Lindau (1945-1955/56)
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Der in der französischen Besatzungszone Deutschlands gelegene Landkreis Lindau (ab 1946: "Bayerischer Kreis Lindau") war eine vom Staatsverband Bayerns abgetrennte Gebietskörperschaft mit einem länderähnlichen Status, der sich von der Besatzungsmacht ableitete. Dieser endete vollständig am 27. März 1956 mit der ab 1950 sukzessiv durchgeführten Rückgliederung in den Freistaat Bayern. Von besatzungsrechtlichen Vorbehalten und ab 1949 dem Bundesrecht abgesehen, bestimmte der Kreis grundsätzlich souverän über seine Rechtsetzung. Gesetzgeber und Exekutivspitze zugleich war der sog. Kreispräsident. Der Kreis Lindau war ein beispielloses Staatskonstrukt und bildet ein Unikum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Kreisbeschreibung, geografische Lage und Spezifika
Territorial war der Kreis Lindau zunächst mit dem Landkreis Lindau identisch. 1948 wurde die Stadt Lindau kreisfrei, sie war danach unter dem Dach des Kreises mit dem Landkreis verklammert. Das Kreisgebiet umfasste 310 km². Im Osten grenzte es an die Landkreise Kempten und Sonthofen, im Norden und Westen an Württemberg und im Süden an Österreich. 1946 hatte der Kreis rund 71.000 Einwohner mit stetig steigender Tendenz. Überdurchschnittlich war die Bevölkerungsdichte von rund 200 Köpfen pro km². Wirtschaftlich bildete der Kreis einen Schwerpunkt hochspezialisierter Landwirtschaft, im Westallgäu besonders der Milchwirtschaft, im Bodenseegebiet vor allem des Obstbaus. Im Zweiten Weltkrieg war zudem ein Cluster von Spezialindustrien (Maschinenbau-, Flugzeug- und Elektroindustrie) aufgebaut worden, die von der französischen Besatzungsmacht teilweise weiter genutzt wurde.
Das Westallgäu, im Mittelalter territorial zersplittert und überwiegend vom Kloster St. Gallen abhängig, war seit dem 16. Jahrhundert schrittweise von Österreich erworben worden. Das bis 1802 als freie Reichsstadt bestehende Lindau kam seinerzeit durch den Reichsdeputationshauptschluss an den Fürsten Karl August von und zu Bretzenheim (1768-1823), der es 1804 an Österreich verkaufte. Pläne, Lindau zur Hauptstadt Vorderösterreichs zu erheben, scheiterten. 1805 wurde Lindau ebenso wie das Westallgäu zusammen mit Vorarlberg und Tirol im Frieden von Pressburg an das Königreich Bayern abgetreten. Die einst fuggersche Herrschaft Wasserburg mit Nonnenhorn, 1755 von Österreich angekauft, kam auf diesem Wege ebenfalls an Bayern. Während Tirol und Vorarlberg im 1. Pariser Frieden von 1814 an Österreich zurückfielen, verblieben die 1806 neugeschaffenen Landgerichte Weiler und Lindau bei Bayern.
Entstehung des 'Landes' Lindau 1945: Kriegsende und französische Besatzung
Der Sonderstatus des Kreises Lindau ging darauf zurück, dass auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 Frankreich auf britisches Drängen eine eigene Besatzungszone in Deutschland und Österreich zugestanden wurde, die von den für die Angloamerikaner vorgesehenen Gebieten abgetrennt werden musste. Angehörige der 1. Französischen Armee hatten Ende April 1945 das Bodenseegebiet besetzt. Dieses nahm für die künftige französische Besatzungszone in Deutschland und Österreich eine zentrale Lage ein, weshalb Lindau in der Zeit vom 8. Mai bis zum 31. Juli 1945 als Sitz des Oberkommandos und des 5. Bureaus der 1. Armee, dem die Verwaltung der besetzten Gebiete oblag, eine Hauptstadtfunktion innehatte. Ende Juli 1945 bezog dann General Pierre Koenig (1898-1970) sein Hauptquartier in Baden-Baden. In einer Ergänzung des EAC-Zonenprotokolls vom 26. Juli 1945 wurde festgelegt, dass Lindau anders als das übrige Bayern nicht der amerikanischen, sondern der französischen Besatzungszone angehören sollte. Auf diese Weise wurde ein Korridor zwischen den französisch besetzten Ländern Württemberg-Hohenzollern und Vorarlberg geschaffen.
