschaft (insbesondere für die Volksschulen);
  • auf die autoritär geprägte Asymmetrie der pädagogischen Beziehungen;
  • auf die Lebens- und Erfahrungsferne des Unterrichts;
  • auf das einseitig rezeptive Lernen der Schüler ("Buchschule").

Die Änderungsvorschläge bezogen sich zwar zunächst überwiegend auf die pädagogische, didaktische und organisatorische Reform der Schule. Sie betrafen aber im Laufe der Zeit vom Kindergarten über sozial-, behinderten- und freizeitpädagogische Einrichtungen bis zur Erwachsenenbildung alle pädagogischen Institutionen.

Der Schwerpunkt der Diskussionen und praktischen Versuche, die zahlreiche Anregungen aus dem europäischen Ausland aufgriffen, lag anfangs in Deutschland. Sie wurden jedoch nach ihrer Beendigung durch den Nationalsozialismus, dessen Schulpolitik die Lehrpläne politisierend vereinheitlichte und sogar den Begriff "Reformpädagogik" eliminierte, in den 1930er und 1940er Jahren im europäischen Ausland und in Übersee weitergeführt.

Der Erste Weltkrieg teilte die Epoche der Reformpädagogik in zwei etwa gleich lange Perioden. In der ersten dominierten – ausgelöst durch die Deutsche Jugendbewegung (die wiederum von der deutschen Lebensreformbewegung beeinflusst wurde) – Ideen von freiwillig anerkanntem Führertum, Gefolgschaft und Gemeinschaft in Abgrenzung von den realen Lebens-, Sozial- und Gesellungsformen und Nähe zur Natur. Sie führten unter anderem zur Errichtung pädagogischer Einrichtungen außerhalb von Ballungsräumen. Offen zutage trat in ihnen die Befürwortung einer individualisierenden, auf dem Prinzip Selbsttätigkeit beruhenden Erziehung.

In der zweiten Periode lag der Akzent, mit bedingt durch die neue demokratische Reichsverfassung von 1919, auf einer pädagogischen Theorie und Praxis, die neben der Selbstverwirklichung des Einzelnen auch gesellschaftliche Erfordernisse im Auge hatte. Gefragt waren nun weniger ästhetisches Schaffen und Genießen als vielmehr Arbeitstugenden und -fertigkeiten, weniger Führerqualitäten als Gemeinschaftsfähigkeit, weniger elitäres Gefühl als Sachlichkeit und soziale Verantwortung.

Die Schriften des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) hatten großen Einfluss auf die Protagonisten der frühen Reformpädagogik. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-023056)

Die aus dem Bürgertum kommenden Reformer waren sich weitgehend einig in ihrer Distanz gegenüber bestimmten Erscheinungsformen der Gesellschaft (Repression, Vermassung, Überorganisation, Technisierung) und der Wissenschaft (Lebensferne, Rationalismus, Intellektualismus). Sie diskutierten und erprobten Konzepte einer "neuen Erziehung", die vom Kinde aus gedacht und in die Tat umgesetzt werden sollten. Beeinflusst wurden sie durch Kulturkritiker wie Friedrich Nietzsche (1844-1900), Julius Langbehn (1851-1907) und Paul de Lagarde (1827-1891). Sowohl Ellen Keys (1849-1926) Auffassung von der "Natürlichkeit" des Kindes wie auch Sigmund Freuds (1856-1939) Psychoanalyse gaben wichtige Anregungen. Besonders nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 machte sich eine starke Strömung sozialistischer Pädagogik bemerkbar, die in der institutionalisierten Erziehung eine Möglichkeit des Klassenkampfs und das ideale Mittel zur Herstellung einer klassenlosen Gesellschaft sah.

Konkretisierungen

Auch wenn die Auswirkungen dieser Ideen und Erfahrungen auf den pädagogischen und didaktischen Alltag im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eher punktuell zu beobachten sind, lässt das anschwellende und sich weit verzweigende Schrifttum (vgl. Archiv für Reformpädagogik an der Berliner Humboldt-Universität) auf eine beachtliche Breitenwirkung schließen. Bis in die Gegenwart berufen sich zudem zahlreiche Institutionen auf ihre reformpädagogische Herkunft.

