Nürnberger Prozesse
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Die Nürnberger Prozesse waren der wichtigste Bestandteil des alliierten Bestrafungsprogramms gegen führende Vertreter des NS-Regimes. Sie fanden von November 1945 bis April 1949 im Justizpalast Nürnberg statt. Während der sog. Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) noch von den Siegermächten USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich gemeinsam durchgeführt wurde, kam ein zweites IMT nicht mehr zustande. Die restlichen zwölf sog. Nachfolgeprozesse bestritten die USA daher in Alleinregie. Insgesamt wurden in den Prozessen 209 Personen – teilweise auf Grundlage neuer völkerstrafrechtlicher Normen – aus Politik, Verwaltung, Militär und Wirtschaft angeklagt und verurteilt. Der erste Prozess vor dem Vier-Mächte-Tribunal bildete eine der wichtigsten Wegmarken für die Entwicklung des modernen Völkerstrafrechts seit dem späten 19. Jahrhundert. Er gilt als Vorläufer des Internationalen Strafgerichtshofs im niederländischen Den Haag.
Vorgeschichte
Obwohl sich bereits in den ersten Kriegsjahren internationale Proteste gegen die deutsche Kriegführung in Ost- und Ostmitteleuropa erhoben, fasste zunächst keiner der Kriegsgegner Deutschlands eine juristische Bestrafung der NS-Führung ins Auge. Erst Ende 1943 gaben die "Großen Drei" Franklin D. Roosevelt (1882-1945), Winston Churchill (1874-1965) und Josef Stalin (1878-1953) während eines Gipfeltreffens in Moskau erstmals ihre Absicht bekannt, die sog. Hauptkriegsverbrecher, deren Verantwortung nicht "geographisch begrenzt" war, aufgrund einer gemeinsamen Entschließung strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu wollen. In der letzten Kriegsphase machte sich vor allem das US-amerikanische Kriegsministerium für eine internationale Lösung dieses Projekts stark. Einerseits wollte man verhindern, dass es nach der deutschen Niederlage zu Lynchjustiz und Racheakten von Opfern an ihren vormaligen Peinigern kam. Andererseits war die Regierung von Präsident Franklin D. Roosevelt bestrebt, die Niederschlagung des Nationalsozialismus als Ausgangspunkt zu nehmen, um das seit längerer Zeit stagnierende humanitäre Völkerrecht auf neue institutionelle und normative Grundlagen zu stellen.
Nach der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen kamen im Sommer 1945 die Rechtsexperten der Siegermächte in London zusammen (Londoner Viermächte-Abkommen, 8. August 1945), um über die Einsetzung eines internationalen Gerichts zu beraten und sich auf einen verfahrens- und materiellrechtlichen Rahmen zu einigen. Auf Vorschlag der USA, die bis dahin am intensivsten an der Entwicklung neuer Straftatbestände gearbeitet hatten, verständigte man sich darauf, die deutsche Partei- und Staatsführung nach vier hauptsächlichen Punkten anzuklagen, die im Statut für das Internationale Militärtribunal (IMT) niedergelegt wurden. Im Einzelnen waren dies:
- Verschwörung zum Angriffskrieg (Art. 6a IMT-Charta)
- Verbrechen gegen den Frieden (Art. 6a IMT-Charta)
- Kriegsverbrechen (Art. 6b IMT-Charta)
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 6c IMT-Charta)
Vor allem der designierte US-amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson (1892-1954), ein ehemaliger Richter am höchsten US-Bundesgericht, sah in dem geplanten Prozess eine historische Chance, ein weltweites multilaterales Sicherheitssystem zu schaffen, das sich auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gründen sollte. Für die Vertreter des New Deal-Liberalismus stellte der geplante Gerichtshof ein notwendiges Pendant zu den kurz zuvor gegründeten Vereinten Nationen (UNO, gegr. am 26. Juni 1945) dar.
