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Katholische Großstadtseelsorge

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Joseph Klein, Pfarrer von Heilig Geist in München, kritisierte bereits 1803 die unzureichenden Seelsorgestrukturen der Residenzstadt. (Bayerische Staatsbibliothek)
Pfarrkirche St. Pius in München. Die am 3. April 1932 von Kardinal Michael von Faulhaber (1869-1952, ab 1917 Erzbischof von München und Freising) geweihte Kirche bildete das Zentrum der neu entstandenen Wohnsiedlung Neuramersdorf. (München, Pfarrarchiv St. Pius)
St. Ludwig in Nürnberg. Die Pfarrkirche der 1917 gegründeten Pfarrei wurde 1923-1926 erbaut und am 19. September 1926 durch Erzbischof Jacobus von Hauck (1861-1943, Erzbischof 1912-1943) geweiht. (Archiv des Erzbistums Bamberg)

von Michael Fellner

Das Wachstum der Großstädte im Gefolge der Industrialisierung stellte die traditionellen kirchlichen Strukturen vor neue Herausforderungen. Der Ausbau des Seelsorgenetzes konnte während des gesamten 19. Jahrhunderts nicht mit der Zunahme der Bevölkerung Schritt halten. Einen Ersatz stellte das ausgeprägte katholische Verbandswesen dar. Gleichzeitig nahmen die Seelsorger die Großstadt als religionsfeindlichen Raum wahr. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bemühte sich die katholische Kirche, die pastorale Betreuung in den Großstädten durch die Neugründung von Pfarreien und die Professionalisierung der Seelsorge zu intensivieren. Seit Anfang der 1960er Jahre wandelte sich dabei die Grundeinstellung weg von einer restaurativen Tendenz hin zu Dialogbereitschaft und Offenheit gegenüber der moderen Welt. Verstärkt wurden nun auch überpfarrliche Angebote eingerichtet. Eine neue Herausforderung stellte seit Ende des 20. Jahrhunderts der sich verschärfende Priestermangel dar.

Voraussetzungen der Großstadtseelsorge

Zur Zeit der Apostel bis in die Spätantike galt das Christentum als "Städtereligion". Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit stellte die Stadt einen relativ geschlossenen Raum dar, in dem sich eine reiche religiös-kirchliche Infrastruktur mit Kathedralen, Pfarrkirchen, Hospizen, Klöstern und Ordenshochschulen entfalten konnte. Die umwälzenden Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts brachten jedoch ganz neuartige städtische Lebensformen und Organisationsmuster hervor. Die Kirche versuchte, diesen erschwerten Rahmenbedingungen mit den Methoden der Großstadtseelsorge zu begegnen.

Der Begriff der "Großstadtseelsorge"

Der Begriff der "Großstadtseelsorge" wurde wesentlich geprägt durch ein 1909 erschienenes Buch des Wiener Pastoraltheologen Heinrich Swoboda (1861-1923). Er gab damit einem verschärften Problembewusstsein Ausdruck, weil die seit Beginn des 19. Jahrhunderts expandierende und sich gesellschaftlich ausdifferenzierende Bevölkerung der Städte seelsorglich nicht mehr angemessen versorgt werden konnte und der Kontakt zwischen Klerus und Gemeindemitgliedern zunehmend abriss. Insbesondere prangerte Swoboda die aufs Riesenhafte angewachsenen Seelenzahlen in den Großstadtpfarreien an.

Den äußeren Phänomenen der pastoralen Unterversorgung und des im Vergleich zu ländlichen Regionen sehr viel niedrigeren Kirchenbesuchs wurde komplementär die innere Verfasstheit des Großstadtmenschen gegenübergestellt. Dabei fielen meist negativ konnotierte Stichworte wie Entwurzelung, Vereinzelung, Zusammengedrängtsein, Ruhelosigkeit, Tempo, Vergnügungs- und Sensationssucht. Um hier einen Ausgleich zu schaffen und das religiöse Leben für die Stadtbevölkerung wieder attraktiver zu machen, entwickelte man neue Methoden einer "nachgehenden Seelsorge", die unter dem Stichwort der Großstadtseelsorge zusammengefasst wurden.