In der Historiografie zur Reformpädagogik ist es üblich, die seinerzeitige rasche Verbreitung neuer pädagogischer Ideen und deren praktische Umsetzung als "Bewegungen" zu bezeichnen (analog zur Arbeiter-, Frauen-, Jugend- und Lebensreformbewegung). Damit greift sie früh entstandene Selbstzuschreibungen und die 1933 vorgenommene Charakterisierung der gesamten Epoche durch Herman Nohl (1933/1999) auf (vgl. Scheibe 1999). Um die mit dem Begriff "Bewegung" verbundene Vorstellung einer Einheitlichkeit in Zielsetzung und Methoden nicht zu begünstigen, soll an dieser Stelle von zentralen Themen die Rede sein. Sie betreffen nach einer bei allen Überschneidungen heuristisch sinnvollen Unterscheidung sowohl "innere Reformen" als auch "Strukturreformen" (vgl. Scheuerl 1997).

Innere Reformen

Den "inneren Reformen" sind alle auf Erziehung und Unterricht zielenden Überlegungen, Vorschläge, Methoden und Praktiken zuzuordnen, die auf einem neuen Verständnis vom Kind und Jugendlichen, von der Beziehung zwischen ihnen und den erziehenden bzw. unterrichtenden Personen sowie von den Unterrichtsgegenständen und Unterrichtsmethoden bzw. Lehrformen beruhen. In diesem Zusammenhang werden thematisiert:

  • die Ehrfurcht vor der "Majestät des Kindes" (Ellen Key 1900);
  • die Ursprünglichkeit des Kindes als Maßstab für Erziehung und Kultur;
  • die Freiheit der Erziehung von physischer und psychischer Gewalt;
  • die zunehmende Einbeziehung des Kindes in Entscheidungen über seine eigene Entwicklung;
  • der Verzicht auf Drill und unreflektierten Gehorsam;
  • die Förderung schöpferischen, erlebnisbetonten, gemeinschaftsbezogenen und selbstverantworteten Lernens;
  • die Rolle der Erzieher als geduldige, verständnisvolle, Widersprüche zulassende, anregende, ermutigende, die Umwelt der Heranwachsenden förderlich ordnende Begleiter bzw. Partner, Kameraden oder Freunde.

Der Komplex der "inneren Reformen" umfasst auch alle Versuche, die Schülerinnen und Schüler – ohne Änderung der Schulstruktur – aus ihrer rein rezeptiven Rolle im Unterricht zu befreien und sie ihrer Entwicklung gemäß künstlerisch-schöpferisch, experimentierend, entdeckend, fachübergreifend, selbsttätig und sachbezogen (in den Vorstellungen sozialistischer Reformer auch "produktiv") arbeiten zu lassen ("Kunsterziehung" als Unterrichtsprinzip; "Arbeitsschule"; "Gesamtunterricht"; "Produktionsschule").

Strukturreformen

Zu den "Strukturreformen" zählen Ideen und Versuche, die tradierte "Standes"-, "Pensen"-, "Stoff"- und "Paukschule" zu überwinden und das Schulwesen so umzuorganisieren, dass es Raum schafft für die selbsttätige Entfaltung junger Menschen, für Koedukation und die Überwindung des Systems unterschiedlicher Schultypen und Jahrgangsklassen, um auf diesem Wege ein sozialintegratives und altersstufenübergreifendes Lernen zu ermöglichen. Das Schulwesen soll dazu beitragen, die gesellschaftliche Schichtung und die damit verbundene Benachteiligung eines Großteils der Bevölkerung zu überwinden ("Lebensgemeinschaftsschule"; "Einheitsschule"; "Begabungsschule"; "Gesamtschule"). In diese Richtung gehen vor allem die Initiativen des 1919 in Berlin gegründeten "Bundes entschiedener Schulreformer". Dort versammelten sich Reformer divergierender weltanschaulicher und politischer Überzeugungen in der Hoffnung, das neue demokratische Prinzip auch in der Bildungsorganisation durchsetzen zu können.