Name | Lebensdaten | Nation | Funktion |
Francis Biddle | 1886-1968 | USA | Richter |
John J. Parker | 1885-1958 | USA | stellvertretender Richter |
Geoffrey Lawrence | 1880-1971 | Großbritannien | Richter und Vorsitzender des IMG in Nürnberg |
Norman Birkett | 1883-1962 | Großbritannien | stellvertretender Richter |
Henri Donnedieu de Vabres | 1880-1952 | Frankreich | Richter |
Robert Falco | 1882-1960 | Frankreich | stellvertretender Richter |
Iona Nikitchenko | 1895-1967 | UdSSR | Richter |
Alexander Volchkov | 1902-1978 | UdSSR | stellvertretender Richter |
Name | Lebensdaten | Nation | Funktion |
1892-1954 | USA | Hauptankläger | |
Sir Hartley Shawcross | 1902-2003 | Großbritannien | Hauptankläger |
François de Menthon | 1900-1984 | Frankreich | Hauptankläger |
Auguste Champetier de Ribes | 1882-1947 | Frankreich | Hauptankläger ab Januar 1946 |
Roman A. Rudenko | 1907-1981 | UdSSR | Hauptankläger |
Der Gerichtsort Nürnberg war unter den Alliierten nicht unumstritten. Vor allem die UdSSR hätte es vorgezogen, das Verfahren gegen die Spitzen des NS-Staats in der früheren Reichshauptstadt Berlin durchzuführen. Schließlich setzten sich die USA aber auch in diesem Punkt durch. Ausschlaggebend dafür war vor allem die Existenz einer halbwegs intakten Justiz- und Haftinfrastruktur im alten Nürnberger Justizpalast. Die symbolische Bedeutung Nürnbergs als Austragungsort der Reichsparteitage der NSDAP und Stadt der "Rassengesetze" (15./16. September 1935) sprachen ebenfalls für diese Wahl. Um die mediale Wirkungen der geplanten Prozessserie zu erhöhen, wurde der für die Verhandlung vorgesehene Schwurgerichtssaal erheblich erweitert und mit modernster Übertragungstechnik ausgestattet.
Anklage, Verhandlung, Urteil
Der "Hauptkriegsverbrecherprozess" gegen die 24 Hauptangeklagten begann am 20. November 1945 und endete am 1. Oktober 1946. Aufgrund der Nichtergreifung des Angeklagten Martin Bormann (NSDAP, 1900-1945), dem Selbstmord von Robert Ley (NSDAP, 1890-1945) und der Verfahrenseinstellung im Fall Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (NSDAP, 1870-1950) saßen aber schließlich nur 21 Personen auf der Anklagebank.
Name | Lebensdaten | Funktion im NS-Staat | Anklagepunkte | Verteidiger | Urteil |
---|---|---|---|---|---|
Martin Bormann | 1900-1945 | Leiter der Parteikanzlei | 1, 3, 4 (in Abwesenheit) | Friedrich Bergold (FDP, 1899-1983) | Tod durch den Strang (in Abwesenheit) |
Karl Dönitz | 1891-1980 | Oberbefehlshaber der Marine -1943-1945 | 1, 2, 3 | Otto Kranzbühler (1907-2004) | 10 Jahre Gefängnishaft |
Hans Frank | 1900-1946 | Generalgouverneur in Polen | 1, 3, 4 | Alfred Seidl (NSDAP, CSU, 1911-1993) | Tod durch den Strang |
Wilhelm Frick | 1877-1946 | Reichsinnenminister 1933-1945, Reichsprotektor für Böhmen und Mähren 1943-1945 | 1, 2, 3, 4 | Otto Pannenbecker (Zentrum, 1879-1956) | Tod durch den Strang |
Hans Fritzsche | 1900-1953 | Leiter der Rundfunkabteilung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda | 1, 3, 4 | Heinz Fritz | nicht schuldig |
Walther Funk | 1890-1960 | Reichsbankpräsident 1939-1945 | 1, 2, 3, 4 | Fritz Sauter | lebenslängliche Gefängnishaft |
Hermann Göring | 1893-1946 | Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Reichsmarschall | 1, 2, 3, 4 | Otto Stahmer | Tod durch den Strang |
Rudolf Heß | 1894-1987 | Stellvertreter Adolf Hitlers in der NSDAP | 1, 2, 3, 4 | Günther von Rohrscheid, Alfred Seidl | lebenslängliche Gefängnishaft |
