Physikatsberichte
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Als „Physikatsberichte“ werden medizinisch-topografische und ethnografische Beschreibungen bezeichnet, die das Bayerische Staatsministerium des Innern im Jahr 1858 bei den beamteten Landgerichtsärzten für ihre jeweiligen Amtsbereiche in Auftrag gab, um vor dem Hintergrund der sozialen Fragen der Zeit ein umfassendes Bild von der Topografie der Landgerichtsbezirke und den Lebensumständen der Bevölkerung zu erhalten. Die auf der Grundlage eines vorgegebenen Frageplans erstellten Berichte entstanden zwischen 1858 und 1861 und sind für das gesamte bayerische Staatsgebiet überliefert. Sie unterscheiden sich in Umfang und Informationstiefe von vorherigen und späteren Verwaltungsberichten dieser Art. Sie zeichnen jedoch kein authentisches Bild des Alltagslebens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern sind von den persönlichen Interessen und Wünschen sowie Karrierezielen der Verfasser geprägt, die deshalb bei einer angemessenen Auswertung zu berücksichtigen sind. Die zum großen Teil edierten Physikatsberichte bilden eine vielgenutzte Quelle etwa für die ortsgeschichtliche, regionalhistorische, volkskundliche und medizingeschichtliche Forschung.
Definition
Physikatsberichte sind medizinisch-topografische und ethnografische Beschreibungen. Verfasst wurden sie von den beamteten Landgerichtsärzten für ihre jeweiligen Amtsbereiche. Die Erstellung der Berichte erfolgte aufgrund zweier Verordnungen vom 21. April 1858 des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, damals zuständig für das Medizinalwesen. Die Befragung wurde nur einmal durchgeführt. Die Berichte stammen aus den Jahren 1858‑1861 und liegen für das gesamte bayerische Staatsgebiet vor.
Ziel der Physikatsberichte war es, ein umfassendes Bild von der Topografie der jeweiligen Landgerichtsbezirke einerseits und möglichst sämtlicher Lebensbereiche der Bevölkerung andererseits zu erhalten. Der Kunstbegriff „Physikatsbericht“ bezieht sich auf die in Bayern bis 1838 verwendete Amtsbezeichnung Physicus für Ärzte und deren Physikate, also Zuständigkeitsbereiche. Von „Physikatsberichten“ wird erst in der Forschungsliteratur gesprochen.
Historischer Hintergrund
Die Entstehung der Physikatsberichte wie auch des ihnen zugrundeliegenden Frageplans in der Mitte des 19. Jahrhunderts fielen in eine geistesgeschichtliche und politische Umbruchzeit. König Maximilian II. (1811-1864, reg. 1848-1864) regierte das Königreich Bayern am Beginn des Wandels vom Agrar- zum Industriestaat. Seine Regierungszeit war geprägt durch das Gedankengut der Volksaufklärer des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Demnach konnten nur gesunde, arbeitsfähige Untertanen Steuern zahlen oder das Militär stärken. Die Bevölkerung galt entsprechend als Fundament für einen funktionierenden und prosperierenden Staat. Hinzu kamen Einflüsse der liberal und demokratisch fundierten Gedankenwelt der Revolution von 1848.
Der König befasste sich intensiv mit den zunehmend wichtiger werdenden sozialen Fragen, insbesondere mit Möglichkeiten zur Bekämpfung der Armut in der Bevölkerung und der Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands. Mit dem Interesse an seinen Untertanen war er ein Kind seiner Zeit, in der die Romantiker das „Volk“ entdeckten und seine Bräuche, Erzählungen und Lebensweisen zu beschreiben begannen. Zeitgleich zeigten Spätaufklärer wie Lorenz Westenrieder (1748–1829), Joseph von Hazzi (1768–1845) oder Franz von Paula Schrank (1747–1835) in ihren Werken Missstände und entsprechende Lösungsvorschläge für vernunftgeleitetes Handeln auf.
