Afrakult
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Die Verehrung einer Augsburger Märtyrerin namens Afra lässt sich historisch gesichert bis auf merowingische Zeit zurückführen; der archäologische Befund legt sogar eine Kultkontinuität ab dem 4. Jahrhundert nahe. Der Legende nach soll es sich bei Afra um eine ehemalige Prostituierte gehandelt haben, die sich unter dem Einfluss eines Bischofs namens Narcissus zum Christentum bekehrte und darauf im Rahmen der diokletianischen Verfolgung das Martyrium auf einer Lechinsel erlitt. Ihre Kultstätte ist topographisch mit der heutigen Basilika St. Ulrich und Afra in Augsburg verbunden. Afras Verehrung ist frömmigkeitsgeschichtlich insbesondere im Bistum Augsburg von Bedeutung, dessen Patronin sie neben den heiligen Bischöfen Ulrich und Simpert ist.
Frühe Verehrung und Historizität
Die ältesten Anhaltspunkte für die Verehrung einer Märtyrerin namens Afra in Augsburg stammen aus merowingischer Zeit. In seinem Versepos "Leben des heiligen Martin" (von Tours) schildert Venantius Fortunatus (um 540–600/610) eine Reise vom Grab Martins in Tours (Frankreich) nach Ravenna (Italien). Wenn der Leser – von Paris, Reims und Soissons (alle Frankreich) herkommend – Rhein und Donau überquert habe, gelange er nach Augsburg und solle "dort die Gebeine der heiligen Märtyrerin Afra" verehren, bevor ihn sein Weg durch das Gebiet der "Baiovarii" weiter in Richtung Italien führe. Da der Dichter schon zehn Jahre zuvor, um 565, bei seiner Reise von Ravenna nach Tours naheliegenderweise Augsburg passierte, dürfte sein Bericht über einen Augsburger Afrakult auf eigener Anschauung beruhen.
Einen merowingischen Märtyrerkult an der Stelle der heutigen Basilika St. Ulrich und Afra legt auch der archäologische Befund nahe. Im Umkreis des bestehenden Kirchenbaus ist eine Nekropole christlicher Romanen fassbar, deren Anfänge in konstantinische Zeit (ca. 320/330) zurückreichen. Die Gruppierung von Gräbern des 4. Jhs. mit kostbaren Grabbeigaben unterhalb der Basilika selbst deutet auf eine Bestattung ad sanctos, d. h. in der Nähe eines Märtyrergrabes, hin, zumal sich in diesem Bereich auch die spätere Beisetzung von klerikalen und säkularen Angehörigen der merowingischen Elite fassen lässt. Ein frühmittelalterliches Steinfundament (6./7. Jh.) im Bereich des Gräberfelds ist schließlich als Kirchengebäude gedeutet worden und legt eine Märtyrermemoria an dieser Stelle nahe.
Unterschiedlich beurteilt wird dagegen der Quellenwert der Angaben zu Afra im Martyrologium Hieronymianum. Über den Entstehungskontext dieses kalendarischen Märtyrerverzeichnisses ist in der Forschung bisher keine Einigkeit erzielt worden: Datierungsvorschläge reichen von der Mitte des 5. bis zum frühen 7. Jahrhundert; sowohl Norditalien als auch Auxerre und Luxeuil (Frankreich) wurden als Entstehungsort in Betracht gezogen. Die ursprüngliche Fassung des Textes hat sich zudem nicht erhalten; sie ist nur noch indirekt über drei vorkarolingische Handschriften des 8. Jahrhunderts zugänglich, die allerdings mitunter erheblich voneinander abweichen – auch im Eintrag zu Afra: Eine solche Märtyrerin verzeichnen für den 7. August, den später fest etablierten Gedenktag der Heiligen, immerhin zwei der drei Handschriften, wobei nur eine von ihnen den Kultort eindeutig mit dem schwäbischen Augsburg (anstelle anderer Städte mit dem lateinischen Namen Augusta) identifiziert. Der Befund wird außerdem dadurch relativiert, dass die drei Handschriften für den Vortag das Martyrium einer Frau bzw. eines Mannes namens Afra in Rom verorten. Zwei der Handschriften erwähnen schließlich für den 5. August das Martyrium eines gewissen Afer, wobei sich die Ortsangabe auf Augsburg genauso wie auf Trier (Rheinland-Pfalz), Kaiseraugst, Aosta (beide Schweiz) oder Turin (Italien) beziehen lässt. Die mehrdeutige Überlieferung im Martyrologium Hieronymianum hat Teile der Forschung dazu veranlasst, die Historizität der verehrten Heiligen insgesamt infrage zu stellen. Das Zeugnis des Venantius Fortunatus und der archäologische Befund bleiben davon jedoch unberührt.