Zwar wurde mit dem Reichsgrundschulgesetz von 1920 die allgemeine vierjährige Grundschule vorgeschrieben. Weitergehende Strukturänderungen scheiterten aber vor allem am Widerstand der Kirchen, der Zentrumspartei und der Philologen, die das gegliederte Schulsystem erhalten wollten. Die Reformer waren daher auf innere Reformen, auf die Gründung von Versuchsschulen und auf private Initiativen verwiesen (vgl. Blankertz 1982; Heinemann, Bd. 1 1976, Bd. 2 1977). Zu ihnen zählten u. a. die Landerziehungs- bzw. Landschulheime, die Hamburger Lichtwarkschule, die Hamburger und Bremer Lebensgemeinschaftsschulen, die Berliner Hauslehrerschule, die Berliner Karl-Marx-Schule, die sog. Jenaplan-Schule von Peter Petersen (1884-1952) sowie die in rascher Folge entstehenden Montessori- und Waldorfschulen. In ihnen wurden in unterschiedlicher Gewichtung methodisch-didaktische Neuerungen praktiziert. Hierzu gehörten jahrgangsübergreifendes Lernen, fächerübergreifender Projektunterricht, Helfersystem und der Verzicht auf Zensuren zugunsten von Leistungsberichten. Dabei wurden auch Anregungen aus dem Ausland (Daltonplan; Winnetka-Plan; Summerhill) aufgegriffen. Auf die staatlich organisierte seminaristische Lehrerbildung hatte die Reformpädagogik keinen erkennbaren Einfluss.

Reformpädagogik in Bayern

Volksschule am Dom-Pedro-Platz, München. Im April 1900 konnte die Dom-Pedro-Schule eröffnet werden. Das vom Münchner Baurat Hans Grässel (1860-1939) entworfene Gebäude berücksichtigte bereits die Ideen von Georg Kerschensteiner (1854-1932). Hierzu gehörten u. a. die Einrichtung von Werkstätten für den "Handfertigkeitsunterricht der Knaben" und Küchen für den hauswirtschaftlichen Unterricht der Mädchen. Lichtdruck von Hans Grässel, 1911. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-032683)

Dass Bayern überhaupt auf der Landkarte der Reformpädagogik erscheint, ist vor allem den beiden Münchner Pädagogen Georg Kerschensteiner (1854–1932, Münchner Stadtschulrat 1895–1918, Honorarprofessor für Pädagogik an der Universität München 1918-1921) und Aloys Fischer (1880–1937, 1919 bis 1937 Lehrstuhlinhaber für Pädagogik an der Universität München) zu verdanken. Kerschensteiner engagierte sich noch vor der Jahrhundertwende als Mitglied der Königlichen Lokalschulkommission für ein 8. Pflichtschuljahr, weil er Sorge hatte, die männliche Jugend könnte nach dem siebenjährigen Pflichtschulbesuch bis zum Eintritt in den Wehrdienst verwahrlosen. Den Mädchen sollte eine entsprechende Erweiterung der Schulzeit zumindest angeboten werden. Im Lehrplan der 8. Klassen verankerte er Chemie und Physik als experimentellen Unterricht ("Laboratoriumsunterricht"). Der "Schulküchenunterricht" für Mädchen wurde zum Ausgangspunkt für naturwissenschaftliche Gegenstände und das Rechnen. Die in Kerschensteiners Amtszeit in München errichteten Schulen (z. B. Schule an der Haimhauserstraße, Schule am Dom Pedro-Platz, Schule an der Stielerstraße, Schule an der Weilerstraße) wurden diesen Erfordernissen entsprechend räumlich ausgestattet.

In München gründete Kerschensteiner Pflichtfortbildungsschulen (später "Berufsschulen" mit eigenen Werkstätten) mit technischen und wirtschaftlichen Fächern sowie dem Fach "Staatsbürgerkunde". Er bezog Handwerker als Lehrer ein und ließ sich bei den Lehrplänen durch Fachleute aus Handwerk und Wirtschaft beraten. Die Pflichtfortbildungsschule für Mädchen erhielt neben den hauswirtschaftlichen auch kaufmännische Fächer. Unter dem Begriff "Arbeitsschule" entwickelte er ein eigenes Fach für handwerkliche Tätigkeiten und ein grundsätzlich für alle Fächer geltendes Unterrichtsprinzip in dem Sinne, dass die Schüler zur sachbezogenen praktischen und geistigen "Selbsttätigkeit" – möglichst im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften – angehalten werden sollten. Den traditionellen, am maßstabgerechten Abzeichnen orientierten Zeichenunterricht suchte er im Sinne des freien, künstlerischen Zeichnens umzuwandeln. Mit der Betonung der praktischen Erfahrung im Sozialverband wollte er nicht nur die Einseitigkeit der "Paukschule" aufheben, sondern die Jugend auf die künftige Arbeitswelt und auf ihr Leben als Staatsbürger vorbereiten. Für Lernschwache organisierte er Hilfsschulklassen. Seine Vorschläge, die konfessionelle Trennung im Schulwesen durch ein Angebot von "Simultanschulen" wenigstens teilweise zu überwinden, scheiterten am Widerstand der Katholischen Kirche und der ihr nahestehenden Parteien.