Untersuchungen im Umfeld der Physikatsberichte
Maximilian II. rief 1848 und 1857 Wettbewerbe aus, die Lösungsansätze zur Bekämpfung der Armut im Land bieten sollten und gab mehrere Untersuchungen in Auftrag. Bereits 1846 hatte der Privatsekretär des damaligen Kronprinzen, Franz Xaver Schönwerth (1810–1886), den Entwurf einer Volksbeschreibung verfasst, auf deren Basis Maßnahmen für die Beseitigung der bestehenden sozialen Missstände vorgenommen werden sollten. Kausale Verbindungen zwischen den einzelnen Schriften lassen sich jedoch nicht in jedem Fall nachweisen. Ein in der Forschung postulierter Zusammenhang der Physikatsberichte mit der von Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) betreuten „Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern“ wird von der jüngeren Forschung widerlegt.
Die Physikatsberichte sind Teil einer Flut von Berichten, Statistiken und Enqueten, also groß angelegten Untersuchungen zu sozial- und wirtschaftspolitischen Verhältnissen. Ihr Entstehen ist den Aufträgen staatlicher Stellen zu verdanken. Möglich wurde dies durch ein zentralistisch organisiertes Verwaltungswesen im Königreich, das auf den Plänen des Staatsreformers Maximilian Joseph Graf von Montgelas (1759–1838) basierte.
Entstehung des Frageplans
Der Frageplan, auf dem die Physikatsberichte basieren, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Ärzten, sondern von Verwaltungsbeamten erstellt. Der topografische Teil folgt älteren Fragetraditionen. Beeinflusst ist er von den medizinischen Topografien ebenso wie von der Bakteriologie und einem aufklärerisch intendierten Interesse an der Gesundheit des Volkes und den damit zusammenhängenden Lebensbedingungen.
Der Frageplan im Wortlaut
A. In t o p o g r a p h i s c h e r Hinsicht: Lage des Bezirkes nach den geographischen Länge- und Breite-Graden, dann nach der Höhe über der Meeresfläche; ‑‑ natürliche und politische Gränzen; ‑‑ Klima des Bezirkes nach der herrschenden Temperatur, nach herrschenden Winden, Regen, Nebeln, Schnee und Hagel; Wechsel der Jahreszeiten und des Klimas in denselben; ‑‑ Zeit der Saat und Aerndte; ‑‑ geognostische Beschaffenheit des Bodens im Allgemeinen; Gebirgs-Bildung; Bodengattung nach Ober- und Unterlage; Quellen, Bäche, Flüsse, Teiche, Sümpfe und Moore; Ueberschwemmungen; ‑‑ Bodencultur; Vertheilung des Landes in Oedung, Wald, Wiesen, Feld und Gärten; Fruchtbarkeit des Bodens; ‑‑ Natur-Erzeugnisse von medicinischer Bedeutung wie Mineralwässer, oficinelle Pflanzen, Mineralien etc.
B. In e t h n o g r a p h i s c h e r Hinsicht: Charakteristisches in der physischen uid [sic!] intellectuellen Constitution der Bezirks-Bevölkerung; Verteilung der Bevölkerung im Bezirke; Verhältniss der Zahlen der Geschlechter, der Altersklassen, der Verehelichten, Verwittibten und Unverheiratheten; ‑‑ Wohnungs-Verhältnisse im Allgemeinen und insbesondere bezüglich auf Vereinödung oder Zusammensiedelung, auf Zudichtwohnen, auf Bau-Anlage und Bau-Material, auf Heiz-Material und Feuerungsweise; auf Höhe der Fenster, Beschaffenheit der Fussböden, Lage der Aborte und Dungstätten an den Wohnhäusern; ‑‑ Kleidungsweise nach Verschiedenheit von Geschlecht, Stand, Alter und Jahreszeit; Stoff und Mode in Kleidung; ‑‑ Nahrungsweise, ob vorherrschend vom Pflanzen- oder Thier-Reiche, reichlich oder ärmlich; Bereitungs-Weise der Speisen; Getränke, natürliche und künstlich-erzeugte; Ernährung der Kinder im ersten Lebensjahre; ‑‑ Beschäftigung der Bewohner; Verwendung der Jugend zu schwerer oder sonst ungeeigneter Arbeit; Fabrik- und ähnliche Arbeit; Zeit-Eintheilung für Ruhe und Arbeit; ‑‑ Lagerstätten, deren Beschaffenheit und locale Unterbringung; ‑‑ Wohlstand; Verhältniss der Wohnhabenden, Reichen und Armen; ‑‑ Reinlichkeit in und ausser den Häusern; an Wäsche und Kleidung; Neigung zum Baden; ‑‑ Vergnügungen, Feste, besondere Gewohnheiten; ‑‑ eheliches Leben, gewöhnliche Zeit der Eingehung desselben; Hang zur Ehelosigkeit; Fruchtbarkeit; Geschlechts-Ausschweifungen; Achtsamkeit bei Schwangeren und Wöchnerinnen; ‑‑ geistige Constitution der Bevölkerung; Neigung zu höherer Ausbildung; Verharren an der Heimath und ihrem Leben; religiöse Haltung des Volkes; Hang zu Mysticismus, Schwärmerei, Aberglauben.
