NS-"Euthanasie"
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Der Begriff NS-"Euthanasie" bezeichnet die in der Zeit des Nationalsozialismus planmäßig begangenen Massenmorde an Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie körperlichen und geistigen Behinderungen. In Bayern fielen ihnen nachweislich über 22.000 Personen zum Opfer. Die Krankenmorde wurden durch verschiedene Mordprogramme organisiert und unterlagen strengster Geheimhaltung. Eine führende Rolle bei der Durchführung und Organisation der Tötungen übernahmen in Bayern das Innenministerium sowie die öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten.
Ideengeschichte
Im 19. Jahrhundert bereiteten zwei ideengeschichtliche Entwicklungen den Weg zum Krankenmord. Auf Basis des aus dem Griechischen stammenden Begriffes "Euthanasie" ("schöner Tod"), der ursprünglich ein schmerzfreies oder auch ehrenvolles Sterben umschrieb, erarbeiteten Mediziner Maßnahmen der Sterbebegleitung. Eine medizinisch induzierte Lebensverkürzung wurde zunächst abgelehnt. Ab 1890 entwickelte sich eine zunehmend öffentliche Diskussion über Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Suizid.
Parallel dazu entwarfen in Deutschland Vertreter unterschiedlicher Fachdisziplinen auf Basis rassentheoretischer und sozialdarwinistischer Theoriebildung das Konzept der "Rassenhygiene" mit dem Ziel, die "deutsche Rasse" aufzuwerten. In Kombination mit der Unterscheidung in "lebenswertes" und "lebensunwertes Leben" bildete dies schließlich die theoretische Grundlage der nationalsozialistischen eugenischen Maßnahmen bis hin zum Krankenmord.
Die Universitätsstadt München etablierte sich mit der 1917 gegründeten Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, die ab 1924 als Kaiser-Wilhelm-Institut weitergeführt wurde und der 1923 reichsweit ersten Professur für "Rassenhygiene" als wichtiger Standort eugenischer Theoriebildung, der später eng in die Medizinverbrechen im Nationalsozialismus verstrickt war.
Entwicklung der gesetzlichen und strukturellen Rahmenbedingungen ab 1933
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurden Schritte eingeleitet, die in die praktische Umsetzung der "Beseitigung lebensunwerten Lebens" mündeten. Der gesamte Prozess wurde intensiv von propagandistischen Maßnahmen begleitet, die den wirtschaftlichen Aspekt der Rassehygiene in den Vordergrund stellten.
Das am 14. Juli 1933 verabschiedete Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses definierte Krankheiten wie "angeborenen Schwachsinn", Schizophrenie, "manisch-depressives Irresein", Epilepsie, Chorea Huntington, aber auch Blindheit, Taubheit, körperliche Missbildungen oder Alkoholismus als erblich und regelte die Unfruchtbarmachung Betroffener durch ein Verfahren vor den eigens hierfür geschaffenen Erbgesundheitsgerichten. Ab diesem Zeitpunkt waren Ärzte verpflichtet, Patienten mit "Erbkrankheiten" den staatlichen Gesundheitsämtern zu melden. Auf Basis dieses Gesetzes wurden im rechtsrheinischen Bayern von 1934 bis 1939 rund 35.000 Personen zwangssterilisiert. Auch wenn dies zu über 70 % Personen außerhalb der Anstaltsbetreuung betraf, waren Anstaltspsychiater als Antragsteller, Gutachter und Mitglieder der Erbgesundheitsgerichte maßgeblich an den Zwangsmaßnahmen beteiligt. Das im Rahmen der Reformpsychiatrie der 1920er Jahre in Erlangen entwickelte System der Außenfürsorge schuf nun mit der Erstellung von Erbgesundheitskarteien eine zentrale Grundlage zur Umsetzung des Gesetzes.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Hilfesystem der Psychiatrie zunehmend erweitert. Bis 1915 gründeten die bayerischen Kreise (ab 1938 Bezirksverbände, ab 1946 Bezirke) insgesamt 16 Kreisirrenanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten im rechtsrheinischen Bayern und in der Pfalz. Die den Kreisregierungen und dem Innenministerium unterstellten Anstalten wurden zum wichtigsten Instrument der "Euthanasie" während der NS-Zeit. Sie dienten seit Kriegsbeginn als Sammelstellen für Pfleglinge der weitgehend geräumten privaten und kirchlichen Anstalten, als Orte der Selektion und als Verfügungsmasse für den immensen Raumbedarf militärischer Institutionen und verschiedener NS-Körperschaften. Mit Unterstützung der Bediensteten in den Heil- und Pflegeanstalten, die die nationalsozialistische Vernichtungspolitik weitgehend mittrugen, wurden die Anstalten schließlich selbst zum Ort des hundertfachen Mordens.
Organisation des Massenmordes

Zur Organisation des Krankenmordes wurde bei der "Kanzlei des Führers" eine Krankenmordzentrale aufgebaut. Um nach außen nicht mit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in Verbindung gebracht zu werden, trat die "Zentraldienststelle T4" (Zentraldienststelle) – benannt nach ihrem Hauptsitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin – in Form von vier Tarnorganisationen auf: Die "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten" (RAG) war für die meldebogenbasierte Erfassung der Anstaltsinsassen zuständig, die "Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege" (Stiftung) verwaltete Gelder und nichtärztliches Personal, die "Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH" (Gekrat) organisierte die Transportlogistik und die "Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten" trat bei Pflegesatzverrechnungen in Erscheinung. Auch der "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" (Reichsausschuss), war als zentrale Dienststelle der Kinder-"Euthanasie" der "Kanzlei des Führers" untergeordnet.