Was sich historisch somit fassen lässt, ist der merowingische Kult einer Märtyrerin namens Afra in Augsburg. Der archäologische Befund legt nahe, den frühmittelalterlichen Kultort der Heiligen vor den Toren der antiken Stadt im Bereich der heutigen Basilika St. Ulrich und Afra zu verorten. Dass sich die dortige Bestattung ad sanctam bis in konstantinische Zeit zurückverfolgen lässt, deutet auf eine Kontinuität des Augsburger Märtyrerkults ab dem 4. Jh. und damit die Historizität der Märtyrerin hin. Bemerkenswert ist freilich, dass das christliche Gräberfeld im Bereich der heutigen Basilika jünger ist als die verehrte Heilige und somit in Reaktion auf ihr bereits vorhandenes Grab angelegt worden sein dürfte.
Im Dunkel der Geschichte verlieren sich dagegen Lebens- und Todesumstände Afras. Unsicher ist bereits, ob ihr Name ursprünglich nur eine (nord)afrikanische Herkunft bezeichnete. Außerdem geht die Verortung des Martyriums unter Diokletian (ca. 230-305) ebenso wie das legendarisch gezeichnete Bild einer "bekehrten Hure" auf hagiographische Topoi zurück, deren historischer Gehalt ungewiss ist.
Entstehung und literarisches Fortleben der Afra-Legende
Mit dem Kult verbunden ist die hagiographische Überlieferung zu Afra. Aus dem Frühmittelalter stammen die Conversio, die in Verbindung mit der längeren Fassung der Passio überliefert ist, sowie eine kürzere Fassung der Passio. Conversio und längere Passio dienten im Hoch- und Spätmittelalter als Vorlage für eine metrische Fassung und deutsche Bearbeitungen des Stoffes.
In der neueren Forschung werden die Anfänge der Afra-Legende bereits in merowingischer Zeit verortet. Umstritten ist allerdings, ob die kürzere Fassung der Passio durch einen (karolingischen) Redaktor zu Conversio und längerer Passio umgearbeitet wurde oder die kürzere Passio im Gegenteil auf eine nicht mehr erhaltene, bereits in merowingischer Zeit entstandene Fassung der längeren Passio zurückgeht. Die Conversio erzählt die Bekehrung der heiligen Afra und ihrer Dienerinnen ausgehend von einer Begegnung mit Bischof Narcissus, die längere Passio das darauffolgende Verhör der Bekehrten vor einem römischen Beamten, ihren Martertod auf einer Lechinsel und das anschließende Martyrium ihrer Mutter Hilaria und ihrer Dienerinnen. Die kürzere Passio wird dagegen ohne die romanhafte Conversio überliefert. Sie beschränkt sich auf die Wiedergabe des Verhörs und vermerkt ohne die ausschmückenden Angaben der längeren Passio Afras Feuertod. Ob die älteste Gestalt der Passio durch die Notiz zu Afra im Martyrologium Hieronymianum inspiriert wurde oder umgekehrt ist kaum zu entscheiden.