Staatsrechtliche Stellung des Kreises und Beziehungen zu Württemberg-Hohenzollern
Der genaue Rechtsstatus des Kreises Lindau blieb praktisch undefiniert und theoretisch umstritten. Der Bundesgesetzgeber behandelte Lindau als ein Land im grundgesetzlichen Sinne, jedoch nur bereichsspezifisch wie etwa beim Länderfinanzausgleich, der Lindau als sog. Geberland heranzog. Das Bundesverfassungsgericht stellte 1952 aber klar, dass der Kreis Lindau kein Land im Sinne des Grundgesetzes war.
Eine Eingliederung in das Land Württemberg-Hohenzollern stand nie ernsthaft zur Diskussion. Die französische Politik hielt sich aber lange mit einer offiziellen Bestätigung der weiteren Zugehörigkeit zu Bayern zurück. Durch die Besatzungsherrschaft mit ihm verklammert, nahm Württemberg-Hohenzollern allerdings einige Zuständigkeiten für Lindau wahr, ohne aber dort Hoheitsrechte innezuhaben. Rechtlich handelte es sich am ehesten um sog. Verwaltungs- und Gerichtsgemeinschaften. Nach einer Weisung der Militärregierung in Tübingen, der der Kreis Lindau ebenfalls unterstand, hatte sich das württembergisch-hohenzollerische Staatssekretariat auch der staatlichen und politischen Einflussnahme im Kreis zu enthalten.
Der Kreis war in der "Beratenden Landesversammlung für Württemberg, Hohenzollern und den Kreis Lindau" (1946) mit drei der insgesamt 68 Mitglieder vertreten, die aber nur mit beratender Stimme und nur bei Lindau unmittelbar betreffenden Angelegenheiten tätig werden durften. An den Sitzungen der Verfassunggebenden Landesversammlung Bayerns von 1946 nahm ein Lindauer Vertreter als Gast teil. Im Landtag von Württemberg-Hohenzollern war der Kreis von Juni 1947 bis November 1950 durch zwei Abgeordnete vertreten. Deren parlamentarische Rechte waren umstritten, insbesondere als sie 1949 ankündigten, gegen die Annahme des Grundgesetzes zu stimmen. Seit den Landtagswahlen am 26. November 1950 war Lindau durch einen Abgeordneten im Bayerischen Landtag vertreten.
Der gebürtige Lindauer Wilhelm Göttler (CSU, 1890-1953) vertrat den Kreis Lindau von 1950 bis zu seinem Tod im Bayerischen Landtag. Foto von 1950. (Bildarchiv Bayerischer Landtag)
Otto Weinkamm (CSU, 1902-1968) folgte dem verstorbenen Göttler als Lindauer Landtagsabgeordneter nach. Er war gleichzeitig Justizminister im Kabinett Ehard III. Foto von 1954. (Bildarchiv Bayerischer Landtag). Foto von 1954. (Bildarchiv Bayerischer Landtag)
Die Zuständigkeiten Tübinger Stellen für Lindau folgten zumeist aus der gemeinsamen Zonenzugehörigkeit oder aus Festlegungen der Besatzungsmacht. Dies betraf in erster Linie die Versorgung mit bestimmten Wirtschaftsgütern, Sozialversicherung, Flüchtlingswesen, zeitweise aber auch das Unterrichtswesen. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestand mit dem Oberlandesgericht Tübingen faktisch ein gemeinschaftliches Obergericht. Ebenso war auf dem Gebiet der Arbeitsgerichtsbarkeit zwischen 1949 und 1951 in dritter Instanz das Oberlandesarbeitsgericht Tübingen zuständig.
Gemäß Vereinbarung zwischen Württemberg-Hohenzollern und Bayern vom 12./13. Februar 1952 gingen im Zuge der Gründung Baden-Württembergs grundsätzlich alle Zuständigkeiten betreffend Lindau mit dem 1. April 1952 auf Bayern über, soweit die Befugnisse durch den Kreispräsidenten nicht in eigener Zuständigkeit ausgeübt wurden. Die wenigen von Baden-Württemberg noch wahrgenommenen Aufgaben waren zeit- oder besatzungsbedingt und im Auslaufen begriffen.