(Zitiert nach Aerztliches Intelligenz-Blatt Nr. 18 (1.5.1858), 213.
Im Frageplan wurde ausführlich nach den Wohnverhältnissen gefragt. Das Bild zeigt die Häuser in Langdorf (Lkr. Regen) Anfang des 20. Jahrhunderts. (Bayerischer Landesverein für Heimatpflege, Inventarnummer J11514, lizenziert durch CC BY-NC 4.0 via bavarikon)
Der Bezirk Königshofen nimmt den schönsten Teil des Gaues Grabfeld ein, indem die meisten Ortschaften auf einer fruchtbaren Ebene liegen […]" heißt es in der Beschreibung des Physikus Dr. Friedrich Karl Philipp Medicus (1799-1878) für Königshofen. Die Aufnahme, in deren Mittelpunkt das gleichnamige Städtchen (seit 1974 Bad Königshofen) im heutigen Lkr. Rhön-Grabfeld zu sehen ist, wurde 1938 aufgenommen. (Bildarchiv Kreisheimatpfleger Reinhold Albert)
Im Frageplan wollten die Ärzte Genaueres über die Bevölkerung wissen. Darunter waren auch Fragen zur Bekleidung. Hier zu sehen sind Nationaltrachten aus dem Bezirksamt Landsberg am Lech. Abb. aus: Das Bayerland, Nr. 39, 2. Jahrgang 1891, 468. (Bayerische Staatsbibliothek, 4 Bavar. 198 tb-2)
Situation der Landgerichtsärzte im 19. Jahrhundert
Ärzte profilierten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als Experten für medizinische Belange. Seit 1803 arbeiteten Landgerichts- und Stadtärzte als Staatsbeamte. Andere Heilkundige, wie Wundärzte, Apotheker, Bader und Hebammen, waren ihnen unterstellt. Dass der Weg zum gesellschaftlich anerkannten Mediziner – einer damals ausschließlich männlichen Profession – in der Mitte des 19. Jahrhunderts trotzdem noch weit war, ist in zahlreichen Physikatsberichten nachzulesen. Dr. Johann Küsser (1812-1886) berichtet über das Landgericht Regenstauf (heute Lkr. Regensburg):
Von den Eltern ererbte Vorurtheile, Aberglaube, Mißtrauen und Armut stehen dem Sanitätswesen oft hinderlich im Wege. Bei gefährlichen Krankheiten wird zwar immer des Arztes Hilfe in Anspruch genommen, aber erst dann, wenn vorher […] allerlei Hausmittel angewendet oder geldgierige Pfuscher zu Rathe gezogen worden sind. (zitiert nach Sailer, Regensburg, 271)
Zahlreiche Versetzungsgesuche und deren Begründungen zeugen von den Problemen der Mediziner: Sie klagten über weite Wege, die zu den Patienten zurückzulegen waren, über das raue Klima, das zahlreiche Krankheiten mit sich bringe, schlechte Wohn- und Verdienstmöglichkeiten, Konkurrenz durch Laienmediziner, fehlende Möglichkeiten, sich selbst fortzubilden oder die Kinder auf geeignete Schulen zu schicken und darüber, die eigene Konfession nicht praktizieren zu können. Auch diese persönlichen Wünsche beeinflussten die Ärzte beim Verfassen der Berichte.
Interessen von Auftraggebern und Berichterstattern
Das Innenministerium als Auftraggeber erwartete sich von den Ärzten Erfolgsberichte und damit eine Bestätigung seiner Arbeit. Wer sich von den Berichteschreibern eine Versetzung wünschte, dachte diese Maßgabe bei der Erstellung seines Berichtes mit.
