Agilolfinger
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Die bayerischen Herzöge bis zum Sturz Herzog Tassilos III. 788 werden als Agilolfinger bezeichnet. Grundlage dafür ist die Bestimmung der Lex Baioariorum, die Herzöge müssten immer diesem Geschlecht angehören. Bestätigende Quellen fehlen jedoch. Auch sind aufgrund der Lückenhaftigkeit der Überlieferung keineswegs alle frühen Herzöge bekannt. Die Frage nach der Herkunft der Agilolfinger ist kaum zu beantworten, da die gesellschaftliche Elite im Frühmittelalter über die Völkergrenzen hinweg vernetzt und verwandt war. Dass die Agilolfinger zu diesen höchsten Kreisen gehörten, verdeutlicht ihr "Familienname". Derartige, wohl von einem Spitzenahn abgeleitete Namen kamen im Frühmittelalter meist nur Königsfamilien zu. Mit solchen, insbesondere des Langobarden- und Frankenreichs, gingen die Agilolfinger verschiedene Heiratsverbindungen ein und stellten selbst Langobardenkönige. Einzelne frühe Quellenbelege, die den bayerischen Herzögen selbst den Königstitel zuweisen, sind in ihrem realen Gehalt nicht zu verifizieren, begründeten aber ein Geschichtsbild, auf das sich noch 1806 Kurfürst Max IV. Joseph (reg. 1799-1825, ab 1806 als König von Bayern) bei seiner Proklamation zum König berief.
Zur Bezeichnung "Agilolfinger"
Seit dem 17. Jahrhundert pflegt die Geschichtsschreibung die bayerischen Herzöge des Frühmittelalters als Agilolfinger zu bezeichnen. Grundlage dafür ist eine Bestimmung der Lex Baioariorum (III, 1) mit folgendem, aus der Sicht des fränkischen Königs formulierten Inhalt: "Der Herzog aber, der an der Spitze des Volks steht, war immer aus dem Geschlecht der Agilolfinger und muss es sein, weil unsere Vorgängerkönige ihnen zugesichert haben, dass sie einen aus ihrem Geschlecht, der dem König treu und klug war, zum Herzog ernennen, um dieses Volk zu regieren". Diese Aussage darf man allerdings nicht ohne weiteres für bare Münze nehmen: Die Lex Baioariorum war, wie ihre handschriftliche Überlieferung zeigt, bis zum 13. Jahrhundert in Bayern bekannt und verbreitet, und in dieser Zeit gab es zahlreiche Herzöge, die eindeutig nicht der Agilolfingerfamilie angehörten. Rechtsanspruch und Wirklichkeit klafften hier offensichtlich auseinander, und mit dieser Möglichkeit muss man auch im Frühmittelalter rechnen. Für die bayerischen Herzöge des 6. bis 8. Jahrhunderts gibt es neben der Lex keine einzige Quelle, die uns ihre Zugehörigkeit zu einem Geschlecht namens "Agilolfinger" bestätigen würde. Zudem lässt sich der genealogische Zusammenhang zwischen ihnen nur mit großen Lücken und Unsicherheiten rekonstruieren. Dass die Herzöge alle derselben Dynastie entstammten und dass diese mit der Absetzung Tassilos III. (reg. 748-788) bzw. mit dem gleichzeitig erzwungenen Klostereintritt seiner Kinder zu Ende ging, ist also eine auf die Vorschrift der Lex gestützte, plausible Annahme, die aber letztlich nicht gesichert werden kann. Unbekannt bleibt damit auch die Abgrenzung der Familie nach außen sowie das individuelle Selbstverständnis, das heißt die Frage, ob sich wirklich alle Personen, die man als Agilolfinger zu bezeichnen pflegt, selbst als solche betrachtet haben. Man wird demnach gut daran tun, den Namen "Agilolfinger" lediglich als praktischen Hilfsbegriff zu verstehen, mit dem man die bayerischen Herzöge terminologisch zusammenfassen kann.
