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Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Turnhalle in Penzberg (Lkr. Weilheim-Schongau), Verhandlungsort des Gerichtsverfahrens gegen die Verantwortlichen der Penzberger Morde ab dem 14. Juni 1948. (Foto:Stadtmuseum Penzberg)

von Edith Raim

Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen begann in Deutschland bereits kurz nach Kriegsende 1945. Dabei ist bis heute die Aufarbeitung noch nicht vollends abgeschlossen; nach wie vor werden ehemalige NS-Verbrecher zur Rechenschaft gezogen. Die Prozesse in diesem Zusammenhang waren und sind nicht nur eine Aufgabe, die das demokratische Deutschland verpflichtet ist zu erfüllen. Sie hat große Auswirkungen auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen insbesondere der Bundesrepublik gehabt. Das Thema führte unter anderem 1979 dazu, dass Mord keine Verjährungsfristen mehr kennt. Für Bayern hatten die Prozesse eine weitere Bedeutung, wurden hier doch neben den Hauptkriegsverbrecherprozessen und den zwölf Nachfolgeprozessen in Nürnberg auch die sog. Dachauer Prozesse verhandelt, und noch 2010/11 erregte der in München verhandelte Prozess gegen den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk weltweites Aufsehen.

Alliierte Prozesse

Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg 1945/1946: Blick auf die Anklagebank. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-60930)

Bereits im Frühjahr 1940 prangerten die britische, französische und polnische Regierung Völkerrechtsverletzungen durch die nationalsozialistische Besatzung in Polen an. Die wichtigste Strafandrohung für die NS-Gewaltverbrechen geht auf das Jahr 1943 zurück, als sich Nachrichten über deutsche Verbrechen in den besetzten Gebieten häuften. Mit der Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943 bekannten sich die Alliierten zur justiziellen Ahndung dieser Verbrechen. Die für die Straftaten in den besetzten Ländern Verantwortlichen sollten in diese ausgeliefert und nach deren Gesetzen gerichtet werden, Täter, deren kriminelle Handlungen nicht klar einem geographischen Raum zuzuordnen waren, durch gemeinsame Entscheidungen der Alliierten bestraft werden.

Nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 wurde insbesondere Bayern Schauplatz dieser Prozesse. Nürnberg gab sowohl dem berühmtesten dieser Verfahren, dem Internationalen Militärtribunal (IMT), als auch den zwölf amerikanischen Nachfolgeprozessen (1946-1949) Gerichtsort und Namen, wobei die Wahl aus praktischen Motiven (Gerichtsgebäude mit angeschlossenem Gefängnis, Lage in der US-amerikanischen Zone) auf diesen Ort fiel.

Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (20. November 1945 bis 1. Oktober 1946) wurden die wichtigsten Repräsentanten des NS-Regimes von den vier Siegermächten wegen der Verschwörung gegen den Weltfrieden, der Planung, Entfesselung und Durchführung eines Angriffskrieges, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und abgeurteilt. Die Grundregeln für das Procedere des Internationalen Militärtribunals waren auf der Londoner Viermächtekonferenz am 8. August 1945 festgelegt worden. Nur noch unter amerikanischer Ägide fanden die zwölf Nachfolgeprozesse in Nürnberg statt, in denen sich Ärzte und Juristen, Angehörige von Ministerien (Auswärtiges Amt, Reichsluftfahrtministerium), der SS (SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt, Einsatzgruppen, Rasse- und Siedlungshauptamt), der Wehrmacht (Oberkommando der Wehrmacht, Südostgenerale) und Industrielle (Flick, Krupp, IG-Farben) zu verantworten hatten.