Wie bereits die handschriftliche Überlieferung zeigt, ist die Wirkungsgeschichte der Afra-Legende vor allem durch die längere Passio mit Conversio bestimmt. Aufgegriffen wird der Stoff etwa bei Flodoard von Reims (893/894-966), in einer metrischen Fassung Altmanns von St. Florian (12. Jh.) und in etlichen spätmittelalterlichen deutschen Bearbeitungen.
Afraverehrung im frühen und hohen Mittelalter
Die Bedeutung Afras für die Augsburger Bischöfe der Karolingerzeit wird an Grabstätten in unmittelbarer Nähe der Afra-Memoria deutlich, die sich nach dem inschriftlichen Befund den Bischöfen Uodalman (Bischof ca. 830-833), Witgar (Bischof ca. 861-887) sowie einem weiteren Bischof – möglicherweise Adalpero (Bischof ca. 887-909) – zuweisen lassen. Außerhalb Augsburgs wird die Afraverehrung dieser Zeit vor allem in Kalendarien und Litaneien fassbar, so etwa in Kalendarien der Klöster in Fulda (Hessen) und St. Gallen (Schweiz) sowie des Klosters Lorsch (Hessen), das vom Augsburger Bischof Adalpero Reliquien der Heiligen erhält. In der Heiligenlitanei Ludwigs des Deutschen (804/805-876) wird neben Afra auch ihre Mutter Hilaria erwähnt. Auch für Le Mans (Frankreich) ist ein Afrakult nachweisbar.
In ottonischer Zeit erhält der Afrakult Impulse zunächst durch Bischof Ulrich von Augsburg (923-973) selbst. Dessen Biograph, Gerhard von Augsburg (10. Jh.), berichtet von zwei nächtlichen Visionen, in denen dem Bischof die Märtyrerin erscheint. Die erste Vision (zwischen 923 und 936) legitimiert politische Entscheidungen Ulrichs, die zweite ist nach der sogenannten "Schlacht auf dem Lechfeld" (955) zu datieren: Ulrich will die von den Ungarn zerstörte Afrakirche wieder aufbauen und im Zuge dessen das Grab der Heiligen ausfindig machen. Das Grab wird ihm zwar in der Vision offenbart, Baumaßnahmen an dieser Stelle jedoch mit Verweis auf die Wahrung der Totenruhe untersagt. Folgt man der Hausüberlieferung des Klosters Einsiedeln (Schweiz), soll Ulrich außerdem Reliquien Afras, ihrer Mutter und ihrer Dienerinnen dorthin geschenkt haben.
Die Mehrzahl der Kultzeugnisse des 10. Jahrhunderts fällt in dessen letztes Viertel, was nahelegt, dass die weitere Verbreitung des Afrakults in Verbindung mit der beginnenden Ulrichsverehrung erfolgte. Im 11. Jahrhundert begegnet Afra erneut in Kalendarien und Litaneien, wobei erstmals auch Kalendarien aus dem Augsburger Bistumsgebiet vorliegen. Dort scheint Afra nach und nach den Märtyrer Donatus von Arezzo (4. Jh.), der ebenfalls am 7. August verehrt wird, verdrängt zu haben. Afra-Reliquien werden für die bischöfliche Hofkapelle in Bamberg, das Kloster Thierhaupten (Lkr. Augsburg), die Kapelle der heiligen Magdalena, Martha und Afra bei St. Emmeram in Regensburg und das Kloster im elsässischen Maursmünster (Marmoutier) (Frankreich) erwähnt. Außerdem ist bereits für diese Zeit von Afra-Patrozinien in Meißen (Sachsen) und in einer Kapelle des Augsburger Hofs in Regensburg auszugehen.