Herkunft
Der Name leitet sich, wie man annehmen darf, von einem tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Spitzenahn namens Agilolf (o. ä.) ab. Es wurden schon verschiedene Vorschläge zur Identifizierung dieser Person gemacht, etwa mit dem Suebenkönig Agilulf (gest. 457) oder mit dem Langobardenkönig Agilulf (reg. 591-615/16), doch bleiben alle diese Versuche höchst unsicher. Bei den uns bekannten Vertretern der Familie kommt der Name jedenfalls nicht vor. Angesichts der fluktuierenden Verhältnisse der Völkerwanderungszeit ist die ethnische Zuordnung des Geschlechts nicht eindeutig festzulegen, zumal gerade in den höheren Adelskreisen Heiraten über die Völkergrenzen hinweg gang und gäbe waren. Der erste bekannte Bayernherzog Garibald I. (gest. um 590) gehörte zum Gefolge des fränkischen Königs ("unus ex suis": Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I, 21), und von seiner Tochter Theudelinde (gest. 627) heißt es ausdrücklich, sie stamme "aus einem fränkischen Geschlecht" ("ex genere Francorum": Fredegar, Chron. IV, 34) ). Außerhalb Bayerns werden die im fränkischen Rheinland aktiven Adeligen Chrodoald (gest. 624) und Fara (gest. 640) "aus dem edlen Agilolfingergeschlecht" ("de gente nobile Ayglolfingam": Fredegar, Chron. IV, 52) genannt, und im Jahr 756 stirbt Abt Wicpert von St. Martin in Tours, von dem es heißt, er sei ein Bischof aus Bayern und "von Abstammung ein Agilolfinger" ("genere Heilolvingus": Ann. Petaviani, 18) gewesen. Wie diese als Agilolfinger bezeichneten Männer mit den gleichzeitig bekannten Bayernherzögen zusammenhängen, bleibt ungewiss, denn "wo wir Nachrichten über die frühen bayerischen Herzöge haben, gibt es keine Agilolfinger, und wo wir Nachrichten über Agilolfinger haben, gibt es keine bayerischen Herzöge" (Carl I. Hammer).
Hoher Rang
Schon allein die Tatsache, dass sie mit einem gemeinsamen "Familiennamen" benannt werden (was im Frühmittelalter höchst selten vorkommt), ist ein Zeichen für die herausragende Stellung der Agilolfinger. Die zu ihnen gerechneten bayerischen Herzöge gehören von ihrem ersten bekannten Auftreten im 6. Jahrhundert an zur höchsten Adelsschicht in Europa, wie sich besonders an ihren Heiratsverbindungen mit anderen fürstlichen Geschlechtern festmachen lässt. So heiratete der Bayernherzog Garibald I. die langobardische Prinzessin und vormalige fränkische Königin Waldrada, ihre gemeinsame Tochter Theudelinde hätte zunächst mit dem Frankenkönig Childebert II. (reg. 575-596) verheiratet werden sollen, ehelichte dann aber nacheinander die Langobardenkönige Authari (reg. 584-590) und Agilulf (590-615). Der Langobardenkönig Liutprand (712-744) nahm die bayerische Herzogstochter Guntrud (geb. 690) zur Frau, Herzog Tassilo III. die langobardische Prinzessin Liutpirg. Die Herzöge Theobald (gest. um 720) und Grimoald (gest. 728) heirateten hintereinander die vornehme westfränkische Adelige Pilitrud, Herzog Odilo (reg. 736/37-748) die Tochter des fränkischen Hausmeiers Karl Martell namens Hiltrud (gest. 754). Das alles zeigt, dass die Agilolfinger von diesen hochrangigen Familien über die Generationen hinweg als ebenbürtig betrachtet wurden; gleichzeitig lässt sich daran ihre intensive Verstrickung in die europäische Politik vom 6. bis zum 8. Jahrhundert ablesen.
Herzöge oder Könige?