Die Antworten auf den Fragenplan sollten in einem nächsten Schritt für die Ärzteschaft nutzbar gemacht werden. Dazu kam es jedoch nicht. Wie zahlreiche andere Erhebungsergebnisse dieser Zeit, verschwanden die Berichte in den Registraturen der Kreisregierungen: Die Aufgabe, eine Erhebung durchzuführen, war mit der Abgabe der Berichte erfüllt. Das Interesse lag offenbar ausschließlich darin, Daten zu sammeln und nicht in deren Auswertung.
Die Physikatsberichte spiegeln die Interessen ihrer Erstseller. Dr. Adam Seuffert (1805-1871), der über den Landgerichtsbezirk Baunach (heute Lkr. Bamberg) berichtete, hatte eine Vorliebe für statistisches Zahlenmaterial, das seinen Bericht entsprechend prägt. Dr. Georg Friedrich Christenn (1813-1877), Landgericht Ebern (heute Lkr. Haßberge), äußerte sich überproportional ausführlich zu Spezialgebieten, etwa der Wärmeleitfähigkeit verschiedener Kleidungsstoffe. Andere Themen des Fragenkatalogs sind entsprechend deutlich kürzer abgehandelt.
Die beiden Ärzte für die Landgerichtsbezirke Aub und Ochsenfurt (beide heute Lkr. Würzburg) hatten grundsätzlich unterschiedliche Interessen an der Erstellung der Berichte: Derjenige von Dr. Felix Walter (1807-1863), zuständig für den Landgerichtsbezirk Aub, umfasst lediglich ein Drittel vom Text seines Ochsenfurter Kollegen Dr. Christian Wilhelm Gustav Meyer (1805-1866). Walter beantwortet die Fragen kurz und knapp. Meyer dagegen berichtet eingehend von Geschichte und Gegenwart und zitiert Literatur. Der Bericht sollte wohl in München einen guten Eindruck zu machen. Dabei verrät Meyer, wie viele seiner Amtskollegen sowohl aufklärerische Tendenzen, wenn er z. B. von „buntscheckigen Votivbildern“ (zitiert nach Weid, Würzburg, 14) spricht, aber ebenso antisemitische Einstellungen: „Der Hausirhandel der Juden, die mit der unverschaemtesten Zudringlichkeit den Thoren Gelegenheit zum Borgen geben.‘“ (zitiert nach Weid, Würzburg, 14f.).
Der Arzt Dr. Adam Seuffert zeigte im Bericht zu Baunach seine Vorliebe für Statistiken. Abb. aus: Medizinisch-topographische und ethnographische Beschreibung der Physikatsbezirke Bayerns aufgrund der Entschließung vom 21.4.1858, Bd. 14: Baunach, Bischofsheim (Rhön), Babenhausen, Brückenau, 50. (Bayerische Staatsbibliothek, BSB Cgm 6874(14)
Dr. Georg Friedrich Christenn (1813-1877) legte seinen Schwerpunkt der Befragungen auf die Beschreibung von Kleidung und deren Wärmeleitfähigkeit. Kleidung und Trachten dieser Zeit wurden auch im "Album deutscher Volkstrachten" von Albert Kretschmer (1825-1891) abgebildet. Hier sind u. a. Trachten aus der Fränkischen Schweiz zu sehen. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-019393)
Der Bezirksarzt von Ebermannstadt (heute Lkr. Forchheim) Mathias Jaudt (1804-1877) schildert neben der Geschichte der Städte in seinem Bezirk auch das milde Klima und die Auswirkungen auf die Gesundheit. Die Zeichnung von Carl August von Lebschée (1800-1877) zeigt den Ort Ebermannstadt. (Staatsbilbiothek Bamberg, I T 135/38, lizenziert durch CC BY-NC 4.0)
Unterschiedliche Informationstiefe der Berichte
Der Informationsgehalt der Physikatsberichte ist unterschiedlich: Karriereorientierte Berichterstatter lieferten ausführliche Berichte ab, während andere, die etwa kurz vor der Pensionierung standen, diese Arbeit eher oberflächlich erledigten und nach Möglichkeit Formulierungen vermieden, die unliebsame Nachfragen nach sich ziehen konnten.
