Synoden der Agilolfingerzeit
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Im bayerischen Herzogtum der Agilolfinger fanden bis zu dessen Ende im Jahr 788 nachweislich mehrere in der zeitgenössischen Überlieferung als Synoden bezeichnete Zusammenkünfte statt. Abweichend von gängigen Definitionen, die Synoden als Versammlungen von Bischöfen und anderen Kirchenvertretern zur Behandlung kirchlicher Fragen verstehen, waren frühmittelalterliche Synoden Versammlungen von geistlichen und weltlichen Würdenträgern. Auch die behandelten Themen beschränkten sich nicht auf kirchliche Angelegenheiten, sondern umfassten ebenso Fragen des weltlichen Rechts. Vom Herzog einberufen fanden die Synoden an herzoglichen Zentralorten statt, so in Aschheim in den 750er Jahren und in Dingolfing bzw. Neuching in den 770er Jahren. Die Entscheidungen wurden in Form von Urkunden, Kanones oder Dekreten festgehalten. Die untrennbare Verbindung geistlicher und weltlicher Versammlungen hat in der Forschung dazu geführt, mit der Kategorisierung dieser Synoden als „Landessynoden“ oder gar als „Landtage“ die Kontinuitätsgeschichte politischer Partizipation in Bayern beginnen zu lassen.
Synoden: grundsätzliche Überlegungen zur Terminologie
Die bayerischen Synoden der Agilolfingerzeit weichen von gängigen Definitionen ab, wonach eine Synode eine Versammlung von Bischöfen und weiteren Geistlichen sei, die unter Einhaltung bestimmter Formen Entscheidungen mit Geltungsanspruch für kirchliche Angelegenheiten treffe. Die agilolfingerzeitlichen Versammlungen beschränkten sich weder hinsichtlich des Teilnehmerkreises noch der behandelten Themen auf einen binnenkirchlichen Raum. Auf den bayerischen Synoden des 8. Jahrhunderts dominieren genauso wie auf denjenigen des Frankenreichs der Merowinger- und Karolingerzeit akute Probleme und Fragen, oft pastoraler und kirchenorganisatorischer, aber auch weltlicher Natur. Sie sind gekennzeichnet durch die enge, sogar untrennbare Verbindung geistlicher und weltlicher Versammlungen. Dabei bleibt offen, ob von einer gemeinsamen Zusammenkunft geistlicher oder weltlicher Würdenträger oder zwei parallel stattfindenden auszugehen ist. Ähnliches gilt auch für die von Wilfried Hartmann (geb. 1942) untersuchten Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien; beim Versuch der Unterscheidung zwischen Konzilien und Reichsversammlungen spricht er von concilia mixta. Hans Barion (1899-1973) dagegen unterscheidet, um die sowohl weltliche als auch geistliche Themen betreffenden Beschlüsse zu erklären, zwischen „Landtag und Synode“ an einem Ort: ein synodus episcoporum et abbatum habe geistliche und eine sancta synodus des Herzogs weltliche Angelegenheiten beratschlagt (Barion, Verfassung der bayerischen Synoden, 94).
Für die zeitgenössische Wahrnehmung ist eine solche Unterscheidung letztlich als künstlich zu bezeichnen: kirchliche und weltliche Belange lassen sich nur bedingt trennen (Jahn, Ducatus, 476). Der Herzog berief die Synoden ein, an denen seine proceres („Vornehmsten“) teilnahmen, zu denen neben den Vertretern der geistlichen Elite auch die weltliche Oberschicht seines Reichs gerechnet wurde. In Ermangelung einer kirchlichen Provinzorganisation nahmen die Bischöfe und Geistlichen des agilolfingischen regnum teil, die sich zudem nicht an Bischofssitzen, sondern in herzoglichen Zentralorten trafen. Die Entscheidungen der Synoden erließ letztlich auch der Herzog, der damit für kirchliche Belange gleichfalls die maßgebliche Autorität beanspruchte. Da lediglich die Beschlüsse als Ergebnisse der Synoden der Agilolfingerzeit überliefert sind, lässt sich über deren Zustandekommen, etwa nach Mehrheitsprinzip, und dem stimmlichen Gewicht einzelner Teilnehmer, auch des Herzogs, nichts aussagen.