Kerschensteiners jüngerer Münchner Zeitgenosse Fischer sah in dessen theoretischem und organisatorischem Werk "eine europäische Leistung". Fischers Hauptverdienst lag in der Grundlegung einer deskriptiven Erziehungswissenschaft, mit der er sich von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik abgrenzte. Sie machte ihn zu einem der wichtigsten pädagogischen Theoretiker seiner Zeit. Aber er entwickelte auch, angeregt durch Kerschensteiners Berufsschulinitiativen, eine pädagogische und philosophische Theorie der Berufsbildung, engagierte sich für die Beschulung Lernschwacher, für die Erweiterung und Verbesserung der Kindergartenarbeit und für die wissenschaftliche Qualifizierung der Volksschullehrer. Als Mitherausgeber (ab 1924) der u. a. von Kerschensteiner gegründeten Zeitschrift "Die Arbeitsschule" und an der u. a. von Eduard Spranger (1882-1963) edierten Zeitschrift "Die Erziehung" (ab 1925) kooperierte er mit den einflussreichsten Reformern (vgl. Kreitmair 1950ff).

Der aus Obersinn (Lkr. Main-Spessart) stammende Schriftsteller und Pädagoge Leo Weismantel (1888-1964) gründete 1928 in Marktbreit (Lkr. Kitzingen) eine "Schule der Volkschaft". Postkarte von Heinrich "Heiner" Dikreiter (1893-1966), 1918. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv ana-004185)

Im Schatten der beiden auch international anerkannten Pädagogen arbeitete eine Reihe von Vertretern der Volksschullehrerschaft auf den verschiedensten schulorganisatorischen und didaktischen Feldern an Neuerungen in ihren begrenzten Einflussbereichen – häufig gegen den Widerstand der Behörden. Zu diesem Kreis zählten:

  • Wilhelm Albert (1890 – 1982): pädagogisch-wissenschaftlicher Schriftsteller, Vertreter des Gesamtunterrichts und erlebnisbetonter Lernformen;
  • Hans Brückl (1881–1972): Reformer des Erstlesens (Ganzwortmethode; Lesefibel "Mein erstes Buch");
  • Johann Lex (1869–1933): stieg als Lehrer zum Ministerialrat auf und erließ 1926 nach Rücksprache mit der Lehrerschaft eine reformfreudige "Lehrordnung für die bayerischen Volksschulen";
  • Max Löweneck (1866–1957): der Augsburger Stadtschulrat setzte Kerschensteiners Idee von handwerklicher Tätigkeit im "Werkunterricht" als Unterrichtsprinzip für alle männlichen Schulklassen um, damit die Schüler auf diese Weise sachgerechtes Arbeiten in Gemeinschaft erleben konnten;
  • Franz Seitz (1888–1974): der Rosenheimer Lehrer trat in seinem "Plan für die innere Erneuerung der Volksschule des Volksstaates Bayern" (1919) für einen den ganzen Menschen erfassenden Gesamtunterricht ein;
  • Ernst Weber (1873–1948): der Bamberger Lehrerbildner, ehemals zusammen mit Fischer und Kerschensteiner beim Aufbau des Münchner Volksschulwesens engagiert, wollte die Jugend an die Lektüre von Belletristik heranführen. Er sah im wahren Lehrer einen "Erziehungskünstler", der nicht mehr, wie bisher, auf der Basis einer ungenügenden Allgemeinbildung seminaristisch ausgebildet werden sollte, sondern an eigenen Pädagogischen Akademien, die Wissenschaft mit Persönlichkeitsbildung und Praxisnähe verbanden;
  • Franz Xaver Weigl (1878–1952): ab 1897 Sonder- und Volksschullehrer in München, ab 1919 Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei (BVP) im Bayerischen Landtag und bis 1930 Stadtschulrat in Amberg. Weigl sah sich selbst als Vertreter der Arbeitsschule und vertrat vor allem in seinen Schriften "Bildung durch Selbsttun" (1912) und "Wesen und Gestaltung der Arbeitsschule" (1921) die Prinzipien "Handarbeit", "geistige Selbsttätigkeit" und "sittlich-religiöse Taterziehung";
  • Leo Weismantel (1888–1964): der Lehrer und Schriftsteller errichtete in Marktbreit (Lkr. Kitzingen) 1928 eine "Schule der Volkschaft", in der er erforschen wollte, wie sich vom "Weltbild des Kindes" her ein organisches Bildungswesen entwickeln ließe (er sah darin Parallelen zu den Bemühungen des "Weltbundes für Erneuerung der Erziehung", dem er seit 1924 angehörte);
  • Fritz Zimmermann (1891–1981): seine ungeteilte Landschule in Törwang am Samerberg (Lkr. Rosenheim) wurde wegen seiner Verdienste um einen jahrgangsstufen- und fächerübergreifenden Gesamtunterricht 1928 vom Kultusministerium zur ersten ländlichen Versuchsschule erklärt.