Die Nationalsozialisten nutzten den Beginn des Zweiten Weltkrieges, um die Maßnahmen der "Erb- und Rassenpflege" zu radikalisieren. Anstelle eines formellen Gesetzes verfasste Adolf Hitler (1889-1945) ein einfaches Schreiben, in dem er den Chef der "Kanzlei des Führers", Philipp Bouhler (1899-1945), und seinen Begleitarzt Karl Brandt (1904-1948) anwies, Ärzte mit der Selektion von Kranken für den "Gnadentod" zu beauftragen.
Zu den ausgewählten Gutachtern, die für die Zentraldienststelle tätig waren, zählten mit den Leitern der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Hermann Pfannmüller (1886-1961) und Kaufbeuren, Valentin Faltlhauser (1876-1961) auch renommierte Anstaltsdirektoren aus Bayern. Eine besondere Stellung nahm der Ordinarius an der Würzburger Universitätsklinik, Werner Heyde (1902-1964) ein, der als Obergutachter und schließlich als medizinischer Leiter für die Zentraldienststelle tätig war. Im Rahmen seiner Karriere in der Schutzstaffel (SS) leitete er dazu Selektionen in den Konzentrationslagern (KZ) im Rahmen der "Aktion 14f13".
Trotz des Versuches der Geheimhaltung wurden neben sämtlichen Polizeidienststellen auch Generalstaatsanwälte und die Leiter der Oberlandesgerichte über die NS-"Euthanasie" informiert und zahlreiche Institutionen direkt beteiligt: Die Gekrat nutzte Reichsbahn und Busse der Reichspost für den Transport der Kranken in die Tötungsanstalten, die Gesundheitsabteilungen der Innenministerien der Länder ordneten die Verlegungen von Patienten in Berufung auf die entsprechenden Gauleiter in ihrer Funktion als Reichsverteidigungskommissare an und die staatlichen Gesundheitsämter waren durch die Meldepflicht eng in Zwangssterilisationen und Kinder-und Jugendlichen-"Euthanasie" verstrickt.
Tötungsprogramme
Aktion T4
Die Selektion, Verlegung und Tötung in den reichsweit sechs Gasmordanstalten von insgesamt etwa 70.000 Personen von Januar 1940 bis August 1941 wird als "Aktion T4" bezeichnet. Die über 7.600 Opfer aus Bayern wurden in die Tötungsanstalten Hartheim bei Linz (Österreich), Grafeneck (Württemberg) und Pirna-Sonnenstein (Sachsen) deportiert und dort ermordet. In Bayern selbst befand sich keine Tötungsanstalt. Die staatlichen Heil- und Pflegeanstalten dienten als Sammelstellen für Kranke aus kirchlichen und privaten Anstalten und waren der letzte Aufenthaltsort vor der Deportation. Organisiert wurde die Aktion über die Zentraldienststelle und die Innenministerien der Länder.
Der reichsweit erste Transport im Rahmen von "T4" ging am 18. Januar 1940 von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar in die erste im Reich eingerichtete Tötungsanstalt Grafeneck. Bis Ende 1940 folgten zahlreiche kleinere Transporte aus den Anstalten Eglfing-Haar, Kaufbeuren und Günzburg. Mit der Einbeziehung der Tötungsanstalt Hartheim ab August 1940 begann eine umfangreiche Verlegungswelle von Insassen bayerischer Anstalten dort hin, die bis zur Einstellung von "T4" im August 1941 anhielt. Die Transporte aus den fränkischen Anstalten erfolgten dazu auch nach Pirna-Sonnenstein. Da die Kapazitäten der Tötungsanstalten begrenzt waren, nutzte die in Berlin entwickelte Transportlogistik Anstalten wie Niedernhart bei Linz (Österreich), Großschweidnitz oder Arnsdorf (beide Sachsen) bei Bedarf als Zwischenstationen.