In Bayern sind die Agilolfinger nie über den Herzogsrang hinausgekommen, auch wenn sie ihr Amt phasenweise in quasi-königlicher Selbständigkeit ausfüllen konnten. Der langobardische Chronist Paulus Diaconus (gest. 799) tituliert zwar Garibald I. und Tassilo I. (gest. um 610) als "rex" (König), an anderer Stelle jedoch denselben Tassilo als "dux" (Herzog), und die Unterordnung der beiden Amtsträger unter die fränkischen Könige ist sowohl bei ihm als auch in den zeitgenössischen fränkischen Quellen offensichtlich. Dass Tassilo III. von der Herzogs- zur Königswürde aufgestiegen sein soll, ist erst eine spätmittelalterliche Legende. Noch die Berufung des Kurfürsten Maximilian IV. Joseph (reg. 1799-1825, ab 1806 als bayerischer König) bei seiner Proklamation zum König der "Uns von der Vorsehung anvertrauten Nation" am 1. Januar 1806 auf "den dem vormaligen Beherrscher derselben angestammten Titel eines Königs von Baiern" beruhte auf diesem Geschichtsbild. Immerhin wurde ein Enkel Herzog Garibalds I. namens Aripert (gest. 661) 653 zum langobardischen König erhoben und begründete damit eine Dynastie, die bis 712 vier Generationen lang im Langobardenreich herrschte. Ob sich dieser Zweig der Familie selbst noch als Agilolfinger betrachtete, bleibt jedoch ungewiss. Politisch gehörte der letzte König aus dieser Dynastie, Aripert II. (reg. 701-712) jedenfalls zu den Gegnern der bayerischen Herzöge.
"Falsche" Agilolfinger
Seit dem 12. Jahrhundert wurden durch phantasievolle Quelleninterpretation und großzügiges Kombinieren weitere angebliche Agilolfinger "hinzuerfunden", so dass man teilweise bis zu acht verschiedene Herzöge namens Theodo zählte, während es in Wirklichkeit vermutlich nicht mehr als einen, bestenfalls zwei gegeben hat. Diese Fiktionen konnten von der wissenschaftlichen Quellenkritik des 19. Jahrhunderts identifiziert und ausgeschieden werden. Unsere Kenntnis der familiären Zusammenhänge bleibt aber weiterhin höchst vage und lückenhaft. So gibt es in der Literatur diverse Vermutungen, wo man auf angebliche Agilolfinger nicht nur in Bayern, sondern auch in Alemannien, an der Mosel, am Mittelrhein, in Thüringen und in Sachsen stößt. Verwandtschaftsverbindungen zu den bayerischen Herzögen mag es durchaus gegeben haben; ein Selbstverständnis dieser Leute als Agilolfinger ist dagegen nirgends fassbar.
Literatur
- Roman Deutinger, Das Zeitalter der Agilolfinger, in: Alois Schmid (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte. Das alte Bayern. 1. Teil: Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter (Handbuch der bayerischen Geschichte 1/1), München 2017, 124-212.
- Roman Deutinger, Wer waren die Agilolfinger?, in: Steffen Patzold/Karl Ubl (Hg.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300-1000), Berlin/New York 2014, 177-194.
- Carl I. Hammer, From ducatus to regnum. Ruling Bavaria under the Merovingians and Early Carolingians, Turnhout 2007.
- Jörg Jarnut, Agilolfingerstudien. Untersuchungen zur Geschichte einer adligen Familie im 6. und 7. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 32), Stuttgart 1986.
- Britta Kägler, "Sage mir, wie du heißt". Spätantik-frühmittelalterliche Eliten in den Schriftquellen am Beispiel der frühen Agilolfinger, in: Hubert Fehr/Irmtraut Heitmeier (Hg.), Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, Sankt Ottilien 2012, 183-196.
- Friedrich Prinz, Die Agilolfinger. Bayerns erstes Herzogsgeschlecht, in: Alois Schmid/Katharina Weigand (Hg.), Die Herrscher Bayerns. 25 historische Portraits von Tassilo III. bis Ludwig III., München 2001, 13-28.
- Wilhelm Störmer, Das Herzogsgeschlecht der Agilolfinger, in: Hermann Dannheimer/Heinz Dopsch (Hg.), Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo, München/Salzburg 1988, 141-152.
Quellen
- Lex Baioariorum. Das Recht der Bayern, hg. u. übers. von Roman Deutinger (Editio Bavarica 3), Regensburg 2017.
- Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Langobardicarum, hg. von Ludwig Bethmann/Georg Waitz, Hannover 1878, 12-187.
- Fredegar, Chronicon, hg. von Bruno Krusch (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum 2), Hannover 1888, 1-193.
- Annales Petaviani, in: Monumenta Germaniae Historica SS 1, hg. von Georg H. Pertz, Hannover 1826, 3-19.
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Empfohlene Zitierweise
Roman Deutinger, Agilolfinger, publiziert am 25.10.2018; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Agilolfinger> (3.10.2024)