Zu den sichtbaren Zeichen der Reformpädagogik in Bayern gehören auch die Gründungen der privaten "Landerziehungsheime" bzw. "Landschulheime" Schondorf (1906; Lkr. Landsberg a.L.), Neubeuern (1925; Lkr. Rosenheim), Marquartstein (1928; Lkr. Traunstein) und – zumindest aus der reformpädagogischen Tradition stammend – Reichersbeuern (1938; Lkr. Bad Tölz-Wolfratshausen). Für kurze Zeit (1920–1923) unterhielt Max Bondy (1892–1951) bei Bad Brückenau (Lkr. Bad Kissingen) die "Freie Schul- und Werkgemeinschaft Sinntalhof", einen Ableger der "Freien Schulgemeinde Wickersdorf" (Thüringen) von Gustav Wyneken (1875-1964). Sie wiederum fand 1919 in der "Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen" (Sachsen-Anhalt) von Bernhard Uffrecht (1885-1959) eine Fortsetzung, während Bondy 1923 in Gandersheim (Niedersachsen) eine eigene "Schulgemeinde" errichtete.

Bewertung und Traditionslinien

Die Reformpädagogik als theoretisches, publizistisches und praktisches Ereignis ist auf ein verbreitetes Unbehagen an gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Erscheinungsformen zurückzuführen – bezeichnend ist das Anschwellen reformpädagogischer Literatur und praktischer Unternehmungen in den Krisen nach 1918 – und nicht auf wissenschaftliche Analysen, schon gar nicht nach heutigen Kriterien. Sie ist das Ergebnis einer raschen gegenseitigen "Infizierung", die zu zahlreichen Einzelinitiativen und Kleingruppenbildungen (z. B. bei Landschulheimen, Schulgemeinden) führte, aber kaum zu größeren Zusammenschlüssen (Ausnahmen: "Bund entschiedener Schulreformer"; "Weltbund für die Erneuerung der Erziehung").

Die gewollte Wissenschaftsferne vieler Reformer, die Berufung auf ein Gefühl für das pädagogisch Richtige, irrationale Annahmen über das "Wesen" des Kindes und des Erziehers und latente bis offene politische Ideologien (sozialistisch, nationalistisch, faschistisch; vgl. Oelkers 2005; Hierdeis 1986; Kunert 1973) führten zwar häufig zu dogmatischen Realitätsverweigerungen. Aber bestimmte Bezugspunkte der Kritik (z. B. asymmetrisches Erzieher-Kind-Verhältnis, Ungerechtigkeit des Bildungssystems, erstarrte Didaktik, Einseitigkeit der Ausbildung) sind auch heute noch verständlich, wenn nicht gar aktuell. Der Rückgriff der Begründer von Kinder- und Schülerläden in den 1960er und 1970er Jahren auf psychoanalytisch und sozialistisch orientierte Pädagogen der Reformzeit (z. B. Siegfried Bernfeld [1892-1953], Max Adler [1873-1937], Otto Felix Kanitz [1894-1940], Paul Oestreich [1878-1959], Otto Rühle [1874-1943]) lässt vermuten, dass die von ihnen ausgelösten pädagogischen und politischen Autoritätsdiskussionen auch auf eine Fernwirkung der Reformpädagogik zurückzuführen waren (vgl. Hierdeis 1973, 156ff.).