Heil- und Pflegeanstalt | Regierungsbezirk | Gesamtzahl der Deportierten | Zeitraum der Transporte | Ziel (Tötungsanstalt) |
---|---|---|---|---|
Eglfing-Haar | Oberbayern | 2.025 | 18.1.-10.5.1940 | Grafeneck |
30.8.1940-20.6.1941 | Hartheim (darunter 193 psychisch erkrankte Juden aus Bayern) | |||
Günzburg | Schwaben | 319 | 9.10.-22.11.1940 | Grafeneck (über Zwiefalten) |
1.7.1941 | Hartheim | |||
Kaufbeuren-Irsee | Schwaben | 688 | 26.8.-9.12.1940 | Grafeneck |
4.6.-8.8.1941 | Hartheim (über Niedernhart) | |||
Lohr am Main | Unterfranken | 450 | 2.-3.10.1940 | Sonnenstein (über Großschweidnitz) |
4.10.1940 | Hartheim (über Niedernhart) | |||
5.10.1940 | Sonnenstein | |||
13.11.1940 | Grafeneck (über Weinsberg) | |||
Werneck | Unterfranken | 290 | 3.-4.10.1940 | Sonnenstein (über Großschweidnitz und Arnsdorf) |
4.10.1940 | Hartheim | |||
5.-6.10.1940 | Sonnenstein | |||
Ansbach | Mittelfranken | 894 | 25.10.-8.11.1940 | Sonnenstein |
3.12.1940-4.4.1941 | Hartheim | |||
Mainkofen | Niederbayern | 626 | 28.10.1940-4.7.1941 | Hartheim |
Erlangen | Mittelfranken | 908 | 1.-5.11.1940 | Sonnenstein |
22.11.1940-24.6.1941 | Hartheim | |||
Karthaus-Prüll (Regensburg) | Oberpfalz | 641 | 4.11.1940-5.8.1941 | Hartheim |
Gabersee | Oberbayern | 360 | 7.-29.11.1940 | Hartheim (über Niedernhart) |
Kutzenberg | Oberfranken | 404 | 26.11.1940 | Hartheim (über Niedernhart) |
28.2.1941 | Sonnenstein (über Arnsdorf) | |||
17.6.1941 | Hartheim |
"T4" war in großräumig angelegte logistische Planungen eingebettet. Die Auflösung einzelner bayerischer Anstalten wie Bayreuth (Oktober 1940), Werneck (Oktober 1940) oder Gabersee (Januar 1941) ging mit Tötungstransporten einher. Es folgten umgehend die Wiederbelegung der geräumten Anstalten durch Pfleglinge privater und kirchlicher Einrichtungen sowie die gezielte Umnutzung für militärische oder andere Zwecke. Die übergeordneten Planungen bestimmten sowohl den Zeitpunkt wie auch die Route der Todestransporte, die zum Teil über Zwischenanstalten führte. Auch die umfangreichen Verlegungen der Anstaltspfleglinge aus karitativen Einrichtungen dienten der Umnutzung der geräumten Anstalten, sowie der maximalen Auslastung der Anstaltsbetten in den öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten. Die Insassen der karitativen Anstalten wurden auf diesem Weg zu einem Teil über die Heil- und Pflegeanstalten deportiert, zu einem anderen dort im Rahmen der "dezentralen Euthanasie" getötet oder überlebten den Nationalsozialismus.
Ausgehende Anstalt | Landesteil | Zielort der Verlegung (Sammelanstalt) | Anmerkungen |
---|---|---|---|
Pflegeanstalt Attl | Oberbayern | Eglfing-Haar | |
Stiftung Ecksberg | Oberbayern | Eglfing-Haar, Gabersee | |
Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar | Oberbayern | Kaufbeuren-Irsee, Erlangen | Im März 1942 wurden 36 Kinder und Jugendliche in die Kinderfachabteilung Kaufbeuren verlegt, im August 1942 wurden 30 Personen nach Erlangen verlegt. |
Heil- und Pflegeanstalt Gabersee | Oberbayern | Eglfing-Haar | Die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Gabersee wurde im Januar 1941 aufgelöst. |
Regens Wagner Holzhausen | Oberbayern | Kaufbeuren-Irsee | |
St. Paulus-Stift Neuötting | Oberbayern | Eglfing-Haar | |
Assoziationsanstalt Schönbrunn | Oberbayern | Eglfing-Haar, Kaufbeuren-Irsee, Erlangen | |
Barmherzige Brüder Straubing | Oberbayern | Kaufbeuren-Irsee, Mainkofen, Erlangen, Karthaus-Prüll (Regensburg) | |
Pflegeanstalt Deggendorf | Niederbayern | Karthaus-Prüll (Regensburg) | |
Barmherzige Brüder Johannesbrunn | Niederbayern | Eglfing-Haar, Kaufbeuren | |
St. Antoniusheim Münchshöfen | Niederbayern | Mainkofen, Karthaus-Prüll (Regensburg) | |
Pflegeanstalt Taufkirchen an der Vils | Niederbayern | Eglfing-Haar | |
Regens Wagner Lauterhofen | Oberpfalz | Günzburg, Kaufbeuren-Irsee, Erlangen | |
Regens Wagner Michelfeld | Oberpfalz | Erlangen, Karthaus-Prüll (Regensburg) | |
Pflegeanstalt Reichenbach | Oberpfalz | Mainkofen, Erlangen, Karthaus-Prüll (Regensburg) | |
St. Getreu Bamberg | Oberfranken | Erlangen, Ansbach, Kutzenberg | |
Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth | Oberfranken | Ansbach, Erlangen, Kutzenberg | Die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth wurde im Oktober 1940 aufgelöst. |
St. Josefs-Anstalt Burgkunstadt | Oberfranken | Lohr, Kutzenberg | |
Anstalt Himmelkron (Neuendettelsauer Diakonissenanstalt) | Oberfranken | Kutzenberg, Erlangen | |
Heil- und Pflegeanstalt Kutzenberg | Oberfranken | Erlangen | |
Ottilienheim Absberg | Mittelfranken | Erlangen | |
Heil- und Pflegeanstalt Ansbach | Mittelfranken | Kaufbeuren-Irsee | Im August 1942 wurden 30 Kinder und Jugendliche in die Kinderfachabteilung Kaufbeuren-Irsee überführt. |