Vor 1054 verfasste der Reichenauer Mönch Hermann der Lahme (1013-1054) ein Afra-Offizium, das vor allem in Klöstern der Hirsauer Reform (darunter auch die Abtei St. Ulrich und Afra in Augsburg) verbreitet gewesen sein dürfte. Als unter Bischof Embricho (1010-1077) im Jahr 1064 die über der Afra-Memoria erbaute Kirche neu gebaut wurde, wurden Quellen des zwölften Jahrhunderts zufolge die Gebeine Afras, ihrer Mutter und ihrer Dienerinnen gefunden und feierlich erhoben. Teile der gefundenen Reliquien scheinen in der Folgezeit nach Benediktbeuern (Lkr. Bad Tölz - Wolfratshausen), Allerheiligen (bei Schaffhausen, Schweiz), Regensburg, Bamberg, Petershausen (Baden-Württemberg), Speyer (Rheinland-Pfalz) und möglicherweise Köln (Nordrhein-Westfalen) verbracht worden zu sein.
Die hochmittelalterliche Verehrung Afras reicht weit über das Einflussgebiet des Bistums Augsburg hinaus. So ist die Märtyrerin etwa in Kalendarien des 12. Jahrhunderts aus Köln, Trier und Bamberg regelmäßig vertreten. Afra-Reliquien begegnen in dieser Zeit außerhalb des Bistums Augsburg auch in den Nachbarbistümern Konstanz und Freising sowie in den Bistümern Bamberg, Basel, Salzburg, Worms und Brixen. Hilaria und die Dienerinnen der Afra werden dagegen selbst im Augsburger Bistumsgebiet nicht durchgängig verehrt. Ihre Reliquien waren allerdings in auffallender Zahl im Bistum Freising verbreitet. Als Patronin klösterlicher Gemeinschaften wird Afra seit dem Hochmittelalter vor allem von Frauengemeinschaften gewählt.
Afra-Offizium Hermanns des Lahmen aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in einer Handschrift aus Prüfening von circa 1140 (BSB Clm 23037#Mikroform, fol. 239v-240r). (Bayerische Staatsbibliothek)
Sarkophag der heiligen Afra in der Krypta von St. Ulrich und Afra, Augsburg (Foto: Mogadir lizenziert durch CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons, bearbeitet)
Der Afra-Kult vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit
Im Spätmittelalter begegnet Afra oft in Darstellungen der Augsburger Bistumspatrone; mitunter wird sie zusammen mit Maria Magdalena dargestellt. Die zeitgenössische Kunst macht zudem die Darstellung Afras am Marterpfahl populär, während in älteren Darstellungen in der Regel nur der Flammentod gezeigt wird.
In der frühen Neuzeit bleibt der Afra-Kult vor allem in schwäbischen Territorien populär. Dass Afra allerdings auch als "bayerische" Heilige wahrgenommen werden konnte, zeigt sich etwa an der von Herzog Maximilian I. (1573-1651; Herzog ab 1597, Kurfürst ab 1623) in Auftrag gegebenen und vom Jesuiten Matthaeus Raeder (1561-1634) verfassten "Bavaria sancta", in deren erstem Band neben der Gottesmutter als Schutzpatronin Bayerns und Lucius, Maximilian und Florian auch Afra dargestellt wird.
Ausgangspunkt für Afra-Jubiläumsfeiern, die spätestens ab dem 17. Jahrhundert fassbar sind, ist das aus der Conversio abgeleitete Todesjahr 304. Die 1500. Wiederkehr des Martyriums fiel demnach in die kurze Zeitspanne zwischen der Aufhebung der Reichsabtei St. Ulrich und Afra im Zuge der Säkularisation (1802) und der Mediatisierung und Angliederung der Reichsstadt Augsburg an Bayern (1806). Im Rahmen einer Festwoche wurden Afras Gebeine erhoben und von etwa 100.000 Besuchern in St. Ulrich und Afra verehrt; vom zuständigen Bürgerausschuss wurden die Feierlichkeiten dezidiert unter zeit- und aufklärungskritische (und damit letztlich bayernkritische) Vorzeichen gestellt. Das Jubiläum 1904 fand dagegen in deutlich bescheidenerem Rahmen statt.