Synoden unter den Herzögen Theodo II. und Odilo
Als erste Synode der Agilolfingerzeit wird eine unter Herzog Theodo II. (reg. 680-717) im Jahr 716 in Regensburg abgehaltene Versammlung vermutet. Sie lässt sich aus einem Schreiben Papst Gregors II. (reg. 715-731) vom 15. Mai 716 an einen Bischof Martinian, einen Priester Georgius und einen Subdiakon Dorotheus ableiten, die einen conventus von Priestern, aber auch Richtern und anderen Eliten einberufen sollten, nachdem der bayerische Herzog, wie der Liber pontificalis berichtet, im selben Jahr in Rom gewesen war. Ob eine solche Versammlung je stattfand, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen; dass allerdings sowohl Kleriker als auch Laien daran teilnehmen sollten, passt in den Befund für das gesamte 8. Jahrhundert.
Eine weitere Synode fand möglicherweise unter Herzog Odilo (reg. 736-748) im Jahr 739 statt. Sie lässt sich ebenso aus einer römischen Vorgabe ableiten, nämlich aus der wohl in das Jahr 738 zu datierenden, von Bonifatius (ca. 675-754) an die Bischöfe Alemanniens und Bayerns überbrachten Aufforderung Papst Gregors III., zweimal im Jahr Synoden abzuhalten. Die Anweisung aus Rom, diese Konzilien in Augsburg oder in der Nähe der Donau einzuberufen, findet sich in einem weiteren Schreiben Gregors III. (reg. 731-741) an Bonifatius vom 29. Oktober 739 aufgegriffen, worin eine Zusammenkunft „an der Donau“ genannt wird. Ob die Versammlung jemals zusammentrat und, falls ja, in Regensburg, bleibt allerdings ungewiss. Das lange damit identifizierte, in einer St. Emmeramer Handschrift überlieferte Concilium Baiuvaricum ist jedenfalls jünger und steht in keinem Zusammenhang, sondern diente wohl dazu, die Beschlüsse einer gesamtfränkischen Synode um 800 im bayerischen Raum konkret zu verbreiten (Hartmann, Synoden, 90).
Die Synode von Aschheim (wohl 757)

Aus der Herrschaftszeit Herzog Tassilos III. (reg. 757-788) sind mindestens drei Synoden überliefert. Existenz und Form weiterer werden diskutiert.
Eine erste Versammlung von Geistlichen lässt ein an Tassilo, noch aetate tenerulus („in ganz zartem Alter“), gerichtetes Schreiben erkennen, das in einer wohl um 800 entstandenen kanonistischen Sammelhandschrift (BSB Clm 6243) überliefert ist. Hinweisen auf Tassilos gerade eigetretene Mündigkeit zufolge fand die Synode spätestens im Jahr 757 statt, frühestens aber nach der fränkischen Synode von Ver 755, setzt man deren Beschlüsse als bekannt voraus. Als Ort der congregatio wird mit Rekurs auf das in presente villa publica noncupante Ascheim (MGH Conc. 2,1, Nr. 10, S. 56-58, hier 58, c. 13) ausgestelltes Dekret Aschheim identifiziert. Möglicherweise hatte die Wahl des Tagungsortes eine gewisse symbolische Bedeutung: in Aschheim wurde der hl. Emmeram nach seinem als Martyrium interpretierten Tod in Kleinhelfendorf zunächst bestattet; die dortige herzogliche Pfalz bot die räumlichen und logistischen Voraussetzungen für eine solche Versammlung, die damit nicht an einem Bischofssitz, sondern einem herzoglichen Zentralort stattfand. Die versammelten Bischöfe richteten ein Schreiben an den noch jungen Herzog, in dem sie ihn theologisch begründet ermahnen, Kirchengut zu sichern, die Frauen, Witwen, Waisen, Armen und Schwachen im Land zu schützen und Inzest-Ehen zu verbieten; gleichzeitig sind in den 15 Capitula auch Kanones (Rechtssätze des Kirchenrechts) enthalten, die – vor dem Hintergrund der kirchlichen Strukturmaßnahmen des Bonifatius – Kompetenzen und Aufgaben der Bischöfe, das Recht auf die Einhebung des Kirchenzehnten sowie weitere Fragen des kirchlichen Lebens regeln und das Gebet für die Unversehrtheit von Herzog und regnum anordnen. Das Dokument belegt eine erste Versammlung im agilolfingischen Herzogtum, von deren Existenz sicher auszugehen ist. Wer neben den nicht namentlich genannten Bischöfen noch daran teilnahm, ist ungewiss. Nicht einmal, ob der junge Herzog Tassilo selbst teilgenommen hat, lässt sich mit Sicherheit sagen – zumeist wird von seiner Anwesenheit ausgegangen, weil das Protokoll der Beschlüsse ihn adressiert.