Bruckberg (Neuendettelsauer Diakonissenanstalt) | Mittelfranken | Günzburg, Ansbach | |
Engelthal (Neuendettelsauer Diakonissenanstalt) | Mittelfranken | Günzburg, Erlangen | |
Barmherzige Brüder Gremsdorf | Mittelfranken | Günzburg, Lohr, Erlangen, Kutzenberg | |
Anstalt Neuendettelsau I (Neuendettelsauer Diakonissenanstalt) | Mittelfranken | Erlangen | |
Anstalt Neuendettelsau Kurheim (Neuendettelsauer Diakonissenanstalt) | Mittelfranken | Erlangen | |
Polsingen (Neuendettelsauer Diakonissenanstalt) | Mittelfranken | Günzburg, Ansbach | |
Heil- und Pflegeanstalt Lohr am Main | Unterfranken | Eglfing, Ansbach | |
Maria Bildhausen Münnerstadt | Unterfranken | Günzburg | |
Heil- und Pflegeanstalt Werneck | Unterfranken | Lohr | Die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Werneck wurde im Oktober 1940 aufgelöst. |
Regens Wagner Glött | Schwaben | Kaufbeuren-Irsee | |
Heil- und Pflegeanstalt Günzburg | Schwaben | Kaufbeuren-Irsee | Die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Günzburg wurde im März 1944 aufgelöst. |
Kloster Holzen (St. Josefskongregation Ursberg) | Schwaben | Kaufbeuren-Irsee | |
Elisabethenstift Lauingen | Schwaben | Günzburg, Kaufbeuren-Irsee, Erlangen | |
Barmherzige Brüder Schweinspoint | Schwaben | Günzburg, Erlangen | |
St. Josefskongregation Ursberg | Schwaben | Eglfing-Haar, Kaufbeuren-Irsee, Erlangen | |
Neuöttingen | Schwaben | Kaufbeuren-Irsee | |
Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster | Pfalz | Eglfing-Haar, Karthaus-Prüll (Regensburg), Kaufbeuren, Bayreuth, Erlangen, Kutzenberg, Werneck, Lohr, Mainkofen, Günzburg, Gabersee, Ansbach, St. Getreu | Die staatl. Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster wurde aufgrund der Grenznähe im September 1939 vollständig geräumt und für militärische Zwecke genutzt. Die Deportationen der Klingenmünster Pfleglinge erfolgte über die anderen Anstalten; ab 1940 wurden von den ursprünglich 1250 Bewohnern und Bewohnerinnen knapp 800 zurückverlegt. |
Heil- und Pflegeanstalt Frankenthal | Pfalz | Klingenmünster, Ansbach, Werneck |
Am Beginn der Aktion stand eine umfangreiche "planwirtschaftliche Erfassung" der Kapazitäten der Anstalten und des "Lebenswertes" der Insassen. Da die Rücksendung der von der Zentraldienststelle versandten Meldebögen durch die Anstalten nicht wie gewünscht erfolgte, füllten schließlich in den meisten Anstalten externe ärztliche Kommissionen unter der Leitung von T4-Gutachtern die Formulare aus. Hierfür wurden die Pfleglinge nicht untersucht, sondern lediglich die Krankenakten eingesehen. Die auf den Meldebögen erfassten Daten bildeten schließlich die Entscheidungsgrundlage für drei Gutachter der T4-Zentrale über den Transport in eine Tötungsanstalt.
Die Transporte wurden über die Gekrat und das Personal der Tötungsanstalten organisiert. Die Anstalten vor Ort waren dafür zuständig, die Kranken für den Transport vorzubereiten und sie an das Tötungskommando zu übergeben. Dies erfolgte in der Regel in Bayern am nächstliegenden Bahnhof beim Einstieg in Sonderwaggons der Reichsbahn, die an fahrplanmäßige Züge angehängt wurden. Lediglich die Transporte zwischen Anstalt und Startbahnhof sowie zwischen Zielbahnhof und Tötungsanstalt wurden über Busse abgewickelt. Die oft zitierten Busse der Gekrat, durch die der Transport zwischen Bahn und Tötungsanstalt organisiert wurde, wurden vermutlich in Bayern aufgrund der weiten Wege nicht eingesetzt. Für den Transport von der Abgabeanstalt zum Startbahnhof waren die Anstalten selbst zuständig und nutzen die bis dahin üblichen Transportmittel.
Es ist anzunehmen, dass die Deportierten direkt am Tag der Ankunft in der Tötungsanstalt in den dortigen Gaskammern getötet wurden. Speziell zur Verwaltung der Morde eingerichtete Sonderstandesämter sandten etwa zwei Wochen später eine Sterbemitteilung an die Angehörigen und das Geburtsstandesamt. Todeszeitpunkt, Todesursache und auch der Name des Standesbeamten waren hierbei gefälscht. Die Angehörigen erhielten zusätzlich einen standardisierten „Trostbrief“, in dem vom plötzlichen Tod berichtet, die Überführung der Urne angeboten und von der Übersendung des Nachlasses abgeraten wurde.
Da eine Geheimhaltung von T4 zunehmend schwieriger wurde, ordnete Hitler am 23. August 1941 die Einstellung der Maßnahmen an.
"Dezentrale Euthanasie"
Auch nach dem Einstellen von "T4" ging das Töten weiter. Die Organisation der Tötungen wurde nun den Innenministerien übertragen, die Auswahl der Personen, die durch überdosierte Medikamentengabe oder gezieltes Verhungern getötet wurden, erfolgte durch die Anstaltsärzte. Die bayerischen Heil- und Pflegeanstalten nahmen bei der Einführung einer Hungerkost für "unheilbar Kranke" eine Vorreiterrolle ein.