Erste Seite des Physikatsberichts von Wegscheid (heute Lkr. Passau), der durch den Bezirksarzt Dr. Max Christoph Teichlein (1806-1859) verfasst wurde. Physikatsbericht, Bd. 191: Wegscheid, 2. (Bayerische Staatsbibliothek, BSB Cgm 6874(191)
Der Physikatsbericht des Bezirksarztes von Auerbach i.d.OPf. (heute Lkr. Amberg-Sulzbach), Dr. Johann Baptist Riegel (1797-1878), ist ein Beispiel für einen sehr kurzen Bericht, der zum Teil auch einige Fragen nicht beantwortete. Physikatsbericht, Bd. 9: Auerbach, fol.7v-8r. (Bayerische Staatsbibliothek, BSB Cgm 6874(9)
Der Arzt Dr. Tobias Mayer (1808-1875) verfasste Teile des Physikatsberichts für Nabburg (heute Lkr. Schwandorf). Zusammen mit den Teilen, die der Bezirksarzt Dr. Johann Kreittmann (1811-1865) erstellte, ergibt sich ein sehr ausführlicher Bericht. Die Abbildung zeigt einen Teil der Ethnographie aus der Feder Mayers. Physikatsbericht, Bd. 115: Nabburg, fol. 47v-48r. (Bayerische Staatsbibliothek, BSB Cgm 6874(115)
Editionen und Bearbeitungen
Die Physikatsberichte befinden sich in der Bayerischen Staatsbibliothek (Cgm 6874), mit Ausnahme derjenigen für Oberbayern, die im Bestand des Historischen Vereins für Oberbayern im Stadtarchiv München verwahrt werden.
In den 1860er/70er Jahren erschienen zwei Editionen von Berichten, ein knappes Dutzend folgte bis in die 1980er Jahre. Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München plante auf Anregung von Wolfgang Zorn (1922–2004) eine Volledition sämtlicher Berichte. Dieser Vorschlag steht im Zusammenhang mit dem damaligen flächendeckenden Interesse an der Heimatforschung (Zorn, Medizinische). Das Projekt wurde jedoch nicht verwirklicht.
Die Bezirksheimatpfleger von Unterfranken und Schwaben übernahmen stattdessen federführend die Bearbeitung und Herausgabe der Physikatsberichte in ihren Bezirken. Klaus Reder (geb. 1958) initiierte und leitete in Zusammenarbeit mit der Universität Würzburg sowie Stadt- und Kreisheimatpflegern die textkritische Edition sämtlicher unterfränkischer Physikatsberichte. Der letzte Band erschien 2009. Die Berichte aus Schwaben erschienen nach lokalen Vorarbeiten unter der Federführung von Gerhard Willi (geb. 1958) und dem damaligen Bezirksheimatpfleger Peter Fassl (geb. 1955). Der letzte Band erschien 2021. Ebenfalls vollständig ediert sind die Berichte aus der ehemals bayerischen Pfalz, weitgehend komplett diejenigen aus Oberbayern und der Oberpfalz. Die Berichte aus Niederbayern, Ober- und Mittelfranken harren noch der vollständigen Herausgabe.
Auswertungen
Wegmarken in der systematischen Erforschung waren 1986 eine Untersuchung der niederbayerischen Berichte (Spiegel, Niederbayern) und 1995 eine umfassende Untersuchung der bayerischen Physikatsberichte (Reder, Physikatsberichte). Es folgten zahlreiche kleinere Arbeiten für einzelne Bezirke oder Orte.
Die Physikatsberichte haben sich unter anderem als Quelle für die ortsgeschichtliche (z. B. Pötzl, Mittelalter), regionalhistorische (z. B. Sachsse/Tennstedt, Armenfürsorge), volkskundliche (z. B. Willi, Quelle) und medizingeschichtliche (z. B. Probst/Probst, Loisach) Forschung etabliert. Horst Gehringer (geb. 1965) bietet einen umfassenden Forschungsstand (Gehringer, Infrastruktur, 49-56). Die große Zahl von Arbeiten zu Physikatsberichten mag auch im Zusammenhang mit dem erleichterten Zugang durch die Edition eines Großteils der Berichte stehen. Es wird abzuwarten sein, ob die im Wachstum begriffene Digitalisierung der Editionen auch die weiter vermehrte Nutzung dieser Quelle zur Folge hat.