In ihren jeweiligen Zonen hielten alle Alliierten weitere Militärgerichtsprozesse ab, die bis heute nur unvollständig dokumentiert sind. In der amerikanischen Zone fanden in Dachau sechs Hauptverfahren ("parent cases") zu den Verbrechen in den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald (bei Weimar), Flossenbürg (Lkr. Neustadt a. d. Waldnaab), Mauthausen bei Linz, Mittelbau-Dora (bei Nordhausen in Thüringen) und dem Außenlager Mühldorf statt. Dutzende weiterer Verfahren zu KZ-Verbrechen folgten, außerdem die sog. Fliegerprozesse, die die Tötung abgeschossener amerikanischer Piloten zum Gegenstand hatten, und der Malmédy-Prozess, der die Erschießung kriegsgefangener US-Soldaten und Zivilisten durch die SS während der Ardennen-Offensive betraf. Ebenso wurden an anderen Orten amerikanische Militärgerichtsprozesse durchgeführt, beispielsweise in Wiesbaden, wo die Tötung polnischer und sowjetischer Fremdarbeiter in der Anstalt Hadamar aus den Jahren 1944/45 geahndet wurde.

In der britischen Zone erlangten die Tribunale zu den Konzentrationslagern Bergen-Belsen, Neuengamme und Ravensbrück die größte Bekanntheit, in der sowjetischen Zone der Sachsenhausen-Prozess. Auch in der französischen Zone kam es zu Verfahren wegen Verbrechen in Konzentrations- und Außenlagern, in Gefängnissen und Gestapohaftstätten.

Bis auf wenige Ausnahmen wurden vor den alliierten Militärgerichten völkerrechtlich relevante Straftaten verhandelt, die während des Krieges begangen worden waren. Grundlage für die meisten dieser Verfahren war neben dem Völkerrecht das am 20. Dezember 1945 erlassene Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates, das sich am IMT-Statut orientierte. Darin war unter anderem der Straftatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit definiert. Andere Prozesse – wie etwa der erste Bergen-Belsen-Prozess, der bereits vor Erlass des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 geendet hatte – beruhten auf dem Königlichen Auftrag ("Royal Warrant") des britischen Monarchen. Zahlreiche in Deutschland gefasste Täter wurden während der Besatzungsherrschaft zudem an andere europäische Staaten ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt.

Westzonen 1945-1949

Seit Sommer und Herbst 1945 fanden auch erste Prozesse zu NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten statt. Dort hatten die Besatzungsmächte in einer Entlassungs- und Verhaftungswelle schwer belastete Richter und Staatsanwälte entfernt und unbelastete Juristen (teils aus der Rechtsanwaltschaft) für den demokratischen Wiederaufbau eingesetzt. Während es in der Besatzungszeit dadurch gelang, zumindest in den wichtigsten Positionen weitgehend unbelastetes Personal zu verwenden, setzte in der frühen Bundesrepublik - nicht zuletzt aufgrund des Beamtenstatus der Justizjuristen und ihres Anspruchs auf Planstellen - eine "Renazifzierung" ein, die eine dauerhafte Hypothek für die Justiz darstellte. Hinsichtlich der Aufteilung der Prozesse hielten sich die deutschen Gerichte an die Vorgaben der Alliierten. Die Demarkationslinie zwischen alliierten und deutschen Prozessen verlief entlang der Nationalität der Opfer: die Alliierten behielten sich die Ahndung jener Verbrechen vor, die alliierte Staatsangehörige betrafen; die deutschen Gerichte waren auf die Aburteilung von Verbrechen von Deutschen an anderen Deutschen bzw. Staatenlosen beschränkt.

Rechtsgrundlage waren das Strafgesetzbuch - im Stand vor dem 30. Januar 1933 - sowie das Kontrollratsgesetz Nr. 10. Während die britische, französische und sowjetische Besatzungsmacht die Anwendung dieses Gesetzes durch die deutschen Gerichte gestatteten, verbot die amerikanische Militärregierung die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 - mit Ausnahme des amerikanischen Sektors in Berlin.