Nicht alle Direktoren trugen diese Maßnahme mit. Wie die Sterbezahlen der Heil- und Pflegeanstalten Günzburg und Lohr am Main zeigen, gab es offensichtlich Handlungsspielräume. Auch die Zentraldienststelle lehnte den Hungermord ab, allerdings lediglich zugunsten des Medikamentenmordes. Parallel zur Hungerkost führten die ab 1943 zunehmenden Evakuierungstransporte von Psychiatriepatientinnen und -patienten aus luftgefährdeten Gebieten im Rahmen der "Aktion Brandt" zu extremen Überbelegungen. Auch die hygienischen Verhältnisse verschlechterten sich drastisch.
1943 begann ein Massensterben in den bayerischen Anstalten, das bis über das Ende des Zweiten Weltkrieges anhielt. Die Mortalität in den Anstalten vervierfachte sich von August 1941 bis 1945 von 6,3 auf 24,8 % und übertraf das Hungersterben während des Ersten Weltkrieges bei Weitem. Allein in bayerischen Anstalten fielen mehr als 15.000 Personen dem Hungermord und den katastrophalen Bedingungen in den Anstalten zum Opfer.
Jüdische Opfer der NS-"Euthanasie"
Die ersten Deportationen jüdischer Anstaltsinsassen fanden bereits im Rahmen der frühen Aktion "T4"-Transporte statt, die aus Baden, Württemberg und Brandenburg und aus der schwäbischen Heil- und Pflegeanstalt Günzburg in die Tötungsanstalt Grafeneck gingen. Danach wurde die Tötung der jüdischen Anstaltsinsassen als Sonderaktion organisiert. Selektiert wurde hier ausschließlich unter "rassischen" Gesichtspunkten; die bei der Aktion "T4" relevanten Kriterien wie Diagnose, Arbeitsunfähigkeit oder die Dauer der Anstaltsunterbringung spielten keine Rolle. Auf Basis der bereits im April 1940 erlassenen Meldepflicht für alle jüdischen Anstaltsinsassen, legte eine Verordnung am 30. August 1940 fest, dass alle gemeldeten Patienten in Sammelanstalten verbracht werden sollten.
Für Bayern war dies die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Am 20. September 1940 wurden von dort mindestens 191 jüdische Patienten in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert und dort vergast. Um die Morde zu vertuschen, beurkundete ein imaginäres Sonderstandesamt in Chelm (deutsch: Cholm) bei Lublin (Polen) die Tode zu einem fiktiven Termin.
Obwohl ein Reichserlass im Dezember die Israelitische Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke in Bendorf-Sayn (Rheinland-Pfalz) als künftig einzige Anstalt für jüdische Patientinnen und Patienten festlegte, wurden auch danach noch vereinzelt jüdische Anstaltsinsassen aus anderen Anstalten über das System der KZ- und Vernichtungslager getötet.
Kinder- und Jugendlichen- "Euthanasie"
Die Erfassung kranker Kinder war eine der ersten Maßnahmen in der Vorbereitung des Krankenmordes. Bereits vor Kriegsbeginn erreichte die Landesregierungen am 18. August 1939 ein Runderlass, der eine Meldepflicht für Hebammen und das ärztliche Personal von Geburtshilfeeinrichtungen festschrieb. Gemeldet werden mussten zunächst Kinder bis drei Jahre mit geistiger Behinderung ("Idiotie"), Trisomie 21 ("Mongolismus"), kleinem Kopf ("Mikrocephalie"), einer übermäßigen Ansammlung von Flüssigkeit im Gehirn ("Wasserkopf" oder "Hydrocephalus"), Lähmungen und körperlichen Missbildungen. Ab 1941 wurde die Meldepflicht auf 16 Jahre erweitert. Die Meldungen erfolgten über die staatlichen Gesundheitsämter an den Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingten schweren Leidens (Reichsausschuss) in Berlin. Dort entschieden Werner Catel (1894-1981), Professor für Kinderheilkunde an der Universität Leipzig, Hans Heinze (1895-1983), Leiter der Landesheilanstalt Brandenburg-Görden, und Ernst Wentzler (1891-1973), Leiter einer privaten Kinderklinik in Berlin, als Gutachter über die Einweisung in eine Kinderfachabteilung. Diese erfolgte entweder zur Beobachtung oder zur "Erlösung vom Leiden" – ein Synonym für die Tötung, die in der Regel durch das überdosierte Beruhigungsmittel Luminal erfolgte. Für die beobachteten Kinder erstellte die Ärzteschaft vor Ort einen Meldebogen auf dessen Basis die Gutachter die Entscheidung über Leben oder Tod trafen. Nach der Gründung der ersten Kinderfachabteilung in Brandenburg-Görden im September 1939 wurde das System reichsweit auf über 30 Abteilungen ausgebaut.
Zunächst richtete der Reichsausschuss in der Heil- und Pflegeanstalt Egfling-Haar im Oktober 1940 eine Kinderfachabteilung für die von den staatlichen Gesundheitsämtern in Bayern gemeldeten Kinder ein. Diese wurde im Dezember 1941 durch eine Abteilung in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee und spätestens im Herbst 1942 durch eine weitere Abteilung in der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach ergänzt. Zusätzlich zu den Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen der Aktion "T4" getötet wurden, starben in den bayerischen Kinderfachabteilungen in Eglfing-Haar 332, in Kaufbeuren mindestens 210 und in Ansbach mindestens 150 Kinder und Jugendliche.