Alfred Jodl (geb. Alfred Baumgärtler) | 1890-1946 | Chef des Wehrmachtführungsstabes | 1, 2, 3, 4 | Franz Exner (1881-1947), Hermann Jahrreiß (1894-1992) | Tod durch den Strang |
Ernst Kaltenbrunner | 1903-1946 | Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes | 1, 3, 4 | Kurt Kaufmann | Tod durch den Strang |
Wilhelm Keitel | 1882-1946 | Chef des Oberkommandos der Wehrmacht | 1, 2, 3, 4 | Tod durch den Strang | |
Gustav Krupp von Bohlen und Halbach | 1870-1950 | Aufsichtsratsvorsitzender der Friedrich Krupp AG | 1, 2, 3, 4 | Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt | |
Robert Ley | 1890-1945 | Reichsorganisationsleiter der NSDAP | 1, 3, 4 | Selbstmord vor Prozessbeginn | |
Konstantin Freiherr von Neurath | 1873-1956 | Reichsaußenminister 1932-1938, Reichsprotektor für Böhmen und Mähren 1939-1943 | 1, 2, 3, 4 | Otto von Lüdinghausen | 15 Jahre Gefängnishaft |
Franz von Papen | 1879-1969 | Reichskanzler Juni-November1932; Vizekanzler 1933-1934; Gesandter und Botschafter in Wien u. Ankara 1934-1944 | 1, 2 | Egon Kubuschok (geb. 1902) | nicht schuldig |
Erich Raeder | 1876-1960 | Oberbefehlshaber der Marine 1935-1943 | 1, 2, 3 | Walter Siemers | lebenslängliche Gefängnishaft |
Joachim von Ribbentrop | 1893-1946 | Reichsaußenminister 1938-1945 | 1, 2, 3, 4 | Fritz Sauter, Martin Horn (geb. 1911) | Tod durch den Strang |
Alfred Rosenberg | 1893-1946 | Reichsminister für die besetzten Ostgebiete | 1, 2, 3, 4 | Alfred Thoma | Tod durch den Strang |
Fritz Sauckel | 1894-1946 | Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz | 1, 2, 3, 4 | Robert Servatius (1894-1983) | Tod durch den Strang |
Hjalmar Schacht | 1877-1970 | Reichsbankpräsident 1933-1939, Reichswirtschaftsminister 1933-1937 | 1, 2 | Rudolf Dix (1884-1952) | nicht schuldig |
Baldur von Schirach | 1907-1974 | Reichsjugendführer | 1, 4 | Fritz Sauter | 20 Jahre Gefängnishaft |
Arthur Seyß-Inquart | 1892-1946 | Reichskommissar in den Niederlanden | 1, 2, 3, 4 | Gustav Steinbauer (1889-1961) | Tod durch den Strang |
Albert Speer | 1905-1981 | Reichsminister für Bewaffnung und Munition | 1, 2, 3, 4 | Hans Flächsner | 20 Jahre Gefängnishaft |
Julius Streicher | 1885-1946 | Herausgeber der Zeitung Der Stürmer, Gauleiter | 1, 4 | Hans Marx | Tod durch den Strang |
Ein Novum dieses ersten völkerrechtlichen Tribunals war, dass man auch eine Reihe NS-spezifischer Einrichtungen als "verbrecherische Organisationen" anklagte (Reichsregierung, Politisches Korps der NSDAP, Schutzstaffel, Sturmabteilung, Gestapo und Sicherheitsdienst als Einheit sowie Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht als Einheit). Mit diesem ungewöhnlichen Schritt, der vom Individualprinzip des traditionellen Strafrechts abwich, griff die Anklagevertretung die Vorschläge führender Rechtsexperten auf, die auf Beweisprobleme bei der Überführung staatlich motivierter Massenkriminalität hingewiesen hatten. Reichsregierung, SA sowie Generalstab und OKW wurden später von dem Vorwurf der "verbrecherischen Organisation" freigesprochen. Während bei der Reichsregierung unter anderem eine Rolle spielte, dass sie seit 1937 de facto nur auf dem Papier existiert hatte, ging das Gericht in Bezug auf die SA von einer weitgehenden Bedeutungslosigkeit für die Zeit nach 1934 aus. Bei Generalstab und OKW fehlte es den Richtern an einer organisatorischen Struktur im Sinne des Art. 9 IMT-Charta.