Dies führte zu unterschiedlichen Vorgehensweisen in den einzelnen Zonen. Denunziationen – auf die vorzugsweise das Kontrollratsgesetz Nr. 10 angewendet wurde – mussten in der amerikanischen Zone mit existierenden deutschrechtlichen Straftatbeständen wie mittelbare Freiheitsberaubung oder falsche Anschuldigung abgehandelt werden oder wurden an die Spruchkammern verwiesen, während sie in den anderen Zonen von den ordentlichen Gerichten mittels KRG 10 geahndet wurden. Lediglich im Kreis Lindau, dem bayerischen Teil der französischen Zone, kam auch das Kontrollratsgesetz Nr. 10 zur Anwendung. In der sowjetischen Zone fanden Entnazifizierungsprozesse gemäß der Kontrollratsdirektive (KD) 38 vor denselben Gerichten statt wie die juristische Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, so dass ein Vergleich der west- und ostdeutschen Ermittlungen und Prozesse verzerrende Ergebnisse erbringt.

Das Jahr mit den meisten westdeutschen Verfahren, Anklagen und Verurteilungen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen ist das Jahr 1948. Bei den verfolgten Verbrechenskomplexen sind in der Besatzungszeit Denunziationen (38 % der Verfahren) und Verbrechen der sog. Reichskristallnacht sowie an politischen Gegnern (je 15-16 %) von besonderer Bedeutung. Die Delikte waren vor allem Körperverletzung, Landfriedensbruch oder Freiheitsberaubung, teils aber auch Mord. Insgesamt erfolgten 70 % aller Verurteilungen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen bis 1949, weitere 20 % bis 1955.

Bundesrepublik Deutschland 1949-1958

Zwei Amnestiegesetze aus den Jahren 1949 und 1954 beendeten diese erste Welle der "Selbstreinigung". Das "Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit" 1949 ermöglichte einen Straferlass für Straftaten, die vor dem Stichtag 15. September 1949 begangen worden waren und mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bedroht waren. Ein Gesetz von 1954 stellte alle kriminellen Handlungen, "die unter dem Einfluss der außergewöhnlichen Verhältnisse des Zusammenbruchs in der Zeit zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 in der Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht, insbesondere eines Befehls begangen worden sind" straffrei, sofern die Strafe nicht drei Jahre Gefängnis überschritt. 1950 endete durch das Gesetz Nr. 13 der Alliierten Hohen Kommission die Beschränkung der deutschen Justiz auf die deutschen Opfer. Außerdem verjährten einige Straftatbestände mit geringer Strafandrohung (etwa einfache Körperverletzung). 1951 entzogen der britische und der französische Hohe Kommissar den deutschen Gerichten die Erlaubnis zur Anwendung des KRG 10, das deutsche Juristen wegen des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot mehrheitlich abgelehnt hatten.

Die Zahl der Verfahren verringerte sich laufend, nicht zuletzt deswegen, weil auch Amerikaner und Briten – die ihre Militärgerichtsverfahren 1949 beendet hatten - auf einen Abschluss der deutschen Prozesse drängten. Die Aufarbeitung der NS-Verfahren durch die deutsche Justiz schien sich ebenfalls ihrem Ende zu nähern. 1954 wurden nur noch rund 160 neue Verfahren initiiert. Im Jahr darauf lief die Verjährungsfrist für weitere Straftaten ab, darunter Körperverletzung mit Todesfolge und schwere Freiheitsberaubung.

Mit dem "Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen", kurz "Überleitungsvertrag", der zum Ende des Besatzungsstatuts am 5. Mai 1955 in Kraft trat, erkannte die Bundesrepublik Deutschland die Rechtsgültigkeit der Urteile der westlichen Alliierten an. Nachteilig war, dass nun einerseits von den Besatzungsmächten wegen NS-Verbrechen verurteilte Personen, die auf deutsche Bitten von den westlichen Alliierten angesichts des Kalten Krieges begnadigt wurden, freikamen und subalterne Angeklagte, die vor deutschen Gerichten standen, belasteten. Andererseits konnte bei von den Franzosen in Abwesenheit verurteilten Tätern kein deutsches Gerichtsverfahren mehr anhängig gemacht werden, und die in Deutschland lebenden Täter waren durch das Grundgesetz vor Auslieferung geschützt. Erst das 1975 ratifizierte deutsch-französische Zusatzabkommen ermöglichte die Wiederaufnahme derartiger Verfahren.