Die ehemaligen Reichsbehörden, die im Kreisgebiet Lindau tätig waren, wurden von ihren bisherigen vorgesetzten Dienststellen in München und Augsburg gelöst und neuen oder umgebildeten, von der französischen Besatzungsmacht zugeschnittenen Mittelbehörden zugewiesen, nämlich der Oberpostdirektion Tübingen und der Eisenbahndirektion Karlsruhe. Das Arbeitsamt Lindau führte ein gewisses Eigenleben in der Mitte der gegebenen Sonderstellung.
Organisationsstrukturen des Kreises: Regierung, Justiz, Verwaltung
Die deutsche Verwaltung im Kreis wurde zunächst vom Landrat und den Kommunalverwaltungen ausgeübt, bis als neue Exekutivspitze im Frühjahr 1946 das Kreispräsidium eingerichtet wurde. Diese oberste Behörde unter Leitung des Kreispräsidenten entsprach den von den Besatzungsmächten (provisorisch) eingesetzten Regierungschefs der Länder mit einer machtvollen Stellung, die in Lindau formell bis 1955 unverändert beibehalten wurde. Die Kompetenzen des Kreispräsidenten nahmen – paradoxerweise unter Geltung des Grundgesetzes – sogar noch zu, da die besatzungsrechtlich bedingten Einschränkungen seiner Autorität immer weiter zurückgingen.
Die Schaffung einer dem Sonderstatus entsprechenden Verwaltungsstruktur war eine Aufgabe der Militärregierung des Kreises, die hierzu Vorschläge sammelte und Fachleute der deutschen Verwaltung anhörte. Der im Kreis ansässige Reichswehrminister a. D. Otto Geßler (DDP, 1875-1955, Reichswehrminister 1920-1928) legte in einer Denkschrift vom September 1945 die Notwendigkeit einer eigenen Instanz über Stadt und Landkreis Lindau dar und regte die Bestellung eines "Kreispräsidenten" an. Der Kreisgouverneur unterbreitete den Vorschlag der Tübinger Militärregierung und ließ im Landratsamt im Spätherbst 1945 das Vorläufige Büro des Kreispräsidenten bilden. Als Kandidat für das Amt des Kreispräsidenten empfahl Wilhelm Hoegner (SPD, 1887-1980, Ministerpräsident 1945-1946, 1954-1957) den Sozialdemokraten Oskar Groll (1875-1946). Dessen offizielle Ernennung durch die Militärregierung verzögerte sich bis zum 17. Juni 1946. Bereits am 19. Juni 1946 verstarb Groll. Als Nachfolger fungierte kommissarisch Landrat Wolfgang Bernklau (geb. 1909). Dieser erließ am 27. November 1946 die Rechtsanordnung über den Erlass von Rechtsvorschriften im Kreis Lindau, welche mit § 1 die zentrale Norm der 'Verfassung' werden sollte: "Rechtsvorschriften des Kreises Lindau erlässt – unbeschadet des Anordnungsrechtes der Militärregierung – der Kreispräsident im Wege der Rechtsanordnung. Es bedarf dazu der Genehmigung der Militärregierung." Selbstgeschaffenes Recht konnte damit ebenso gesetzt werden wie es möglich war, durch Rechtsanordnung württembergisches bzw. später bayerisches Landesrecht in Kraft zu setzen. Ab Mitte 1950 genügte für die Inkraftsetzung bayerischer Vorschriften eine Rechtsanordnung unter Angabe der Fundstelle.
Ende 1946 erfolgte die eigentliche Ausgestaltung des Kreispräsidiums zu einer Oberbehörde mit Gesetzgebungs- und Verwaltungsaufgaben. Status und Rechtsetzungsbefugnis des Kreispräsidenten wurden durch eine Weisung des französischen Kreisdelegierten vom 13. Dezember 1946 klargestellt, wonach der Kreispräsident für den Kreis Lindau die gleichen Befugnisse wie das Staatssekretariat von Württemberg hatte. Festgelegt wurde eine einstimmige Wahl des Kreispräsidenten durch die Kreisversammlung, womit dieser eine minimale demokratische Legitimation erhielt, wenn er auch dieser Körperschaft in keiner Weise verantwortlich sein sollte. Dieses demokratische Defizit im Kreis wurde somit in Kauf genommen und blieb auch nach Gründung der Bundesrepublik bestehen, um es bei dem Verwaltungsprovisorium ohne ausgeprägtes Eigenleben zu belassen und nicht die Trennung von Bayern zu vertiefen und die Rückgliederung zu erschweren.