Da Adolf Hitler (NSDAP, 1889-1945), Heinrich Himmler (NSDAP, 1900-1945) und Joseph Goebbels (NSDAP, 1897-1945) für die Strafverfolger nicht mehr greifbar waren, richtete sich der Prozess gegen einzelne Mitglieder der früheren Reichsregierung sowie Repräsentanten aus NSDAP-Führung, staatlicher Verwaltung, Industrie und Militär. Dazu zählten unter anderem Hermann Göring (NSDAP, 1893-1946), Hans Frank (NSDAP, 1900-1946), Wilhelm Frick (NSDAP, 1877-1946), Baldur von Schirach (NSDAP, 1907-1974), Albert Speer (NSDAP, 1905-1981), Fritz Sauckel (NSDAP, 1894-1946) und Julius Streicher (NSDAP, 1885-1946). In der Zusammensetzung der Angeklagten spiegelte sich der von den USA verfolgte "institutionelle Ansatz" wider, dem zufolge es sich beim NS-Regime um eine "Verschwörung" alter und neuer Eliten gegen den deutschen Staat gehandelt habe (der Ansatz wurde später in den Nachfolgeprozessen weiter konkretisiert). Dies führte teilweise zu einer gewissen Willkürlichkeit bei der Angeklagtenauswahl, da einzelne Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einzelnen Behörden, aber auch wegen ihres Bekanntheitsgrads vor Gericht gestellt wurden. So stand beispielsweise die Anklage gegen Julius Streicher, den Gauleiter von Mittelfranken und "Stürmer"-Herausgeber, juristisch teilweise auf schwachen Füßen, da er bereits vor Beginn der systematischen Judenvernichtung seiner Ämter enthoben worden war; moralisch war der Richterspruch gegen diesen führenden Antisemiten aber dennoch gerechtfertigt. Der für den Nationalsozialismus typischen Ämterhäufung sowie der Übertragung verschiedener Aufgabenbereiche an eine einzelne Person trugen die Strafverfolger dadurch Rechnung, dass sie Mehrfachanklagen erhoben (Göring wurde beispielsweise in allen vier Punkten angeklagt).
Das Konzept der US-amerikanischen Anklagevertretung sah vor, den Prozess als "Dokumentenprozess" zu führen. Darin drückte sich auch eine spezifische historische Deutung aus. Gemäß den herrschaftssoziologischen Analysen US-amerikanischer Geheimdienstexperten wurde das "Dritte Reich" als ein Gebilde betrachtet, in dem der Staat durch eine neue Form der totalen Bürokratie und der "Monopolwirtschaft" abgelöst worden war. Neben der amtlichen Aktenüberlieferung spielten in dem Verfahren auch filmische Beweismittel eine große Rolle. Alle Siegermächte hatten beim militärischen Vormarsch eigene Filmteams damit beauftragt, die Zustände in den Konzentrations- und Vernichtungslagern für die juristische Aufarbeitung festzuhalten. Dem United States Army Signal Corps, das für die Herstellung gerichtsverwertbarer Filmbilder zuständig war, gehörten prominente Regisseure wie John Ford (1894-1973) und Samuel Fuller (1912-1997) an. Umfangreiche Umbauarbeiten im Gerichtssaal Nr. 600 sollten sicherstellen, dass die Leinwand von jedem Sitzplatz aus zu sehen war. Die Vorführung des Filmmaterials war Bestandteil einer ausgefeilten Prozessdramaturgie, die den Zweck verfolgte, die in den Prozess eingeführten Beweisdokumente zu authentifizieren. Da Chefanklärger Jackson daran gelegen war, die Zahl der Zeugen auf ein Minimum zu beschränken, dienten die Filme zum Teil auch als Zeugenersatz.