Polnische und sowjetische Psychiatriepatienten
Kurz nach dem Überfall auf Polen führten SS-Einsatztruppen und Wehrmacht Massenerschießungen und erste Gasmorde in Anstalten in den eroberten Gebieten durch. Diese Maßnahmen fanden unabhängig von der Zentraldienststelle unter rassischen Gesichtspunkten statt. Zunächst in Polen, nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941 auch dort wurden auf diesem Weg ganze Heil- und Pflegeanstalten geräumt, um Platz für SS-Einheiten und umgesiedelte Baltendeutsche zu schaffen.
Die Zentraldienststelle richtete ihr Augenmerk erst nach Einstellung von "T4" auch auf die psychisch kranken polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter. Bis dahin wurden sie von den Anstalten und Arbeitsämtern einzeln in ihre Heimat zurückgeschickt. Im Mai 1943 wurden die Rückführung untersagt und stattdessen Sonderlager in bestehenden Heil- und Pflegeanstalten eingerichtet. Dort wurden sie entweder direkt getötet oder von dort aus in die Tötungsanstalten überführt. Im Rahmen der Ausbeutung für die Kriegswirtschaft wurde die Diagnose "unheilbar" als Synonym für "arbeitsunfähig" zum einzigen Selektionskriterium für Leben oder Tod.
In Bayern diente zunächst ab Sommer 1943 die Heil- und Pflegeanstalt in Günzburg als Sammelstation, ab September 1944 wurde sie von der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren abgelöst. Auch von anderen bayerischen Heil- und Pflegeanstalten wie Karthaus-Prüll in Regensburg oder Eglfing-Haar gingen ab 1943 Tötungstransporte in die Tötungsanstalt Hartheim ab. Das Schicksal zahlreicher polnischer und sowjetischer Anstaltsinsassen bleibt ungeklärt.
Aktion 14f13
Die "Aktion 14f13" gilt als entscheidender Schritt von den NS-"Euthanasie"-Morden zum Massenmord in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Die Bezeichnung stammt aus dem Aktenplan der SS und steht für "Todesfälle im KZ" (14f) "durch Gas" (13). Durch den Gasmord in den Tötungsanstalten der T4 in Bernburg, Hartheim und Sonnenstein entledigte sich die SS bis Ende 1943 reichsweit 15-20.000 arbeitsunfähiger und aufgrund "Asozialität" in Schutzhaft genommener Häftlingen. Während in anderen Ländern die "Aktion 14f13" bereits parallel zu "T4" anlief, erreichte dieses Vernichtungsprogramm die KZ in Bayern erst im Herbst 1941. Da die SS zu diesem Zeitpunkt weder über ausreichendes Personal noch Einrichtungen verfügte, griff SS-Chef Heinrich Himmler (1900-1945) auf die Infrastruktur der "T4" zurück. Werner Heyde leitete am 3. September 1941 die erste große Selektion durch eine von der Zentraldienststelle entsandte Kommission im KZ Dachau, im Anschluss daran auch im KZ Flossenbürg. Diese erfolgte im Vorbeigehen an den von der Lagerleitung ausgewählten Häftlingen. Anstelle der psychiatrischen Diagnosen rückten nun politische Einschätzungen, die mit "Symptomen" wie "deutsch-feindliches Verhalten" oder "Beziehungen zur englischen Botschaft" beschrieben wurden. Im Gegensatz zu "T4" erfolgte im Rahmen der "Aktion 14f13" in der Berliner Zentrale keine Begutachtung der Meldebögen, sondern lediglich die Erstellung von Transportlisten. Auf dieser Basis fanden 209 Häftlinge aus Flossenbürg in der Tötungsanstalt Bernburg (Sachsen-Anhalt) und mehr als 2.500 Häftlinge aus dem KZ Dachau in der Tötungsanstalt Hartheim den Tod in der Gaskammer.
Medizinische Forschung an Psychiatriepatienten
Die Leiter der "T4" wie auch die Universitätsmedizin nutzten das System der Krankenmorde für medizinische Forschungszwecke. Auch in mindestens drei bayerischen Heil- und Pflegeanstalten fanden solche Studien statt. War es bereits 1933 in der schwäbische Heil- und Pflegeanstalt Günzburg üblich, von verschiedenen Pharmaherstellern zur Verfügung gestellte Arzneimittelproben an Anstaltspfleglingen zu testen, so intensivierte sich die Zusammenarbeit mit der I.G. Farben spätestens ab 1935. 1938 richtete der Chemie-Konzern in der Günzburger Anstalt ein eigenes Laboratorium für Arzneimittelversuche an Epilepsiepatienten ein, das ab 1941 um Elektrokrampf-Versuche und ein Jahr später um Tierversuche erweitert wurde.
1940 berichtete Georg Schaltenbrand (1897-1979), Professor für Neurologie an der Universität Würzburg, in einer medizinischen Fachzeitschrift über Menschenversuche in der unterfränkischen Heil- und Pflegeanstalt Werneck. In der Vorstellung, die Multiple Sklerose sei eine Viruserkrankung, wurde 53 Patienten Liquor von infizierten Affen geimpft, um eine Übertragbarkeit nachzuweisen. Die Studie wurde über die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert und 1943 von Schaltenbrand publiziert. Sehr deutlich verwies er darauf, dass ein solcher Versuch einem "gesunden Menschen oder auch einem Kranken" nicht zuzumuten wäre, er aber die Verantwortung übernehmen könne "derartige Versuche an Menschen zu machen, die an einer unheilbaren, vollkommenen Verblödung leiden."