Als zweiter und letzter, allerdings prägender Kreispräsident wurde nach längerer Suche von der Kreisversammlung am 7. Dezember 1946 der Landmaschinenfabrikant Anton Zwisler (1888-1977), Lindauer Stadtratsmitglied der Christlich Demokratischen Partei (CDP) und Kreisrat, gewählt. Seine Amtsführung erwies sich als überparteilich und ausgleichend. Sein Verhältnis zur Besatzungsmacht, aber auch zu den Landesregierungen in Tübingen und München war gut. An der Zugehörigkeit Lindaus zu Bayern ließ er keinen Zweifel. Seit deren Gründung 1946 bis 1970 war Zwisler zugleich Präsident der von ihm aufgebauten Industrie- und Handelskammer Lindau. 1956 Träger des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik, 1960 des Bayerischen Verdienstordens.
Eine nur unvollkommene parlamentarische Vertretung, die aber auch nicht als solche konzipiert war, stellte der Beratende Ausschuss beim Kreispräsidenten dar, der im Februar 1948 auf Anordnung des Commandant en Chef Koenig eingeführt und im April 1948 von einer Wahlversammlung, die aus den 68 Mitgliedern der Kreisversammlung, den Stadträten von Lindau und den Gemeinderäten der vier einwohnerstärksten Kreisgemeinden mit mehr als 2.000 Einwohnern (Lindenberg, Scheidegg, Heimenkirch und Simmerberg) bestand, gewählt wurde. Als gewählte Mitglieder fungierten kommunale Mandatsträger, während die Lindauer Landtagsabgeordneten geborene Mitglieder des Ausschusses waren. Treibende Kraft für seine Einrichtung war die Lindauer Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) gewesen, die nach dem Verlust des Kreispräsidentenamtes wieder mehr an Einfluss zu gewinnen versuchte. Der von SPD, Bayernpartei und überparteilicher Wählergruppe erstrebte Ausbau zu einem Vollparlament gelang allerdings nicht. Der Ausschuss hatte auf Wunsch des Kreispräsidenten, seines Vorsitzenden, oder der Mehrheit seiner Mitglieder zusammenzutreten. Seine Beschlüsse hatten lediglich empfehlenden Charakter und waren bindend nur im Hinblick auf den Haushalt des Kreises, der seit 1. April 1946 gesondert aufgestellt und im Ausschuss jährlich beraten wurde.
Die Steuerhoheit war eine logische Folge des Lindauer Sonderstatus. Die Haushaltslage war günstig. So hatte Lindau nach den Ländern Hamburg und Bremen 1950 die höchsten Pro-Kopf-Steuereinnahmen an Bundes- und Landessteuern. Dies ermöglichte eine großzügige soziale, kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Förderung. Überdurchschnittliche Investitionen erfolgten in den Neubau von Schulen und Straßen, in Stipendienstiftungen und Künstlerförderung sowie in die Förderung der Landwirtschaft. Der Sonderstatus des Kreises gab auch den Rahmen für die sog. Kaffeeschmuggelaffäre ab, die ab 1950 Aufsehen erregte: Dem Kreispräsidium wurde vorgeworfen, zur Generierung von Einnahmen durch das sog. Schwarz-Weiß-Verfahren bei der Zollabfertigung am Kaffeeschmuggel aus der Schweiz über Österreich beteiligt gewesen zu sein. Die Vorgänge konnten auch in einem umfangreichen Strafverfahren nicht mehr sicher aufgeklärt werden.
Mit dem Sonderstatus war die Justizhoheit des Kreises verbunden, der zuvor zum Landgerichtsbezirk Kempten gehört hatte. 1946 wurde das Landgericht Lindau gegründet, dem die Amtsgerichte Lindau und Weiler-Lindenberg unterstanden, sowie die Staatsanwaltschaft Lindau. Die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit übten zugleich die Fachgerichtsbarkeiten aus. So wurde beim Amtsgericht Lindau das Arbeitsgericht eingerichtet, beim Landgericht das Landesarbeitsgericht und auch das Verwaltungsgericht. 1949 wurde die Finanzgerichtsbarkeit im Kreis eingeführt, die 1952 auch als erster Zweig der Gerichtsbarkeit vollständig auf Bayern überging. Allein ein Verfassungsgericht fehlte, da der Kreis über keine Verfassung im formellen Sinn verfügte.