Die Gründung der Zentralen Stelle Ludwigsburg und die Folgezeit

Obwohl Mitte der 1950er Jahre alles auf ein Ende der westdeutschen NS-Prozesse hinzudeuten schien, kam es zu einem Wendepunkt, der 1958 in der Gründung der in Ludwigsburg (Baden-Württemberg) angesiedelten Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen kulminierte. Bei der Aufklärung der Massenmorde des Einsatzkommandos Tilsit im Ulmer Einsatzgruppenprozess vor dem Schwurgericht wurde deutlich, dass trotz vorangegangener alliierter und deutscher Recherchen zu diversen Verbrechenskomplexen immer noch große Defizite bei der Aufklärung und Ahndung bestanden.

Einerseits wurde damit die Notwendigkeit für systematische Ermittlungen klar, andererseits hatte die Verurteilung der Angeklagten im Ulmer Einsatzgruppenprozess wegen Beihilfe zum Mord Modellcharakter für viele weitere Prozesse, in denen Angeklagte erneut nicht als Täter, sondern lediglich als Gehilfen eingestuft wurden. Gleichzeitig verjährte 1960 der Straftatbestand des Totschlags, so dass nur noch das Kapitalverbrechen des Mordes und der Beihilfe dazu verfolgt werden konnten. Fünf Jahre später drohte nach der üblichen Frist von 20 Jahren auch Mord zu verjähren. Vor dem Hintergrund des Eichmann-Prozesses in Jerusalem (1961) und der Frankfurter Auschwitz-Prozesse beschloss der Bundestag daher neue Verjährungsfristen. Das "Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen" verlegte den Tag, von dem ab die Verjährungsfristen gerechnet wurden, vom 8. Mai 1945 auf den 1. Januar 1950. 1969 wurde die Verjährung für Mord auf 30 Jahre festgelegt, 1979 - auch im Zusammenhang mit dem Diskurs über die NS-Vergangenheit - wurde Mord unverjährbar. Seit den 1980er Jahren wurden zwar viele weitere Ermittlungen aufgenommen, es kam aber nur noch zu wenigen Prozessen, die allerdings weiterhin von der Öffentlichkeit stark beachtet wurden.

Statistik

Zahl der jährlich von westdeutschen Staatsanwaltschaften neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen 1945-1997. (Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Grafik: Andreas Eichmüller)

Zwischen 1945 und 2005 gab es gegen 172.294 namentlich benannte Beschuldigte 36.393 Strafverfahren, während 2.378 Verfahren gegen Unbekannt geführt wurden. Einstellungen der Verfahren erfolgten meist mangels Beweises oder wegen Nichtermittlung des Aufenthalts der Person. Anklage erhoben wurde in etwa 16 % der Fälle (5.672), betroffen waren davon 16.740 Personen (etwa 10 % aller namentlich Beschuldigten). 2.510 Personen wurden wegen Tötungsdelikten angeklagt. Von diesen 5.672 Anklagen führten 4.964 zu einem Prozess, die anderen wurden wegen Amnestie vorher eingestellt, die Eröffnung des Hauptverfahrens wurde abgelehnt, die Angeklagten verstarben oder wurden verhandlungsunfähig. Teils war Verjährung eingetreten, teils wäre die zu erwartende Strafe nicht ins Gewicht gefallen gegenüber einer bereits verhängten Strafe, teils galt die Schuld als geringfügig.