Auch das Reichsausschussverfahren im Rahmen der Kinder- und Jugendlichen-"Euthanasie" stand von Beginn an im Dienste der Forschung. In Bayern führte Valentin Faltlhauser ab 1942 in Zusammenarbeit mit Georg Hensel (1908-1979), dem Leiter der Kinderheilstätte Mittelberg (Oberallgäu), in der Kinderfachabteilung Kaufbeuren Tuberkulose-Impfversuche an insgesamt 13 Kindern durch. Die Forschungen zur Tuberkulose-Schutzimpfung, die einen Parallelversuch zu Impfversuchen in der Kinderfachabteilung Wittenau darstellten, erfolgten mit Unterstützung des Reichsärzteführers Leonardo Conti (1900-1945). Wie auch bei allen anderen medizinischen Versuchen in bayerischen Heil- und Pflegeanstalten wurden starke medizinische Komplikationen bis hin zum Tod in Kauf genommen. Darüber hinaus wurden zahlreiche Gehirne der in den bayerischen Kinderfachabteilungen getöteten Kinder und Jugendlichen im Rahmen der Hirnforschung von Julius Hallervorden (1882-1965) am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung untersucht. Eine zentrale Rolle spielte hierbei in Bayern die neuropathologische Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München. Unter den Betroffenen sind neben Kindern aus den Kinderfachabteilungen weitere NS-"Euthanasie"-Opfer, wie auch jüdische und nichtjüdische Zivilpersonen aus den besetzten Gebieten, alliierte Kriegsgefangene und Straftäter.
Proteste gegen den Krankenmord
Die Krankenmorde blieben trotz strenger Geheimhaltung der Öffentlichkeit nicht verborgen. Angehörige wandten sich mit ihrer Empörung und ihren Fragen an die Herkunftsanstalten, die Betroffen äußerten zunehmend Ahnungen, was die Transporte für sie bedeuteten und die Geschehnisse wurden zunehmend von Mitarbeitenden in den Anstalten wahrgenommen und kommentiert. Dazu berichteten die Kreisleitungen davon, dass die massenhaften Verlegungen von Patienten in der Nachbarschaft für Aufsehen sorgten. Im mittelfränkischen Absberg führte dies im Februar 1941 sogar zu öffentlichen Tumulten.
Vereinzelt kritisierten Vertreter der Kirchen die NS-"Euthanasie". Während sich die meisten Äußerungen in Denkschriften oder Stellungnahmen niederschlugen, wählte der Münsteraner Bischof Clemens August von Galen (1878-1946) den öffentlichen Protest. Die Predigt, in der er am 3. August 1941 in der Lamberti-Kirche zu Münster deutlich an das in der christlichen Moral begründete Tötungsverbot appellierte und zum Boykott aufrief, stieß auf reges Interesse in der Öffentlichkeit. Zahlreiche Geistliche verbreiteten die Predigt in ihren Gemeinden. Nicht zuletzt die Furcht der Machthaber vor Unruhen in der Bevölkerung führten daraufhin zur Einstellung der "Aktion T4".
Aufarbeitung nach 1945

Erstmals wurden die "Euthanasie"-Morde im Rahmen des "Nürnberger Ärzteprozesses" vom 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947 im Nürnberger Schwurgerichtssaal thematisiert. Unter den 23 Angeklagten waren neben 20 KZ-Ärzten auch Viktor Brack (1904-1948), Leiter der T4-Zentrale in Berlin und der "Euthanasiebevollmächtigte" Karl Brandt (1904-1948). Durch die Ärzteprozesse sollten die Leitfiguren des staatlichen Gesundheitssystems strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden; der internationale Militärgerichtshof erklärte sich nicht für die Strafverfolgung von Verbrechen deutscher Staatsbürger an Deutschen zuständig. Daher blieb die weitere Strafverfolgung der deutschen Ärzteschaft, die in die NS-"Euthanasie"-Morde verstrickt war, den deutschen Gerichten überlassen.
Nach Kriegsende wurden zwar einige bayerische Anstaltsdirektoren wie Hermann Pfannmüller (Eglfing-Haar), Valentin Faltlhauser (Kaufbeuren), Wilhelm Einsle (1887-1961) (Erlangen) oder Paul Reiß (1883-1958) (Regensburg) von den Amerikanern umgehend verhaftet und teilweise für einige Monate interniert, die Strafverfolgung verlief aber schleppend. Trotz zahlreicher eingeleiteter Ermittlungsverfahren gegen die Hauptverantwortlichen in den bayerischen Heil- und Pflegeanstalten wurden lediglich Pfannmüller zu einer fünfjährigen und Faltlhauser zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Alle anderen Verfahren wurden mangels Beweisen oder – vor allem bei späteren Verfahren – wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten eingestellt. Zahlreiche Ärzte waren auch nach 1945 noch in bayerischen Anstalten tätig oder machten weiterhin Karriere. Auch Walter Schultze (1894-1979), Leiter der Abteilung Gesundheitswesen im Bayerischen Staatsministerium des Innern, der wegen "Beihilfe zum Totschlag" 1948 zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, entging dem Vollzug durch Revision und zwölfjährige Prozessverschleppung durch Verhandlungsunfähigkeit.
Einige Ärzte der bayerischen Psychiatrie wie Hermann Müller (1885-1945), Hans Prießmann (1894-1947) und Lothar Gärtner (1902-1945), stellvertretende Direktoren der Heil- und Pflegeanstalten Erlangen, Ansbach und Kaufbeuren oder Gustav Eidam (1908-1945), Leiter der Kinderfachabteilung in Eglfing-Haar, entzogen sich der Strafverfolgung durch Selbstmord.