Weitere Versammlungen unter Herzog Tassilo III.
Aus unterschiedlichen Überlieferungszusammenhängen lassen sich weitere Versammlungen erschließen, die teilweise auch als Synoden vermutet, aber zeitgenössisch nicht als solche bezeichnet werden. Mit der Gründungsurkunde des Klosters Innichen im Pustertal, in der Herzog Tassilo III. cum consensu optimatum stiftete, lässt sich eine Versammlung im Jahr 769 in Bozen, auf der Rückreise aus Italien, annehmen. Im Folgejahr stiftete der Herzog in Aufhausen coram episcopis necnon et presbiteris. Beide Urkunden finden sich in den Freisinger Traditionsnotizen und verdeutlichen die Disparität der Quellenlage. Ebenso lassen sich ähnliche Versammlungen für die Gründungen der Klöster Mattsee um/vor 765 und Kremsmünster im Jahr 777, für welche die Anwesenheit mehrerer Bischöfe und Äbte belegt ist, und wohl auch für weitere Stiftungen annehmen. Die Nennung des stiftenden Herzogs mit einer unbekannten Zahl von Großen und Bischöfen seines Herzogtums verleitete die Forschung vorschnell zur Annahme von „Landtagen“. Da allerdings neben den, teilweise nur kopial erhaltenen Urkunden keine weitere Überlieferung vorliegt, bleiben darüberhinausgehende Interpretationen letztlich spekulativ: Synoden können damit nicht belegt werden.
Die Decreta Tassilonis – Dingolfing (770 bis 776/777) und Neuching (771/772)
Mehr bekannt ist über eine Synode in Dingolfing, die zwischen 770 und 776/777 zu datieren ist, und eine Versammlung in Neuching im Jahr 771 oder 772. Beide fanden in Anwesenheit Tassilos III. in herzoglichen Pfalzen statt. Die Synodalbeschlüsse, als Decreta Tassilonis bezeichnet, sind teilweise als ergänzende Normen zur Lex Baiwariorum zu verstehen und nur in entsprechenden Handschriften überliefert.
Die Datierung der als solche überlieferten Beschlüsse von einer Synode in Dingolfing ist umstritten: Die Angabe domino Tassilone principe mediante (MGH Conc. 2,1, Nr. 15, S. 93-96, hier 93) verortet die Versammlung sicher in die Herrschaftszeit Herzog Tassilos III. Die Jahreszahl 770 legt aber allein die mögliche Verbindung zu einer Gebetsverbrüderung nahe, die wohl am 26. September dieses Jahres in Freising geschlossen wurde. Deren Namensliste nennt die Bischöfe von Salzburg, Freising, Regensburg, Passau, Säben und Neuburg sowie dreizehn Äbte, die – so die Hypothese – vielleicht nicht nur auf Grund einer Schenkung an die Freisinger Marienkirche angereist waren, sondern sich womöglich auf dem Weg zu einer Synode befanden, die davor oder danach stattfand. Mit dem Schritt zu den undatiert überlieferten Synodalbeschlüssen lassen sich die Unterzeichner dann als Teilnehmer der Synode von Dingolfing verstehen. Zieht man die Datierung der Gebetsverbrüderung auf 770 in Zweifel (Jahn, Ducatus, 512-514), lässt sich mit dieser als alleinigem Terminus ad quem auch die Synode deutlich später, nämlich auf 776/777 und damit nach derjenigen von Neuching datieren.