Diese 4.964 Prozesse betrafen 14.693 Angeklagte. Wegen Amnestien (Straffreiheitsgesetz vom 31. Dezember 1949), Tod oder Verhandlungsunfähigkeit oder Wegfall der Gesetzesgrundlage (Kontrollratsgesetz Nr. 10) wurde 741 Mal kein rechtskräftiges Urteil gesprochen. Rechtskräftig abgeurteilt wurden 13.952 Angeklagte, davon 6.656 verurteilt, was etwa 48 % entspricht, und 5.184 freigesprochen. In den anderen Fällen erfolgte Einstellung. Die Freisprüche erfolgten vor allem wegen Beweismangels. Von den 6.656 Verurteilungen betrafen 1.147 ein Tötungsverbrechen, das die Richter entweder als Mord (204 Fälle), Beihilfe zum Mord (458 Fälle) oder Totschlag bzw. Beihilfe zum Totschlag (307 Fälle), Körperverletzung/Freiheitsberaubung mit Todesfolge (89) bzw. fahrlässige Tötung (21) werteten. In 68 Fällen handelte es sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die allermeisten Verurteilungen (etwa 60 %) endeten mit geringen Haftstrafen zwischen bis zu sechs Monaten und einem Jahr. Nur 9 % aller Haftstrafen waren höher als fünf Jahre, 166 davon lebenslang. Es gab außerdem 16 Todesurteile, vier davon wurden 1946 vollstreckt, elf umgewandelt, einer floh (Zahlen sämtlich nach Andreas Eichmüller).

Ahndung von NS-Verbrechen in Bayern

Der ehem. SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski (1899-1972) wurde in den 1950er und 1960er Jahren zweimal verurteilt. Seine Rolle während der Niederschlagung des Warschauer Aufstands im August 1944 wurde hingegen strafrechtlich nicht berücksichtigt. (Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaft München, 34865/29)
Karl Wolff (1900-1984), der Chef des Persönlichen Stabes des Reichsführers SS, bei seinem Prozess in München 1964, wo er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde. (Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaft München, 34865/17)

Von den oben erwähnten 36.393 Verfahren wurden 4.804 (= 13 %) in Bayern durchgeführt, davon 2.933 Anklagen (bundesweit 16.740 = 17,5 %) und 1.100 Verurteilungen (von 6.656 bundesweit = 16,5 %). Der bayerische Anteil entspricht damit den aufgrund der historischen Gegebenheiten und der Bevölkerungsgröße zu erwartenden Zahlen. Grundlage für die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften für NS-Verbrechen waren entweder der Tatort oder der Wohnort eines Beschuldigten. Determiniert wurde die Strafverfolgung zunächst von den oben erwähnten Vorgaben der Alliierten, aber auch von den Verbrechen, die in einer bestimmten Region verübt wurden, ebenso aber von zufälligen Faktoren wie dem Wohnsitz eines Angeschuldigten. In Bayern war - von der oben erwähnten Ausnahme Lindaus abgesehen - stets das Strafgesetzbuch (StGB) Grundlage der Verfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen vor den ordentlichen Gerichten. Denunziationen – wie beispielsweise an den Geschwistern Scholl durch den Pedell der Universität München – wurden an die Spruchkammern verwiesen.

Die bearbeiteten Verbrechenskomplexe vor den ordentlichen Gerichten in Bayern waren vielfältig. Für die deutsche Ahndung während der Besatzungszeit ist die hohe Zahl an Verfahren zur sog. Reichskristallnacht, insbesondere in Unter- und Mittelfranken, hervorzuheben; der allererste Prozess zum Pogrom – betreffend die Sprengung der örtlichen Synagoge - fand bereits am 14. August 1945 vor dem Amtsgericht im oberfränkischen Forchheim statt. Zu erwähnen ist auch der Versuch der strafrechtlichen Verfolgung der "Arisierung" durch Gerichte in München und Nürnberg-Fürth.