Obwohl die "Aktion T4" unbestritten als erste systematische Vernichtungsaktion des NS-Regimes gilt und sowohl Personal wie auch Tötungstechnologien im Rahmen der Shoah Kontinuität fanden, begann eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung erst Ende der 1970er Jahre durch eine neue Generation von Mitarbeitenden in psychiatrischen Anstalten und die grundlegenden Arbeiten des Publizisten Ernst Klee (1942-2013). Die Verantwortung der Bayerischen Anstaltspsychiatrie wurde 1999 erstmals umfassend in einem Sammelband von Michael von Cranach (geb. 1941) und Hans-Ludwig Siemen (geb. 1954) aufgezeigt. Hierauf gründeten sich zahlreiche universitäre Forschungsprojekte, die zumeist von den medizinhistorischen und -ethischen Fakultäten getragen werden.
Vertreter von Betroffenenverbänden wie die Arbeitsgemeinschaft Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten kämpfen um die Gleichstellung der Opfer mit anderen Verfolgten des Nationalsozialismus und damit um gesellschaftliche und politische Anerkennung.
Mahnhmal von Josef Gollwitzer (1917-2006) für die Opfer der "Euthanasie" im Bezirkskrankenhaus Haar während der NS-Zeit. (Foto: Rudolph Buch, gemeinfrei via Wikimedia Commons)
Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Kaufbeuren von Roman Harasymiw (geb. 1957) und Peter R. Müller (geb. 1944). Das Denkmal symbolisiert durch die abstrahierten drei Köpfe die Opfergruppen der Shoa, der "Euthanasie" und der Zwangsarbeit in Kaufbeuren. Initiiert und durchgeführt wurde das Projekt von der Jugendgruppe "Die Salzstreuer". (Foto: Marius secundus, gemeinfrei via Wikimedia Commons)
Literatur
- Norbert Aas, Die "Aktion T4" in Bayern [Veröffentlichung in Vorbereitung].
- Norbert Aas, Kalendarium der "T4"-Transporte aus bayerischen Heil- und Pflegeanstalten, in: Brigitte Kepplinger/Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3), 3. Auflage, Linz 2013, 319-323.
- Norbert Aas, Von der Logistik des Todes. Die Verlegungen von bayerischen Anstaltskranken nach Schloss Hartheim (August 1940 bis August 1941), in: Brigitte Kepplinger/Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese (Hg.): Tötungsanstalt Hartheim (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3), 3. Auflage, Linz 2013, 261-317.
- Rainald Becker, Nationalsozialistische Zwangssterilisation und "Euthanasie" in Bayern. Historische Entwicklungen und aktuelle Forschungsbefunde, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 74 (2011), 269-293.
- Udo Benzenhöfer, Kindereuthanasie in der NS-Zeit unter besonderer Berücksichtigung von Reichsausschussverfahren und Kinderfachabteilungen, Ulm 2020.
- Michael von Cranach/Hans-Ludwig Siemen (Hg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, 2. Auflage, München 2012.
- Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg 1998.
- Maike Rotzoll/ u.a. (Hg.), Die nationalsozialistische "Euthanasie"-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010.
- Thomas Schmelter, Nationalsozialistische Psychiatrie in Bayern. Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalten, Bergtheim bei Würzburg 1999.
- Hans Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung "lebensunwerten Lebens" (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75), 2. durchges. Auflage, Göttingen 1992.
- Winfried Süß, Der Wiederbeginn der Patientenmorde in den Regionen. Bayern, in: Ders. (Hg.), Der "Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1945 (Studien zur Zeitgeschichte 65) München 2003, 319-327.
Quellen
NS-Euthanasie-Morde lassen sich mittels verschiedener Quellen fassen. Von zentraler Bedeutung ist die Überlieferung "Kanzlei des Führers, Hauptamt IIb" im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde mit dem Krankenaktenbestand der "Aktion T4" (R 179). Mittels Patientenakten sowie Zu- und Abgangsbücher der verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten in Bayern lassen sich Einzelschicksale von Euthanasie-Opfern rekonstruieren. Weitere Hinweise können in Staatsarchiven (Prozessakten der Staatsanwaltschaften, Akten der Erbgesundheitsgerichte) oder kirchlichen Archiven (Diözesanarchive oder Landeskirchliches Archiv, Pfarrarchiv) gefunden werden.
- Gedenkbuch Bundesarchiv
- Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren
- Patientenakten im Archiv des Bezirks Oberbayern
Externe Links
- Anlaufstelle für Angehörige von Opfern der NS-"Euthanasie" bei den Bezirkskliniken Mittelfranken
- Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen "Euthanasie" und Zwangssterilisation
- Bezirksklinikum Mainkofen, Euthanasie-Morde und Gedenkstätte
- Erinnerungskultur
- Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistsichen "Euthanasie"-Morde
- Gedenkstätte Grafeneck
- Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein
- Isar-Amper-Klinikum, Information zur Akteneinsicht. Zum Umgang mit Akten von Menschen, die Opfer der NS-Patientenmorde wurden.
- Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim
- NS-"Euthanasie"-Aufarbeitung
- Opfer der NS-Euthanasie
Weiterführende Recherche
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Euthanasie
Empfohlene Zitierweise
Katrin Kasparek, NS-"Euthanasie", publiziert am 24.01.2025; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/NS-"Euthanasie"> (19.02.2025)