Die katholische Großstadtseelsorge im 19. Jahrhundert

Die von Swoboda beschriebenen Phänomene trafen in Bayern auf München, Nürnberg und Augsburg zu. Hinsichtlich der Problematik der übergroßen Seelsorgesprengel in München (Unsere Liebe Frau, St. Peter, Hl. Geist) hatte bereits im Jahre 1803 der Stadtpfarrer von Heilig Geist, Joseph Klein (gest. 1823), in einem für die Landesdirektion in Bayern erstellten Gutachten vorgeschlagen, die Stadt in sieben Pfarreien einzuteilen. Vorläufig einziges Ergebnis der Bemühungen war die Errichtung der Stadtpfarrei St. Anna (1808). Erst 1844 entstanden mit St. Bonifaz, St. Ludwig und Heilig Geist (war 1811 aufgehoben worden) drei weitere Pfarreien. Dass dies angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums kaum ausreichte (1801: 40.500 Einwohner; 1852: 94.380; 1900: 499.932) und sich München in der Folgezeit zur deutschen Großstadt mit den höchsten Seelenzahlen pro Pfarrsprengel entwickelte, hat später den Münchner Dompfarrer Karl Abenthum (1901-1976) zu dem prägnanten Ausspruch "Eine Stadt läuft davon" veranlasst. So wies im Jahre 1901 der Schematismus der Erzdiözese München und Freising für die Stadtpfarrei St. Bonifaz 60.000 Katholiken aus, gefolgt von St. Peter mit 53.000 und St. Ludwig mit 45.000 Katholiken. Der Durchschnitt für die 14 Stadtpfarreien samt der Hofkuratie Nymphenburg lag bei ca. 28.000 Katholiken. Swoboda hingegen hatte eine Idealgröße von 6.000 Katholiken vorgeschlagen.

Eine, was die konfessionellen Verhältnisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts anbetrifft, völlig andere Ausgangslage als im katholischen München war in Nürnberg gegeben. Nachdem sich die freie Reichsstadt 1525 der Reformation angeschlossen hatte, besaß lediglich die Nürnberger Kommende des Deutschen Ordens das Recht, auf ihrem Territorium katholische Gottesdienste zu feiern. Als diese in der Zeit der Säkularisation aufgehoben wurde, stellte man der katholischen Gemeinde als Ersatz die Marienkirche am Marktplatz zur Verfügung, der seit 1816 der Status einer Pfarrkirche zukam. Obwohl die Zahl der Katholiken im Laufe des 19. Jahrhunderts beständig zunahm (1806: 728 Katholiken; 1831: 3.341; 1853: 7.000; 1877: 27.000; 1900: 73.711) und in drei weiteren Gotteshäusern Messen abgehalten wurden, konnte man sich erst im Jahre 1895 zur Teilung des überdehnten Seelsorgesprengels entschließen und gründete mit St. Elisabeth eine zweite Stadtpfarrei. Der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung Nürnbergs stieg bis zum Jahre 1900 auf 28,2 % an.

Im paritätischen Augsburg setzte der ebenfalls beträchtliche Bevölkerungszuwachs im 19. Jahrhundert (1811/12: 29.469 Einwohner; 1875: 57.213; 1895: 81.896) die bereits seit dem Westfälischen Frieden beobachtbare Verschiebung des Konfessionsverhältnisses zu Gunsten der Katholiken fort (1811/12: 60,1 % Katholiken; 1875: 67,2 %; 1895: 69,8 %), da sich die stark zunehmende Arbeiterschaft hauptsächlich aus dem katholischen Umland rekrutierte. Auch hier ließ die Reaktion im pfarrorganisatorischen Bereich lange auf sich warten. Das aus der Dompfarrei und den Stadtpfarreien St. Ulrich und Afra, St. Maximilian, St. Moritz und St. Georg bestehende Stadtdekanat wurde 1868 lediglich durch die Expositur St. Josef im Arbeiterviertel Hettenbach erweitert, deren Pfarrwerdung sich dann noch bis zum Jahre 1904 hinzog.

Als Charakteristikum für die katholische Großstadtseelsorge im 19. Jahrhundert hat der expansive Ausbau des Vereinswesens zu gelten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen religiösen Bruderschaften meist älteren Ursprungs, karitativen Vereinigungen wie den Vinzenz- und Elisabethenvereinen und den berufsmäßig organisierten Standesvereinen. Zu letzteren zählten die katholischen Arbeitervereine, denen vor allem im stark industrialisierten Nürnberg und Augsburg eine große Bedeutung zukam, weil sie eigenständige katholische Lebensformen in bewusster Abgrenzung zum sozialistischen und bürgerlich-protestantischen Milieu ermöglichten.