Während der 218 Tage dauernden Verhandlung wurde eine Fülle dokumentarischer Beweismittel vorgelegt. Seit Frühjahr 1945 war ein ganzes Heer von militärischen, nachrichtendienstlichen und zivilen Suchtrupps mit dem Aufspüren geeigneter Dokumente für die alliierte Anklagevertretung beauftragt gewesen. Viele IMT-Beweisdokumente sollten später Generationen von Zeitgeschichtsforschern beschäftigen, so unter anderem die sog. Hoßbach-Niederschrift (auch: Hoßbach-Protokoll) vom 10. November 1937 oder der sog. Kommandobefehl vom 18. Oktober 1942. Der Münchner Anwalt Alfred Seidl (NSDAP, CSU, 1911-1993), Strafverteidiger des geistig verwirrten früheren Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß (1894-1987), interpretierte sein Mandat vor allem als geschichtspolitischen Auftrag. Obwohl Heß nichts mit dem Zustandekommen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts zu tun gehabt hatte, versuchte er im Frühjahr 1946, das Geheime Zusatzprotokoll über einen Umweg in die Verhandlung einzubringen. Die indirekte Präsentation des brisanten Dokuments – es wurde später im Rahmen der Befragung des ehemaligen Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop (NSDAP, 1893-1946) verlesen – war geeignet, die Legitimität der sowjetischen Anklage zu untergraben, und nahm damit den sich abzeichnenden Ost-West-Konflikt vorweg. In seiner späteren Rolle als CSU-Abgeordneter und bayerischer Innenminister hatte Seidl entscheidenden Anteil daran, dass das Internationale Militärtribunal in der bayerischen Öffentlichkeit über Jahrzehnte hinweg als alliiertes Unrecht wahrgenommen wurde und alle Spuren, die daran hätten erinnern können, systematisch getilgt wurden.
Das Urteil vom 30. September/1. Oktober 1946 folgte den Plädoyers der Anklagebehörde in wesentlichen Punkten. Ein bedeutender Schritt zur Weiterentwicklung des Völkerrechts konnte zum einen darin gesehen werden, dass das Gericht die völkerrechtliche Strafbarkeit von Angriffskriegen auf der ganzen Linie bekräftigte. Zum anderen bestätigte es erstmals die in der Völkerrechtslehre lange umstrittene Rechtsauffassung, dass bei Einzelpersonen, die ein staatliches Amt ausüben, grundsätzlich eine doppelte Verantwortlichkeit nach nationalem und internationalem Recht anzunehmen ist. Mit einigen Einschränkungen erkannten die Richter auch die übrigen Anklagepunkte an. In zwölf Fällen verhängten sie Todesstrafen, sieben Angeklagte verurteilten sie zu lebenslanger Haft oder befristeten Freiheitsstrafen und in drei Fällen erfolgten Freisprüche. Die Todesurteile wurden am 16. Oktober 1946 in der alten Turnhalle auf dem Gelände des Nürnberger Gefängnisses vollstreckt; unter den Anwesenden befanden sich auch der Bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD, 1887-1980, Ministerpräsident 1945-1946 und 1954-1957) und der Nürnberger Generalstaatsanwalt Friedrich Leistner. Göring, der Hauptangeklagte, hatte sich allerdings der Exekution entziehen können: Am Vorabend der Hinrichtung hatte er eine Zyankali-Kapsel geschluckt, über deren Herkunft sich in der Folgezeit immer wieder Spekulationen rankten. Die zu Haftstrafen Verurteilten verlegte man im Sommer 1947 in das alliierte Gefängnis in Berlin-Spandau.
Rechtliche und öffentliche Wirkungen
In den ersten Jahren nach Abschluss des Internationalen Militärtribunals sah es vorübergehend so aus, als ob das Verfahren bleibende völkerrechtliche Wirkungen entfalten würde. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen bekannte sich Ende 1946 zu den Nürnberger Prinzipien und 1950 betonte die UNO-Völkerrechtskommission deren universale Gültigkeit. Diese Resolutionen hatten jedoch vor allem deklaratorischen Charakter. Nachdem sich bereits vor dem Ende der US-amerikanischen Nachfolgeprozesse die republikanische Mehrheit im Washingtoner Kongress von dem Projekt abgewandt hatte, war eine treibende Kraft hinter dem Bestrafungsprogramm weggefallen. Die stalinistische Sowjetunion, die seit jeher ein eher instrumentelles Völkerrechtsverständnis gepflegt hatte, setzte die "Nürnberger Prinzipien" als rhetorische Waffe in der systempolitischen Auseinandersetzung ein. In den westlichen Besatzungszonen, wo sich der Widerspruch gegen diesen Aspekt der alliierten Besatzungspolitik aufgrund der Zensurauflagen lange Zeit in Grenzen gehalten hatte, formierten sich verschiedene Gruppierungen, die für die Abschaffung des alliierten Rechts und die Nichtanerkennung der Nürnberger Urteile plädierten. Von Seiten deutscher Völkerrechtler wurde dabei hauptsächlich auf den tatsächlichen bzw. vermeintlichen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot verwiesen.