Lindaus Verhältnis zu Bayern und seine Wiederangliederung
Gemäß den alliierten Vereinbarungen schloss die US-Militärregierung in Art. 1 der Proklamation Nr. 2 vom 19. September 1945 Lindau auch formell von der Verwaltung durch Bayern aus. Durch Erlass des Ministerpräsidenten vom 26. Januar 1946 wurde der unmittelbare Dienstverkehr verboten. Aber schon am 4. April 1946 erging ein neuer Erlass, wonach es für die bayerische Verwaltung zulässig war, in grundsätzlichen Angelegenheiten mit der Lindauer Verwaltung in Verbindung zu treten. Direkte Anordnungen und Verfügungen waren aber nicht mehr möglich, allenfalls Empfehlungen. In der Bayerischen Staatskanzlei wurde ab Herbst 1945 der Diplomat Hans Heinrich Herwarth von Bittenfeld (1904-1999), der ein gutes Verhältnis zu Frankreich pflegte, als Referent mit dem Aufgabenkreis Lindau betraut. Daneben boten Staatsministerien und Fachbehörden dem Kreispräsidenten laufend Beratung an. Vereinbart war, dass der Kreispräsident keine "Maßnahme von Dauerwirkung", insbesondere keine Ernennung oder Beförderung höherer Beamter, ohne Einvernehmen mit Bayern vornehme solle.
Hintergrund für die Haltung der Staatsregierung war die erwartete Rückgliederung, die 1955 akut wurde. Ausschlaggebend war das Inkrafttreten des Protokolls über die Beendigung des Besatzungsstatuts in der Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung zum 5. Mai 1955. Denn damit entfiel auch die besatzungsrechtliche Deckung der Legislativkompetenz des Kreispräsidenten. Zugleich entfiel für Frankreich mit dem Wiener Staatsvertrag vom 15. Mai 1955, mit dem Österreich volle Souveränität erlangte, die Funktion des Kreises als Landbrücke nach Vorarlberg. Zwischen Lindau und Bayern wurde vereinbart, dass letzteres ein Überleitungsgesetz (Gesetz über den Bayerischen Kreis Lindau, sog. Lex Lindau) erlasse. Im Landtag wurde das Gesetz einstimmig verabschiedet, während es im Senat wegen rechtlicher Bedenken am 27. Mai 1955 noch zu einer Kampfabstimmung kam. In der Fachwelt war zudem umstritten, ob statt eines Gesetzes ein Staatsvertrag erforderlich sei. Diese Auffassung vertraten die Lindauer Rechtsanwälte und erhoben daher Popularklage zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof, um die Verfassungswidrigkeit des Überleitungsgesetzes feststellen zu lassen und die Rückgliederung zu verhindern. Die Klage blieb ohne Erfolg. Auf politischer Ebene versuchte der Kreisbauernverband, durch einen an den Bundesminister des Innern gerichteten Antrag über die Rückgliederung ein Volksbegehren herbeizuführen, wie es gerade Bayern selbst in Bezug auf die Pfalz getan hatte. Er konnte sich damit aber im Ergebnis gewisse Privilegien sichern. Die Lex Lindau vom 23. Juli 1955 löste mit ihrem Inkrafttreten zum 1. September 1955 die Gebietskörperschaft "Bayerischer Kreis Lindau" auf, schaffte ihre Organe ab, die teilweise noch als Abwicklungsstellen weiterarbeiteten, bestimmte die Rechtsnachfolge durch den Freistaat Bayern und schuf einige Übergangsregelungen. Am 27. März 1956 fand in Lindau ein Festakt zur endgültigen Rückgliederung statt.
Beispiele für Relikte
Nach der Wiedereingliederung Lindaus in den Freistaat Bayern blieben an einigen Stellen Relikte aus der Zeit der Selbständigkeit bestehen. So erkannte Bayern aufgrund der besonderen geografischen Lage und Situation Lindaus das Bedürfnis für eine eigene Industrie- und Handelskammer an und sah mit der Lex Lindau ihr Weiterbestehen vor. Sie war die einzige der vom Kreispräsidenten geschaffenen Einrichtungen, die – bis 2003 – beibehalten wurde. Auch die von Oberbürgermeister Walther Frisch (1879-1966, Oberbürgermeister 1945-1956) mit Unterstützung des Kreispräsidenten betriebene Gründung der 1950 eröffneten Spielbank Lindau wäre ohne den Sonderstatus nicht möglich gewesen. Durch die Einnahmen aus dem Spielbetrieb wurden u. a. der aufwändige Umbau des Stadttheaters in der Barfüßerkirche ermöglicht und 1951 die erste der renommierten Nobelpreisträgertagungen finanziert. Verwaltungsmäßig und spieltechnisch war Lindau bis 1974 dem Württembergischen Landessportbund angegliedert. In der Arbeitsgerichtsbarkeit blieben Lindauer Berufungssachen des Arbeitsgerichts Kempten noch jahrelang als Sonderzuständigkeit der 1. Kammer des damaligen Bayerischen Landesarbeitsgerichts unter seinem Präsidenten als Vorsitzendem zugewiesen. Im Bewusstsein der Bevölkerung geriet der Sonderstatus dennoch bald in Vergessenheit.