Pastorale Lösungsansätze von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Vatikanum

Seit der Jahrhundertwende stand in allen drei Städten, München, Nürnberg und Augsburg, der forcierte Ausbau der Pfarrlandschaft an erster Stelle. Dies bedingte enorme finanzielle Aufwendungen im Bereich des Kirchenbaus, die insbesondere in den 1920er und später in den 1950er und 1960er Jahren getätigt wurden. Anders als die monumentale Repräsentationskunst in den vorigen Jahrhunderten war der Kirchenbau nun durch bewusste Schlichtheit und zweckrationale Formfindung geprägt, die vor allem den Gedanken der Gemeindebildung betonten. Der schnelle Zuwachs der Seelsorgesprengel machte Umstrukturierungen im organisatorischen Bereich erforderlich. Das Münchner Seelsorgegebiet wurde am 1. Juli 1924 in 7, ab 1938 in 8 Stadtdekanate unterteilt. Eine weitere Neuorganisation erfolgte im September 1967 mit der Aufstockung auf 18 Stadtdekanate, zusammengefasst in der Münchner Seelsorgsregion, der als Bischofsvikar ein eigener Weihbischof zugeteilt wurde. In Nürnberg und Fürth wurden 1913 die bis dahin vier Pfarreien in einem Erzbischöflichen Kommissariat zusammengefasst; mit dem 1. Januar 1914 wurde die Gesamtkirchengemeinde Nürnberg installiert. Im Jahre 1977 erfolgte dann die Gründung der Katholischen Stadtkirche mit einem eigenen Stadtdekan an der Spitze, der sowohl für die der Erzdiözese Bamberg als auch für die dem Bistum Eichstätt zugehörigen Nürnberger Seelsorgesprengel zuständig ist. In Augsburg war das Stadtdekanat bis Anfang der 1970er Jahre auf 28 Stadtpfarreien angewachsen, so dass sich die Diözesanleitung entschloss, dieses in vier Stadtdekanate (Augsburg-Mitte, West, Ost, Süd) zu unterteilen. Zusammen mit fünf angrenzenden Landdekanaten bilden sie die Region Augsburg, für die sich ein eigener Regionaldekan zuständig zeigt.

Desweiteren bemühte man sich intensiv um eine Professionalisierung der Seelsorge. Dies geschah durch die Herausgabe von Pfarrblättern, die Einrichtung von speziellen Pfarrsprechstunden, das Anlegen von Pfarrkartotheken, den Bau von Pfarrheimen und eine Intensivierung der Hausbesuche. In München wurde eine berufliche Seelsorgehilfe in Gestalt der Schwestern der Katholischen Heimatmission gegründet; in Nürnberg übernahmen die Niederbronner Schwestern diese Aufgabe. Schließlich wurde seit Mitte der 1920er Jahre heftig um eine Vereinfachung des zeitraubenden religiösen und sozialen Vereinswesens gerungen und als Alternative ein mehr an die Bedürfnisse der Pfarrseelsorge angelehntes Laienapostolat im Sinne der Katholischen Aktion erörtert. Aus den von den Pfarrern ernannten Pfarrausschüssen der 1950er Jahre entwickelten sich nach dem Zweiten Vatikanum die von den Gemeindemitgliedern gewählten Pfarrgemeinderäte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich der Fokus der Großstadtseelsorge zunächst dem Phänomen der Suburbanisierung zu und erhielt hier zahlreiche Anregungen aus Frankreich. Eine besondere Herausforderung stellten die schwierigen Verhältnisse in der Trabantenstadt Nürnberg-Langwasser dar, die auf dem Zeltlagerareal des Reichsparteitagsgelädes entstanden war. Die Diözese Eichstätt reagierte mit der Gründung von insgesamt 17 neuen Seelsorgestellen. Auch in München und Augsburg entstanden an der Peripherie nicht nur eine Vielzahl neuer Kirchenbauten, deren nüchterne architektonische Gestaltung den Ideen der liturgischen Erneuerung geschuldet war, sondern auch moderne Pfarrzentren, die, mit Kindergärten, Horten, Pfarrbüchereien, Pfarrsälen, Caritasstationen etc. ausgestattet, zu Orten des Dialogs und der Begegnung werden sollten.