Von der Reformpädagogik aus führen zahlreiche, teilweise verdeckte Traditionslinien auch in Bayern bis in die Gegenwart. Am deutlichsten erkennbar ist das an didaktischen und pädagogischen Arrangements, die erfahrungs- und erlebnisorientiertes, entdeckendes Lernen in Gruppen (im Kindergarten, in der Schule, in sozialpädagogischen Einrichtungen) ermöglichen sollen (Paffrath 2017). Die Qualifizierung hierfür erfolgt auf unterschiedlichen Niveaus an einigen bayerischen (Fach)Hochschulen (Michl, Seidel 2018). Themen wie "Ganzheitliches Lernen", "Flexibilisierung der Bildungswege", "Bildungsgerechtigkeit", "Frühförderung", "Vorbereitung auf die Arbeitswelt", "Leistungsbewertung", "Gesamtschule" und – verstärkt durch die Mediatisierung des Unterrichts – die Frage nach der Bedeutung von Lehrerinnen und Lehrern im Lernprozess haben in der bildungspolitischen Diskussion und Gesetzgebung ihre Aktualität bewahrt (zu aktuellen praktischen "Reformpädagogisierungen" siehe Idel, Ullrich 2017).

Im innerdeutschen und internationalen Austausch reformpädagogisch orientierter Personen, Institutionen, Verbände und Vereine (vgl. Gronert, Schraut 2018) ist ein eigenes bayerisches Profil nicht erkennbar. Neben den Landschulheimen können sich am ehesten die beiden Jena-Plan-Schulen in Nürnberg und Würzburg, die Montessori-Einrichtungen (78 Kindergärten bzw. Kinderhäuser, 66 Grundschulen, 57 neun- und zehnklassige Schulen, 11 Fachoberschulen und Gymnasien) und die Waldorf-Kindergärten (56), Waldorf-Schulen (21) und Heilpädagogischen Schulen (7) auf eine reformpädagogische Tradition und Ausrichtung berufen. Vergleichbares gilt für das Schullandheim als besonderem Lernort – zunächst für Gymnasiasten – außerhalb der Schule, das, angeregt durch Jugend- und Landschulheimbewegung, um 1920 entstand und besonders in Mittel- und Norddeutschland Verbreitung fand. Nach 1945 hat sich Adolf Salffner (1890–1972) um seine Nutzung auch durch bayerische Volksschulen verdient gemacht. Im Bayerischen Schullandheimwerk sind heute (2020) 30 Schullandheime organisiert (vgl. Petek 1997, 109ff.).