Nach Gründung der Bundesrepublik 1949 profitierten die in Berlin-Spandau und Landsberg am Lech einsitzenden alliierten Häftlinge von der Amnestie-Politik der Bundesregierung (beispielsweise Straffreiheitsgesetz vom Dezember 1949). Die Strafanstalt in Landsberg am Lech, die vor 1945 zeitweise Sitz einer KZ-Kommandantur gewesen war, entwickelte sich zu einer Art Wallfahrtsort für Vertreter der bundesdeutschen Gnaden-Lobby. Das Nürnberger Justizgebäude an der Fürther Straße wurde erst 1961 wieder an die bayerische Justiz übergeben. Danach wurden sämtliche früheren Ein- und Umbauarbeiten rückgängig gemacht und der historische Saal 600 wurde erneut für Schwurgerichtsverhandlungen genutzt.
Erst Ende der 1990er Jahre setzte in der Nürnberger Lokalpolitik ein Umdenkungsprozess in Bezug auf das alliierte Bestrafungsprogramm ein. Im November 2010 wurde nach umfangreichen Umbauarbeiten die Dauerausstellung "Memorium Nürnberger Prozesse" eröffnet, welche die Geschichte der Völkerstrafgerichtsbarkeit vom Kriegsende bis zur Gegenwart nachzeichnet. Seit 2015 besteht in Nürnberg die "Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien", eine Stiftung zur Förderung des Völkerstrafrechts.
Literatur
- Martina Behr/Maike Corpataux, Die Nürnberger Prozesse. Zur Bedeutung der Dolmetscher für die Prozesse und der Prozesse für die Dolmetscher (InterPartes 2), München 2006.
- Whitney R. Harris, Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945-1946, herausgegeben von Christoph Safferling und Ulrike Seeberger (Juristische Zeitgeschichte. Leben und Werk. Abteilung 4: Biographien und Werkanalysen 11), Berlin 2008.
- Klaus Kastner, Von den Siegern zur Rechenschaft gezogen. Die Nürnberger Prozesse, Nürnberg 2001.
- Kim C. Priemel/Alexa Stiller (Hgg.), Reassessing the Nuremberg Military Tribunals. Transitional Justice, Trial Narratives and Historiography (Studies on War and Genocide 16), New York 2012.
- Kim C. Priemel/Alexa Stiller (Hgg.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013.
- Herbert R. Reginbogin/Christoph J. Safferling/Walter R. Hippel (Hg.), Die Nürnberger Prozesse. Völkerstrafrecht seit 1945. Internationale Konferenz zum 60. Jahrestag, München 2006.
- Gerd R. Ueberschär (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952, Frankfurt am Main 1999.
- Georg Wamhof (Hg.), Das Gericht als Tribunal oder: Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde (Veröffentlichung des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 25), Göttingen 2008.
- Annette Weinke, Nürnberger Prozesse, München 2006.
Quellen
- Henry Bernhard (Hg.), Ich habe nur noch den Wunsch, Scharfrichter oder Henker zu werden. Briefe an Justice Jackson zum Nürnberger Prozess 1945/46, Halle 2006.
- Ansgar Diller/Wolfgang Mühl-Benninghaus, Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Edition und Dokumentation ausgewählter Rundfunkquellen (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs 5), Potsdam 1998.
- Leon Goldensohn, The Nuremberg interviews, edited by Robert Gellately, New York 2005.
- Ulrich Lampen/Peter Steinbach (Hg.), Die NS-Führung im Verhör. Original-Tondokumente aus den Nürnberger Prozessen, Berlin 2006.
Weiterführende Recherche
Externe Links
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Hauptkriegsverbrecherprozess
Empfohlene Zitierweise
Annette Weinke, Nürnberger Prozesse, publiziert am 19.08.2013; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Nürnberger_Prozesse (7.12.2024)