Im Jahre 1960 wurden zwei große Stadtmissionen in München und im Raum Nürnberg, Fürth, Erlangen, Schwachbach durchgeführt. Trotz aufwändiger Vorbereitungen mittels pastoralsoziologischer Untersuchungen und des tausendfachen Einsatzes von Wohnviertelaposteln und Mitgliedern der Legion Mariens erfüllten sich die Hoffnungen auf eine Rechristianiserung des urbanen Milieus nicht. Die Stadtmissionen markierten vielmehr den Endpunkt der restaurativ geprägten Nachkriegsphase des bayerischen Katholizismus. Bereits der unmittelbar folgende Eucharistische Weltkongress in München war durch Elemente der Offenheit und des Dialogs geprägt, die den Paradigmenwechsel des Zweiten Vatikanischen Konzils vorwegnahmen.

Großstadtseelsorge seit den 1960er Jahren

Lehramtlich verweisen die päpstlichen Enzykliken Octogesima adveniens (1971) und Redemptoris missio (1995) auf die Stadt als Ort der Verantwortung und Evangelisierung. Seit den 1960er und 1970er Jahren stand neben dem Bau von Pfarrzentren die Ausweitung des Erwachsenenbildungsangebots und der Aufbau eines engmaschigen Netzes von Caritasstationen und lebensweltlichen Beratungsstellen im Vordergrund. Beispielhaft sind hier die Arbeit der "Münchner Insel" im Untergeschoss des Marienplatzes, die an das Bildungsbürgertum gerichteten Veranstaltungen der Katholischen Akademie in München, das Tagungszentrum Haus St. Ulrich in Augsburg und das 1961 gegründete Caritas-Pirckheimer-Haus (CPH) in Nürnberg, das sowohl die Katholische Akademie der Erzdiözese Bamberg als auch eine Vielzahl weiterer Begegnungsstätten für die Jugend und das katholische Verbandswesen beherbergt.

Daneben bemühen sich zahlreiche Pfarrgemeinden und andere kirchliche Einrichtungen um neue Formen religiösen Erlebens, die den Bedürfnissen einer zwar kleiner werdenden, aber überaus heterogenen städtischen Glaubensgemeinde entgegenkommen sollen. Nicht aufzuhalten war indes die Tendenz, dass sich im Citybereich die Pfarrbezirke zunehmend entleerten, wodurch insbesondere in München die einst mächtigen Traditionspfarreien zu touristischen Schaukirchen bzw. Anziehungspunkten mit gesamtbürgerschaftlichem Charakter mutierten. Der Priestermangel und geringere finanzielle Spielräume führten seit Ende der 1990er Jahre auch in der Großstadt immer wieder zur Zusammenlegung von Pfarreien in Pfarrverbände.

Literatur

  • Karl Abenthum, Zur Seelsorgelage Münchens im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag und ein Deutungsversuch zur heutigen Seelsorgslage in München, in: Adolf Wilhelm Ziegler (Hg.), Monachium. Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte Münchens und Südbayerns anläßlich der 800-Jahrfeier der Stadt München 1958, München 1958, 191-198.
  • Ulrich Engel, City-Seelsorge. Perspektiven für Kirche und Stadt am Ende des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1998.
  • Peter Fassl, Die Errichtung der Arbeiterpfarrei St. Josef in Augsburg, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 16 (1982), 224-267.
  • Norbert Greinacher, Die Kirche in der städtischen Gesellschaft. Soziologische und theologische Überlegungen zur Frage der Seelsorge in der Stadt (Schriften zur Pastoralsoziologie 6), Mainz 1966.
  • Jean Francois Motte, Der Priester in der Stadt. Grundlinien moderner Stadtseelsorge, Augsburg 1960.
  • Peter Stuckenberger, Gottesburgen. Kirchenbau unter Erzbischof Jacobus von Hauck 1912-1943 (Studien zur Bamberger Bistumsgeschichte 1), Bamberg 2004.
  • Heinrich Swoboda, Großstadtseelsorge. Eine pastoraltheologische Untersuchung, Regensburg u. a. 1909.
  • Karl Ulrich, Die katholischen Gemeinden von Nürnberg und Fürth im 19. und 20. Jahrhundert, Bamberg 1989.

Weiterführende Recherche

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Empfohlene Zitierweise

Michael Fellner, Katholische Großstadtseelsorge, publiziert am 04.06.2007; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Katholische_Großstadtseelsorge> (19.03.2024)