Wichtige Ermittlungen zu den beiden in Bayern gelegenen Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg und ihren Außenlagern begannen ebenfalls bereits in diesen Jahren. Später kamen Prozesse zu den auf dem Gebiet der späteren DDR gelegenen Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald hinzu. Selbst zu Auschwitz wurde – in Form eines frühen Ansbacher Verfahrens zum Außenlager Fürstengrube (Wesoła, Polen) - schon ab 1949 ermittelt. Die Erschießung von Häftlingen beim Todesmarsch aus dem KZ Auschwitz nach Loslau (Wodzisław Śląski, Polen) führte 1958 in München I zur Verurteilung des früheren SS-Obersturmführers Wilhelm Reischenbeck (1902-1962) zu zehn Jahren Zuchthaus wegen mehrfacher Beihilfe zum Totschlag.

Der ehem. SS-Untersturmführer und Adjutant des Kommandanten des Vernichtungslagers Belzec (Lublin, Polen), Josef Oberhauser (1915–1979), wurde 1965 in München angeklagt. (Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaft München, 34865/33)

Mit dem ehemaligen SS-Untersturmführer Josef Oberhauser (1915–1979) stand der Adjutant des Kommandanten des Vernichtungslagers Belzec (Lublin, Polen) 1965 in München I vor Gericht - bis heute der einzige deutsche Prozess zu Belzec. Ehemalige Angehörige des Einsatzkommandos 3a und der Außenstelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Wilna (Litauen) mussten sich wegen Einzeltötungen und Massenerschießungen von Juden aus dem Wilnaer Ghetto 1950 vor dem Landgericht Würzburg verantworten. In den 1960er Jahren wurden in einer großangelegten Ermittlung sämtliche Angehörige der SS-Einsatzgruppe D in München recherchiert, einige Prozesse folgten.

Hochrangige SS-Angehörige, die in Bayern vor Gericht standen, waren beispielsweise der ehemalige Höhere SS- und Polizeiführer Russland-Mitte, SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski (1899-1972), der Chef des Persönlichen Stabes des Reichsführers SS, Karl Wolff (1900–1984), und der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes in den Niederlanden, SS-Gruppenführer Wilhelm Harster (1904-1991). Die Deportation der bayerischen Juden in den Jahren 1941 bis 1943 führte in der frühen Nachkriegszeit zu mehreren – allerdings hinsichtlich der Verurteilungen erfolglosen – Prozessen gegen Gestapoangehörige in Würzburg, Nürnberg-Fürth und München. Weitere Verfahren, die beispielsweise Deportationen von Juden aus anderen Ländern Europas, sog. Ghettoräumungen, zum Zweck der Ermordung oder Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten betrafen, wurden gleichfalls durchgeführt. Gegen das Personal der Heil- und Pflegeanstalten in Bayern wie Kaufbeuren-Irsee und Eglfing-Haar, aber auch des pommerschen Meseritz-Obrawalde, in denen Patienten der "wilden Euthanasie" anheimgefallen waren, wurden in Augsburg und München Verfahren anhängig.

Zu den ersten nach 1945 eingeleiteten Verfahren gehören auch sog. Endphasenverbrechen wie Morde an der Zivilbevölkerung im Rahmen der Niederschlagung des Aufstandes der "Freiheitsaktion Bayern" in Penzberg (Lkr. Weilheim-Schongau; leitender Untersuchungsrichter war Dr. Nikolaus Naaff [1894-1957]) und München zu Kriegsende. Die Mitwirkung am Todesurteil des Sondergerichts Nürnberg gegen Leo Katzenberger (1873-1942) wegen "Rassenschande" (1942) wurde den zwei beisitzenden Richtern Karl Josef Ferber und Heinz Hugo Hoffmann mehr als 25 Jahre später zum Verhängnis: Sie wurden 1968 beide wegen Totschlags zu drei bzw. zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Auf Revision der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten wurde das Urteil allerdings nicht rechtskräftig; das Verfahren endete bei beiden aufgrund ärztlich attestierter Verhandlungsunfähigkeit.