In den zwölf Beschlüssen von Dingolfing werden Fragen zur Beachtung des Sonntags mit entsprechenden Strafen, zum Erbe von Klerikern und der kirchlichen Disziplin von Bischöfen sowie Ordensmännern und -frauen behandelt. Ererbtes Eigentum wird garantiert, außer im Fall von Kapitalverbrechen (Raub, Mord, Vergewaltigung), erweitert durch das Delikt des Todschlags einer Person des Fürsten (hominem principis). Daneben wurden auch Dekrete zur Gerichtspraxis erlassen: Eine beschuldigte Person sollte zunächst mit dem Kläger Frieden aushandeln, bevor die beiden zum Zweikampf (wehading) anträten. Zudem begegnen in den Dekreten erstmals nobiles als eigene gesellschaftliche Schicht innerhalb der Freien. Möglicherweise lassen sich darunter Vollfreie mit eigenem Allodialbesitz verstehen, aber noch ohne die später damit assoziierten Adelsprivilegien. Schenkungen an Kirchen sollten nur noch mit adeligen Zeugen (tribus testibus fidelibus et nobilibus) erfolgen. Tendenziell sind gewisse adelige Vorrechte erkennbar, die mit Rangansprüchen möglicherweise auf Grund von Alter, Besitz oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sippe einhergingen. Jahn schließt daraus „einen deutlichen Machtzuwachs“ des Adels (Jahn, Ducatus, 513). Ebenso werden adalscalhae genannt, die sich als Angehörige einer im Entstehen begriffenen herzoglichen „Dienstaristokratie“ (Holzner, Decreta, 414) verstehen lassen. Unabhängig von den erkennbaren Veränderungen innerhalb der Sozialstruktur und der konkreten inhaltlichen Füllung der Termini lässt sich auf der Synode von Dingolfing eine Form von Gruppenprivilegierung und Sicherung des Rechtsstatus für die Geistlichen und für bestimmte weltliche Schichten erkennen.
Decreta Tassilonis und Gebetsverbrüderung (hervorgehoben) in einer Freisinger Handschrift der Lex Baiwariorum aus der Zeit um 820/30. (Bayerische Staatsbibliothek, Clm 19415, 223-227)
Wohl im Jahr 771 oder 772 fand in Neuching ein collegium procerum statt, das geistliche und weltliche Teilnehmer umfasste. Diese Versammlung beschloss 18 Dekrete. Als deren Verfasser vermutet Joachim Jahn den Freisinger Bischof Arbeo (reg. 764-784) (Jahn, Ducatus, 475-477). Die Dekrete regeln Fragen zum Verkauf, Diebstahl und Eigentum von Leibeigenen und Dingen. Ebenso wurden das Strafmaß für verschiedene Verbrechen, Formen der Eidesleistung, die Gerichtspraxis und die Amtswahrnehmung von Richtern festgelegt. Auch der Rechtsstatus von Freigelassenen wurde geregelt: Sie konnten zu Gottesurteilen (urteila) gezwungen werden. Von der Kirche freigelassene Personen sollten ihre Freiheiten genauso wie ihre Nachkommen behalten; falls einer von ihnen getötet würde, sollte sein Wert an die entsprechende Kirche erstattet werden. Auch Fragen zum Umgang mit Ehebruch sowie zu Klerikern und verschleierten Jungfrauen, die ihre Gelübde ablegten, wurden behandelt.
In einigen Handschriften ist noch eine Zusammenkunft von Bischöfen, Äbten und weiteren Geistlichen genannt, die möglicherweise gleichzeitig tagte. Als Richtschnur für deren Handeln wurden die normae canonum und die decreta patrum eingeschärft. Die Spannungen zwischen den Bischöfen und Äbten bezüglich der Autorität über tituli populares, worunter sich wohl Laienkirchen, adelige Eigenkirchen oder auch frühe Pfarrkirchen verstehen lassen, wurde zugunsten der Bischöfe geklärt. Zudem wurde die Notwendigkeit einer guten Ausbildung und einer gottgefälligen Lebensführung der Priester, das regelmäßige Spenden der Sakramente und das Tragen geistlicher Kleidung angemahnt. Im Gegensatz zu Aschheim wird auf beiden Synoden, Dingolfing und Neuching, die Rolle der Bischöfe nicht so klar betont; die Synoden erließen decreta in Anwesenheit des Herzogs Tassilo. Dieser handelte damit universo concordante collegio (MGH Conc. 2,1, Nr. 16, S. 98-103, hier 99, c. 1.), wie es explizit für Neuching heißt: unter Zustimmung der versammelten weltlichen und geistlichen Großen. Thomas Holzner (geb. 1975) (Holzner, Decreta, 59f.) verweist entsprechend auf fränkische Rechtsquellen, in denen eine Mitsprache des Adels belegt ist.
Die drei sicher nachweisbaren Synoden verabschiedeten insgesamt 45 Kanones. Hans Barion unterscheidet solche Dekrete, die von Herzog und Landtag erlassen, und kirchliche Vorschriften, die von der Synode beschlossen worden seien. Peter Landau hingegen betont, dass Tassilo in allen Fällen als Gesetzgeber aufgetreten sei, was Wilhelm Störmer (1928-2015) mit der Beobachtung untermauert, dass die Synoden in herzoglichen Pfalzen und nicht an Bischofssitzen stattfanden. Den agilolfingischen Herzögen, besonders aber Tassilo III. wird deshalb oft eine Doppelfunktion als Fürst und Kirchenherr zugesprochen.