In den liturgischen Kalendern des 20. Jahrhunderts – vor wie nach den innerkatholischen liturgischen Reformen der 60er Jahre – bleibt die Verehrung Afras auf das Bistum Augsburg und das Erzbistum München und Freising beschränkt. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ist ein signifikanter Rückgang der Afra-Verehrung im Bistum Augsburg an der Umwidmung vormaliger Doppelpatrozinien in ein Einzelpatrozinium fassbar, wobei Afra jeweils entfällt. Einen erneuten Aufschwung erlebte der Kult der Bistumspatronin allerdings mit dem Jubiläumsjahr 2004. Von lokalen Patroziniumsfeiern abgesehen konzentriert er sich heute vor allem auf das Augsburger Stadtgebiet und die Wallfahrtskirche "im Felde".
St. Ulrich und Afra und St. Afra im Felde
Zentraler Ort des Afrakults war und ist die Afra (und seit 993 auch Ulrich) gewidmete Kirche im Süden der Augsburger Innenstadt. Dem heutigen, ab 1467 als Meisterwerk spätgotischer Architektur entstandenen Kirchenbau gingen mehrere Vorgängerbauten voraus: Ein frühmittelalterlicher Bau wurde bei den Ungarneinfällen 955 zerstört und von Bischof Ulrich wieder aufgebaut. Ende des 11. Jahrhunderts wurde das bestehende Gotteshaus durch einen frühromanischen Kirchenbau ersetzt. In der heutigen Kirche ist Afra einerseits durch den ihr geweihten nördlichen Choraltar präsent, der oberhalb einer Pfingstdarstellung den Flammentod der Märtyrerin zeigt; andererseits werden die Gebeine der Märtyrerin seit 1962 in der Krypta der Kirche aufbewahrt.
Zwischen Augsburg und Friedberg (Lkr. Aichach-Friedberg) liegt außerdem die Wallfahrtskirche St. Afra im Felde, die am Ort des Martyriums der Heiligen errichtet worden sein soll. Umstritten ist, ob sich bereits seit der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts ein Kirchenbau an entsprechender Stelle befand. Erstmals urkundlich belegt ist das Patrozinium 1350. 1495/1509 musste die Kirche nach einem Sturm wieder aufgebaut werden und diente in der Folgezeit als Wallfahrtskirche, die von der Reichsabtei St. Ulrich und Afra unterhalten wurde. Nach Zerstörung des Baus durch schwedische Truppen im Dreißigjährigen Krieg war für das Afra-Jubiläum 1704 ein Neubau geplant, der wegen des Spanischen Erbfolgekriegs jedoch erst 1712 fertiggestellt wurde. Nach der Säkularisation wurde die Kirche zu einem Pulvermagazin umgebaut und nach dem Rückerwerb 1877 nur teilweise wiederhergestellt. Im Gefolge der liturgischen Reformen nach dem II. Vatikanischen Konzil wurde der frühere Hochaltar durch eine zeitgenössische Afra-Statue ersetzt.
Bischof Narcissus tauft Afra, ehemaliges Altarbild, 1878, St. Afra im Felde, Friedberg (Joachim Schäfer, Ökumenisches Heiligenlexikon lizenziert duch CC BY-NC-SA 4.0)
Afra-Patrozinien als Stationskirchen
Mehr als die Hälfte der für das Gebiet des heutigen Bistums Augsburg nachweisbaren Afra-Patrozinien liegt in auffälliger Nähe zu Römerstraßen, die nach Augsburg führten. Dies gilt etwa für die Kirchen in Eggenthal, Betzigau (beide Lkr. Ostallgäu), Spötting (bei Landsberg am Lech), Graben (Lkr. Augsburg), Spatzenhausen (Lkr. Garmisch-Partenkirchen), St. Afra im Felde und möglicherweise das Afra-Patrozinium in Todtenweis (Lkr. Aichach-Friedberg). Zumindest in einem Teil der Fälle dürfte es sich deshalb um frühmittelalterliche Stationspatrozinien auf dem Weg zum Augsburger Afragrab handeln.