Während zu Beginn der Verbrechensverfolgung sämtliche bayerischen Staatsanwaltschaften ermittelten, fand ab Mitte der 1960er Jahre eine Zentralisierung der Strafverfolgung in Bayern statt, so dass nur noch die Staatsanwaltschaften Würzburg, Nürnberg-Fürth und München mit Recherchen zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen befasst waren. An den vermutlich letzten NS-Prozessen in Deutschland waren Münchner Staatsanwaltschaften und Gerichte beteiligt, wie etwa 2001 zu Anton Malloth (1912-2002, ehemaliger Aufseher im Gestapo-Gefängnis Kleine Festung Theresienstadt) und 2010/11 zu Iwan Demjanjuk (1920-2012, ehemaliger Hilfsfreiwilliger im Vernichtungslager Sobibor).

Würdigung

Seit mehr als 60 Jahren bemüht sich die deutsche Justiz, das Unrecht des "Dritten Reiches" mit den Mitteln des Rechtsstaates zu sühnen. Dies stieß nicht nur stets auf Kritik, sondern musste angesichts der Monstrosität der Verbrechen zwangsläufig "armselig" wirken. Die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland ist häufig als eine Geschichte des Scheiterns beschrieben worden. Selbst Angehörige der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen bilanzierten die eigene Arbeit als "zu wenig, zu spät". Für die Richtigkeit dieser Einschätzung spricht die hohe Zahl eingeleiteter Ermittlungen und die geringe Zahl von Verurteilungen, die niedrigen Strafen und die lange Dauer von Verfahren, die häufig mit der Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten endeten.

Andererseits ist zu würdigen, dass trotz der äußerst zeitraubenden und komplexen Ermittlungen (mit Zeugenbefragungen auf der ganzen Welt und der Suche nach Dokumenten in Dutzenden von Archiven) seit dem Ende des "Dritten Reiches" kein einziges Jahr vergangen ist, in dem nicht durch die Justiz neue Ermittlungen zu NS-Verbrechen getätigt wurden. Während die westlichen Alliierten die Strafverfolgung Anfang der 1950er Jahre beendeten, dauern die Ermittlungen in Deutschland bis zum heutigen Tag an. Das Prinzip des Nachweises der individuellen Schuld der Täter und die Trennung zwischen politischer Säuberung und strafrechtlicher Ahndung legten wichtige Grundlagen für die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.

Zum Vergleich sei das Nachbarland Österreich erwähnt: Hier kam es bereits 1975 faktisch zu einem Stillstand der Ahndung von NS-Verbrechen. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurden zwar über 14.000 Verfahren gegen mehr als 21.000 Beschuldigte geführt, aber reine Säuberungsverfahren (Entnazifizierung) und strafrechtliche Prozesse vermischt. Hier waren zahlreiche Verfahren sichtlich anderen Motiven geschuldet als der Bewältigung der kriminellen Vergangenheit: Einige dienten lediglich der Enteignung, wobei in der DDR auch Tote und Abwesende "vor Gericht gestellt" wurden, andere waren regelrechte Willkürmaßnahmen im Kampf des "real existierenden Sozialismus", beispielsweise bei der Niederschlagung des 17. Juni 1953 oder zur Ahndung einer "Schädlingstätigkeit gegen die DDR".