Quellenkritik
Physikatsberichte zeichnen kein authentisches Bild des Alltagslebens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, darüber ist sich die Forschung einig. Notwendig für die angemessene Auswertung der Beschreibung eines Landgerichts ist die Betrachtung im Kontext anderer Berichte. Hilfreich ist die Rezeption überregional angelegter Untersuchungen (z. B. Bergmeier, Wirtschaftsleben; Loos, Mittelfranken; Probst, Ostbayern; Spiegel, Alltagsleben; Wormer, Oberpfälzer).
Bei den Physikatsberichten handelt es sich um Verwaltungsschriftgut, erstellt von Verwaltungsbeamten. Biographien, Intentionen, Ausbildung und Interessen sowohl der Ersteller des Frageplans wie auch der Verfasser dieser Berichte selbst müssen bei der Lektüre und Auswertung berücksichtigt werden.
Eine unkritische, ahistorische Lesart der Physikatsberichte macht diese Quelle zum Steinbruch für pittoreske Anekdoten und Stereotypisierungen , wie jene sattsam bekannte vom „typischen“ Bayern, Schwaben oder Franken. Möglichkeiten dazu bieten die Berichte genug, so wie das Zitat des Gerichtsarztes Dr. Joseph Spieß (1811-1882) über die Werdenfelser Bevölkerung:
„Charakteristisch ist in physischer Beziehung, dass der Altwerdenfelser […] seine körperlichen Kräfte möglichst zu schonen sucht. Fleißig und arbeitsam ist derselbe nur so lange, als es sich um die nöthigsten Lebensbedürfniße […] handelt. […] Wird ihm die erwünschte Koste nicht verabreicht, so bleibt er dann zu Hause, daher das Sprüchwort: ‚Lieber einen leeren Darm als einen müden Arm!‘“ (zitiert nach Gehringer, Alltagsleben, 48)
Literatur
- Monika Bergmeier, Wirtschaftsleben und Mentalität. Modernisierung im Spiegel der bayerischen Physikatsberichte 1858 – 1862 (Mittelfranken, Unterfranken, Schwaben, Pfalz, Oberpfalz), München 1990.
- Horst Gehringer, Der Blick auf das Leben der Bevölkerung in Berichten der bayerischen Gerichtsärzte (1858-1861) in: Oberbayerisches Archiv 130 (2006), 347–383.
- Horst Gehringer, Alltagsleben im 19. Jahrhundert? Die Berichte der bayerischen Gerichtsärzte (1858‑1861). In: Recht und Infrastruktur in der Geschichte des bayerischen Oberlands. Hg. im Auftrag der Gesellschaft für Bayerische Rechtsgeschichte von Hans-Georg Hermann und Hans-Joachim Hecker. Regensburg 2020, 40‑74.
- Michael Henker, Margot Hamm/Evamaria Brockhoff (Hg.), Bayern entsteht. Montgelas und sein Ansbacher Mémoire von 1796. Katalog zur Ausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv in Ansbach und München 1996/97, Augsburg 1996.
- Beate und Günter Lipp/Susi-K. Reimann (Bearb.), Der Landkreis Haßberge um 1860, Würzburg 2004 (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 97).
- Edeltraud Loos, „Behufs der Bestimmung des im Bezirk herrschenden Kulturgrades…“ Die Physikatsberichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Beitrag zur Sozial- und Kulturgeschichte Mittelfrankens (Mittelfränkische Studien 13), Ansbach 2001.
- Johannes Molitor, Zwei Physikatsberichte des Landgerichts Deggendorf aus den Jahren 1830 und 1860, in: Deggendorfer Geschichtsblätter 6 (1986), 99–143.
- Walter Pötzl, Die Entwicklung der drei Siedlungen vom späten Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Gunther Gottlieb/Walter Pötzl (Hg.), Geschichte der Marktgemeinde Stadtbergen. Stadtbergen, Leitershofen, Deuringen, Stadtbergen 1992, 57‑78.