Literatur

  • Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Georg Kerschensteiner. Beiträge zur Bedeutung seines Wirkens und seiner Idee für unser heutiges Schulwesen, Stuttgart 1984.
  • Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar 1982.
  • Winfried Böhm, Die Reformpädagogik, Montessori, Waldorf und andere Lehren, München 2012.
  • Maren Gronert/Albert Schraut (Hg.), Sicht-Weisen der Reformpädagogik, Würzburg 2016.
  • Maren Gronert/Alban Schraut (Hg.), Handbuch Vereine der Reformpädagogik (Bibliotheca Academica Pädagogik, 13), Würzburg 2018.
  • Manfred Heinemann (Hg.), Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 1), Stuttgart 1976.
  • Manfred Heinemann (Hg.), Der Lehrer und seine Organisation (Veröffentlichungen der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 2), Stuttgart 1977.
  • Helmwart Hierdeis, Kritik und Erneuerung. Reformpädagogik 1900–1933 (Erziehung – Anspruch – Wirklichkeit. Geschichte und Dokumente abendländischer Pädagogik VI), Starnberg 1971.
  • Helmwart Hierdeis (Hg.), Sozialistische Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 1973.
  • Helmwart Hierdeis, Der sogenannte Revisionismus in der Sozialdemokratie und die Entwicklung des sozialistischen Erziehungsdenkens in Deutschland, in: Helmut Heim/Heinz-Jürgen Ipfling (Hg.), Pädagogik in geschichtlicher Erfahrung und gegenwärtiger Verantwortung. Festschrift zum 65. Geburtstag von Karl Ernst Maier, Frankfurt am Main/Bern/New York 1986, 269–290.
  • Helmwart Hierdeis, Landerziehungsheimbewegung, in: Max Liedtke (Hg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens. 4. Band: Geschichte der Schule in Bayern - epochenübergreifende Spezialuntersuchungen, Bad Heilbrunn 1997, 125-138. [hier auch Literatur zu den Landerziehungsheimen Schondorf, Neubeuern, Marquardtstein, Reichersbeuern und Stein an der Traun]
  • Till-Sebastian Idel/Heiner Ullrich (Hg.), Handbuch Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2017.
  • Wolfgang Keim/Ulrich Schwerdt (Hg.), Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933). Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse. Teil 2: Praxisfelder und pädagogische Handlungssituationen, Frankfurt am Main 2013.
  • Wolfgang Keim/Ulrich Schwerdt/Sabine Reh (Hg.), Reformpädagogik und Reformpädagogik-Rezeption in neuer Sicht. Perspektiven und Impulse, Bad Heilbrunn 2016.
  • Georg Kerschensteiner, Begriff der Arbeitsschule, Darmstadt 1912
  • Georg Kerschensteiner, Begriff der Arbeitsschule, Darmstadt 7. Auflage 2002.
  • Georg Kerschensteiner, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, München 1926.
  • Georg Kerschensteiner, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, München 1929.
  • Georg Kerschensteiner, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, München 10. unveränd. Auflage 1966.
  • Georg Kerschensteiner, Selbstdarstellung, in: Erich Hahn (Hg.), Die Pädagogik der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1926.
  • Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, Neuenkirchen 1901 (2. überarb. Auflage 2010).
  • Diethardt Krebs/Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998.
  • Karl Kreitmair, Alois Fischer. Leben und Werk (8 Bde.), München 1950ff.
  • Hubertus Kunert, Deutsche Reformpädagogik und Faschismus, Hannover 1973.
  • Max Liedtke (Hg.), Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens Bd. III und IV, Bad Heilbrunn 1997.
  • Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt am Main 1933 (7. unveränd. Auflage 1970).
  • Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim 1989 (4. vollst. überarb. und erw. Auflage 2005).
  • Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011.
  • Hartmut Paffrath, Georg Kerschensteiners Idee der Arbeitsschule – Impulse für die Schule heute? in: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Georg Kerschensteiner. Beiträge zur Bedeutung seines Wirkens und seiner Idee für unser heutiges Schulwesen, Stuttgart 1984, 67–93.
  • Hartmut F. Paffrath, Einführung in die Erlebnispädagogik, Augsburg 2. überarb. Auflage 2017.
  • Edwin Petek, Schullandheimbewegung, in: Max Liedtke (Hg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens, Bd. IV, Bad Heilbrunn, 109-124.
  • Willy Potthoff, Einführung in die Reformpädagogik. Von der klassischen zur aktuellen Reformpädagogik, Freiburg im Breisgau 4. Auflage 2003.
  • Hermann Röhrs, Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa (Das Bildungsproblem in der Geschichte des europäischen Erziehungsdenkens XVI,1), Hannover u. a. 1980.
  • Hermann Röhrs, Die progressive Erziehungsbewegung. Verlauf und Auswirkung der Reformpädagogik in den USA (Das Bildungsproblem in der Geschichte des europäischen Erziehungsdenkens, Band XVI, 2), Hannover u. a. 1977.
  • Wolfgang Scheibe, Die Reformpädagogische Bewegung 1900 bis 1932. Eine einführende Darstellung. Mit einem Nachwort von Heinz-Elmar Tenorth, Weinheim 1969 (unveränd. Nachdr. der 10. Auflage 1999).
  • Hans Scheuerl, Reformpädagogik, in: Reinhard Fatke (Hg.), Forschungs- und Handlungsfelder der Pädagogik, Weinheim u. a. 1997, 185-235.
  • Franz-Otto Schmaderer, Die reformpädagogische Bewegung. Beiträge bayerischer Lehrer zu einer Schulreform von innen nach 1920, in: Lenz Kriss-Rettenbeck/Max Liedtke (Hg.), Schulgeschichte im Zusammenhang der Kulturentwicklung (Schriftenreihe zum Bayerischen Schulmuseum Ichenhausen, 1), Bad Heilbrunn 1983, 249–266.

Quellen

  • Archiv für Reformpädagogik, Abt. Allgemeine Erziehungswissenschaft. Humboldt-Universität Berlin.


Weiterführende Recherche

Verwandte Artikel


Hier alternative Titel für die Suchfunktion eintragen!

Empfohlene Zitierweise

Helmwart Hierdeis, Reformpädagogik, publiziert am 29.01.2020 (aktualisierte Version 30.03.2020); in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Reformpädagogik> (15.10.2024)