Festgehalten werden muss, dass die westdeutsche Justiz mit der Strafverfolgung von NS-Verbrechen vor eine Herausforderung gestellt war, wie sie Rechtspflegeorganen niemals zuvor begegnet war. Überdies wurden die NS-Prozesse über viele Jahre hinweg gegen den erklärten Willen der Mehrheit der Deutschen durchgeführt. Denn je länger die Ahndung dauerte, desto größer war der Unwillen der Bevölkerung. Ende der 1950er Jahre war noch mehr als die Hälfte der Befragten für eine Fortsetzung der Strafverfolgung, doch bereits Mitte der 1960er Jahre votierte die Mehrheit der Befragten für einen Schlussstrich. 1969 traten 70 % für eine Beendigung der Strafverfolgung ein; 1975 wollten nur 25 % der Deutschen noch eine justizielle Ahndung von NS-Verbrechen sehen. Die Rufe nach dem "Schlussstrich" unter die Vergangenheit sind mittlerweile verstummt; das öffentliche Gedenken an die Verbrechen ist zum nationalen Projekt geworden. Die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen hat an diesem Mentalitätswandel der Deutschen einen nicht zu unterschätzenden Anteil gehabt.

Literatur

  • Cord Arendes, Zwischen Justiz und Tagespresse. "Durchschnittstäter" in regionalen Verfahren, Paderborn u. a. 2012.
  • Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 93), München 2012.
  • Norbert Frei (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 4), Göttingen 2006.
  • Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 33), Tübingen 2001.
  • Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren (Europäische Hochschulschriften 3/911), Frankfurt am Main 2001.
  • Anrd Koch/Herbert Veh (Hg.), Vor 70 Jahren - Stunde Null für die Justiz? Die Augsburger Justiz und das NS-Unrecht (Augsburger Rechtsstudien, 84), Baden-Baden 2017.
  • Donald M. McKale, Nazis After Hitler. How perpetrators of the Holocaust cheated justice and truth, Plymouth 2012.
  • Gerhard Paul, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und "ganz gewöhnlichen" Deutschen. Die Täter der Shoa im Spiegel der Forschung, in: Gerhard Paul (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002, 13-90.
  • Hans H. Pöschko (Hg.), Die Ermittler von Ludwigsburg. Deutschland und die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Berlin 2008.
  • Edith Raim, Der Wiederaufbau der westdeutschen Justiz unter alliierter Aufsicht und die Verfolgung von NS-Verbrechen 1945-1949/1950, in: Hans Braun/Uta Gerhardt/Everhard Holtmann (Hg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden 2007, 142-173.
  • Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945-1949, München 2013.
  • Thomas Raithel, Die Strafanstalt Landsberg am Lech und der Spöttinger Friedhof (1944-1958). Eine Dokumentation im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, München 2009.
  • Peter Reichel, Der Nationalsozialismus vor Gericht und die Rückkehr zum Rechtsstaat, in: Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hg.), Der Nationalsozialismus - die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009, 22-61.
  • Christian Ritz, Schreibtischtäter vor Gericht. Das Verfahren vor dem Münchner Landgericht wegen der Deportation der niederländischen Juden (1959-1967), Paderborn u. a. 2012.
  • Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945-1978 (Recht – Justiz – Zeitgeschehen 31), Heidelberg/Karlsruhe 1979.
  • Christina Ullrich, "Ich fühl' mich nicht als Mörder". Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft, Darmstadt 2011.
  • Jürgen Weber/Peter Steinbach (Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland (Akademiebeiträge zur politischen Bildung 12), München 1984.

Quellen

  • Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MJu (= Justizministerium): Berichtsakten zu Strafverfahren wegen NS-Verbrechen.
  • Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg - B 162: Verfahrensakten der Zentralen Stelle der Landesjustziverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.
  • Christiaan Frederic Rüter/Dirk Welmoed de Mildt (Bearb.), Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1997. Eine systematische Verfahrensbeschreibung, München 1998.
  • Christiaan Frederic Rüter (Bearb.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Amsterdam seit 1968.

Weiterführende Recherche


Externe Links

Verwandte Artikel

NSG-Verfahren, Strafverfolgung der Täter, NS-Kriegsverbrecherprozess, NS-Prozess, NS-Prozesse, Gerichtsverfahren, Justizverfahren

Empfohlene Zitierweise

Edith Raim, Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, publiziert am 12.09.2012; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Verfolgung_nationalsozialistischer_Gewaltverbrechen (8.12.2024)