Literatur
- Werner Dobras, Nachkriegszeit und Kreispräsidium, in: Werner Dobras (Hg.), Daheim im Landkreis Lindau, Konstanz 1994, 136-140.
- Heinz Erber, Der Bayerische Kreis Lindau in der Zeit der Besetzung Deutschlands von 1945 bis 1955. Eine Untersuchung der staatsrechtlichen Stellung des Kreises Lindau während der Besatzungszeit unter besonderer Berücksichtigung des Besatzungsrechts, München 1958.
- Bernhard Grau, "Beinahe-Freistaat" – das Ringen um die staatsrechtliche Stellung des Kreises Lindau 1945-1956, in: Mathias Auclair/ Gerhard Hetzer (Hg.), France-Bayern. Bayern und Frankreich - Wege und Begegnungen. 1000 Jahre bayerisch-französische Beziehungen, anläßlich der Ausstellung Bayern - Frankreich: Wege und Begegnungen. Tausend Jahre Bayerisch-Französische Beziehungen in München im Bayerischen Hauptstaatsarchiv vom 21. Februar bis 17. April 2006 und in Paris, Hôtel de Soubise, vom 10. Mai bis 7. August 2006 (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 47), Waakirchen 2006, 280-285.
- Christa Harpf, Die Stunde Null in Lindau. Eine Dokumentation über die letzten Kriegswochen, die französische Besetzung der Stadt und über das Kriegsgefangenenlager des Roten Kreuzes, Lindau 1984.
- Wolfgang Hartung, Geschichte des Landkreises Lindau: Ein Überblick, in: Werner Dobras / Andreas Kurz (Hg.): Daheim im Landkreis Lindau, Konstanz 1994, 34–64.
- Julian Lubini, Die Geschichte des „Landes“ Lindau. Ein Kreis als Staat zwischen Frankreich, Bayern, Württemberg und dem Bund (1945–1955/56), Norderstedt 2021.
- Peter Metzenthin, Der Kreis Lindau (Bodensee). Eine wirtschaftswissenschaftliche Studie unter besonderer Berücksichtigung der sich aus der staatsrechtlichen Sonderstellung ergebenden wirtschafts- und finanzpolitischen Probleme, Diss. masch. Tübingen 1948.
- Heiner Stauder, Ein zweites "Fürstentum Liechtenstein" am See. Die Sondersituation des Landkreises Lindau 1945-1955, in: Paul Hoser (Hg.) Kriegsende und Neubeginn. Die Besatzungszeit im schwäbisch-alemannischen Raum (Forum Suevicum 5), Konstanz 2003, 127-156.
- Carl Zumstein, Die Geschichte des Kreispräsidiums Lindau 1945–1955, in: Museumsverein Lindau e. V. (Hg.), Neujahrsblatt 29 des Museumsvereins Lindau, Lindau 1985, 37–110.
Quellen
- Amtsblatt der Stadt Lindau (bis 31. März 1946)
- Amtsblatt für den Landkreis Lindau (bis 31. März 1946)
- Amtlicher Anzeiger für den bayerischen Kreis Lindau (1. April 1946 bis 31. Dezember 1946)
- Amtsblatt des Bayerischen Kreises Lindau (1. Januar 1947 bis 27. August 1955)
- Bayerisches Hauptstaatsarchiv München
- Centre des Archives diplomatiques de La Courneuve, Bestand FRAMAE 1WH
- Staatsarchiv Augsburg, Bestand Kreispräsidium Lindau
- Staatsarchiv Sigmaringen, Südwürttembergische Bestände
Weiterführende Recherche
Empfohlene Zitierweise
Julian Lubini, Lindau, 1945-1955/56, in: Historisches Lexikon Bayerns, publiziert am 12.08.2024; URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Lindau, 1945-1955/56> (10.10.2024)