Gab es eine eigene Versammlungskultur im agilolfingischen Bayern?
Immer wieder gerieten die Synoden der Agilolfingerzeit im Zuge der Erforschung von Landtagen und Landständen in den Blick der Geschichtsschreibung. Johannes Aventinus (1477-1534), der zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Synoden von Aschheim und Dingolfing historiographisch wiederentdeckte, nannte sie „landschaft“ (Aventin, Chronik V, 102f.) im Sinne der Landtage seiner Zeit, an denen neben dem Adel sowie den Städten und Märkten auch die Äbte und Pröpste der landständischen Klöster und Stifte teilnahmen. Für Aventin war eine Synode ohne Herzog undenkbar: er schrieb „von Hertzog Thessel dem dritten in Bayern und seinen landschaften“ in Aschheim, die eine „Landsordnung“ (Aventin, Chronik V, 102) aufstellten. Im ausgehenden 18. Jahrhundert stellte die Kurbayerische Akademie zwei Preisfragen, welche den ältesten Landtagen gewidmet waren. Ebenso befasste sich die Ständegeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts mit den scheinbaren Wurzeln des sich etablierenden Parlamentarismus im Frühmittelalter. Die bayerische Geschichtsschreibung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat in der Synode von Aschheim rasch den ersten bayerischen Landtag sehen wollen (Diepolder und Dieck).
Parallelen zur Versammlungskultur im Bayern der Agilolfingerzeit sah man in den Hoftagen und Reichsversammlungen des Frankenreichs. Unter König Pippin (reg. 751-768) fanden im Frankenreich nahezu jährlich große Hoftage statt. Laut den fränkischen Reichsannalen soll auch Tassilo an einer solchen Reichsversammlung des Jahres 757 in Compiègne teilgenommen haben, wo er König Pippin einen Eid geleistet habe. Ebenso wie sein Vater lud Karl der Große zu solchen Versammlungen in seinem Reich; nahezu jährlich sind große Hoftage nachzuweisen. Auch die Absetzung Herzog Tassilos III. durch den Frankenkönig Karl 788 erfolgte auf einem fränkischen Hoftag in der königlichen Pfalz Ingelheim, wohin Karl den bayerischen Herzog geladen hatte und in einem öffentlichen Schauprozess absetzen und verurteilen ließ. In den Lorscher Annalen wird die Versammlung als conventus bezeichnet, in den Fränkischen Reichsannalen als synodus, was die begriffliche Offenheit der zeitgenössischen Überlieferung noch einmal exemplifiziert. Obwohl sich eine solche Dichte und Regelmäßigkeit an Versammlungen wie im Frankenreich für Bayern in den Quellen nicht fassen lässt, nahm die ältere Forschung eine gewisse Regelmäßigkeit an, die als germanische Rechtstradition ohne schriftlichen Niederschlag verstanden wurde.
In der Lex Baiwariorum als spätestens ab der Mitte des 8. Jahrhunderts geltender Rechtssammlung findet sich die zu rekonstruierende Versammlungspraxis allerdings nur rudimentär normativ reflektiert wieder. Für die Herzogseinsetzung nennt sie die Möglichkeit einer Wahl durch den populus, also die freie, wehrfähige Bevölkerung, die sich dazu gewiss in irgendeiner Form versammeln musste. Entsprechend heißt es vom Herzog, quem rex ordinavit in provincia illa aut populus sibi elegerit ducem („den der König in diesem Land eingesetzt oder den das Volk sich zum Herzog gewählt hat“. Übersetzung nach Deutinger, Lex Baioariorum II, 1, S. 72f.).
Vor diesem Hintergrund lassen sich regelmäßige Versammlungen vielleicht plausibilisieren, nicht aber definitiv nachweisen, weshalb man am Ende auf eine Analyse der drei benannten Synoden angewiesen bleibt, von denen sich Überlieferung erhalten hat. Unter Verzicht auf die in der bayerischen Geschichtsschreibung seit Aventin eingenommene Perspektive sollten die Synoden der Agilolfingerzeit heute deshalb als ganz eigene Formen frühmittelalterlicher Versammlungspraxis der geistlichen und weltlichen Großen des Herzogtums verstanden werden.
Literatur
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Markus Ch. Müller, Synoden der Agilolfingerzeit, publiziert am 20.03.2025; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Synoden_der_Agilolfingerzeit> (18.04.2025)