- Christian Probst/Rita Probst: Das Land um Isar und Loisach und seine Menschen im Blick der Ärzte. Zwei Landes- und Volksbeschreibungen aus den Jahren 1806 und 1860 (Beiträge zur Isarwinkler Heimatkunde 1), Bad Tölz 1985, 5‑108.
- Erwin Probst, Ostbayern – Land und Leute im 19. Jahrhundert. Bayerische Physikatsberichte um 1860 und ihr historisches Umfeld als landes- und volkskundliche Quelle, in: Verhandlungen des historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg (2002), 65–80.
- Klaus Reder, Die bayerischen Physikatsberichte 1858-1861 als ethnographische Quelle am Beispiel Unterfranken (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 57), Würzburg 1995.
- Klaus Reder, Die Physikatsberichte als Versuch einer Landesaufnahme in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Peter Fassl/Rolf Kießling, Volksleben im 19. Jahrhundert. Studien zu den bayerischen Physikatsberichten und verwandten Quellen. Wolfgang Zorn zum 80. Geburtstag. Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben und der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee vom 16./17. März 2001 (Veröffentlichungen der schwäbischen Forschungsgemeinschaft Reihe 10: Quellen zur Historischen Volks- und Landeskunde, 2), Augsburg 2003, 63–74.
- Wilhelm Heinrich Riehl, Bavaria, Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern bearbeitet von einem Kreise bayerischer Gelehrter. 5 Teile in 10 Bänden, München 1860–1868.
- Christoph Sachsse/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1980.
- Manfred Sailer (Bearb., Editor), „Sondern seine engeren Lebens-Verhältnisse sind es, die an der Kraft und Dauer seines Lebens zehren“. Die Physikatsberichte der Landgerichtsbezirke Regensburg, Regenstauf und Stadtamhof, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 149 (2009), 205–298.
- Beate Spiegel, Physikatsberichte als Spiegel des Alltagslebens in Niederbayern um 1860, Magisterarbeit masch. München 1986.
- Gerhard Willi, Die Physikatsberichte als wiederentdeckte volkskundliche Quelle. Der Physikatsbericht von Obergünzburg, in: Heimatverein für den Landkreis Augsburg, Jahresbericht 26 (1997/99), 635‑663.
- Inge Weid (Bearb.), Der Landkreis Würzburg um 1860. Amtsärzte berichten aus den Landgerichten Aub, Ochsenfurt und Würzburg (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 91), Würzburg 2001.
- Gerhard Willi, Die bayerischen Physikatsberichte von 1858/61. Bemerkungen zur Entstehung und Bedeutung der Quelle unter besonderer Berücksichtigung von Bayerisch-Schwaben, in: Peter Fassl/Rolf Kießling, Volksleben im 19. Jahrhundert. Studien zu den bayerischen Physikatsberichten und verwandten Quellen. Wolfgang Zorn zum 80. Geburtstag. Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben und der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee vom 16./17. März 2001 (Veröffentlichungen der schwäbischen Forschungsgemeinschaft Reihe 10: Quellen zur Historischen Volks- und Landeskunde, 2), Augsburg 2003, 23–62.
- Eberhard J. Wormer, Das Leben der Oberpfälzer in Gesundheit und Krankheit an der Schwelle zum Industriezeitalter (Miscellanea Bavarica Monacensia 114), München 1988.
- Wolfgang Zorn, Medizinische Volkskunde als sozialgeschichtliche Quelle. Die bayerischen Bezirksärzte-Landesbeschreibungen von 1860/62, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 69 (1982), 219–231.
Quellen
- Handschriftliche Berichte: Medizinisch-topographische und ethnographische Beschreibung der Physikatsbezirke Bayerns aufgrund der Entschließung vom 21. 4. 1858, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 6874(1-6874(207.
- Physikatsberichte von Oberbayern (Historischer Verein von Oberbayern: Stadtarchiv München DE-1992-HV-MS-0401-01 bis DE-1992-HV-MS-0401-40).
Weiterführende Recherche
Externe Links
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- Regierung unter Maximilian II.
Empfohlene Zitierweise
Birgit Speckle, Physikatsberichte, publiziert am 12.12.2022; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Physikatsberichte> (11.10.2024)