Abgeleitete Heiligenkulte in Augsburg und Girona
Der Redaktor, auf den die Conversio und längere Passio Afras zurückgehen, kündigt als dritten Teil seines "Märtyrerromans" (W. Berschin) die Passio des Bischofs Narcissus und des ihn begleitenden Diakons Felix an, die nach Afras Bekehrung in Girona (Spanien) missionarisch drei Jahre tätig gewesen seien, bevor sie ebenfalls das Martyrium erlitten hätten. Dieser dritte Teil ist allerdings nicht erhalten, wahrscheinlich nie geschrieben worden. Die Notiz hat gleichwohl einen Narcissuskult in Girona motiviert, der ab dem 11. Jahrhundert greifbar wird und nach der Auffindung der Gebeine Afras 1064 zu einem mehrere Jahrzehnte andauernden, regen Austausch zwischen Augsburg und dem katalanischen Bischofssitz führte: 1066 und 1087 gelangten nach entsprechender Anfrage Reliquien des Narcissus von Girona nach Augsburg, während die in Schwaben vermisste Passio ausweislich des Begleitschreibens auch in Katalonien nicht aufzufinden war. Um 1100 erkundigte man sich schließlich von Girona aus nach dem Todesdatum des in der Conversio genannten, durch Narcissus geweihten Augsburger Bischofs Dionysius, das von den Augsburgern jedoch nicht beigebracht werden konnte. Noch 1446 bemühte sich der Augsburger Patrizier Sebastian Ilsung auf einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela (Spanien) – allerdings vergeblich – in Girona um Reliquien des Taufbischofs der Augsburger Märtyrerin.
Der hagiographischen Lücke, die sich aus dem Fehlen einer Narcissus-Passio ergab, nahm sich zwischen 1124 und 1150 schließlich ein Konventuale der Abtei St. Ulrich und Afra an. Die von ihm redigierte Passio hat sich im "Hausbuch" der Augsburger Abtei (heute Wien, ÖNB ms. 573) erhalten, scheint jedoch bis ins Spätmittelalter keine Verbreitung über Augsburg hinaus gefunden zu haben.
Zu den lokalen Auswirkungen des Augsburger Afrakults gehört auch die Gründung einer Sodalität der Schneider am 18. Juli 1603, die unter das Patronat des Narcissus und Dionysius gestellt wurde. Sie ist die letzte der um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert errichteten Zunftbruderschaften in der Augsburger Dompfarrei, deren Gründung den nachtridentinischen Reformbemühungen unter den Fürstbischöfen Johann Otto von Gemmingen (1591-1598) und Heinrich von Knöringen (1598-1646) zuzurechnen ist.
Literatur
- Walter Berschin, Die älteste erreichbare Textgestalt der Passio S. Afrae, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 46 (1981), 217-224.
- Thomas Groll, Schwäbische Heilige als Augsburger Bistumspatrone, in: Rolf Kießling/Dietmar Schiersner (Hg.), Erinnerungsorte in Oberschwaben. Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis (Forum Suevicum 8), Konstanz 2009, 183-224.
- Monique Goullet, Conversion et passion d'Afra d'Augsbourg. Réouverture du dossier et édition synoptique des versions longue et brève, in: Revue bénédictine 121 (2011), 94-146, erneut abgedruckt in: Dies., L'hagiographie est un genre introuvable. Études d'hagiographie latine (VIe-XIe s.), Paris 2022, 209-262.
- Anscari Manuel Mundó, LʼAutenticitat del sermó d’Oliba de Vic sobre sant Narcís de Girona, in: Annals de l’Institut d’Estudis Gironins 22 (1974), 97-114.
- Walter Pötzl, Die Anfänge der Ulrichsverehrung im Bistum Augsburg und im Reich, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 7 (1973), 82-115.
- Friedrich Prinz, Die heilige Afra, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 46 (1981), 211-215; erneut abgedruckt in: Ders., Mönchtum, Kultur und Gesellschaft: Beiträge zum Mittelalter; zum sechzigsten Geburtstag des Autors, hg. von Alfred Haverkamp/Alfred Heit, München 1989, 245-250.
- Manfred Weitlauff/Melanie Thierbach (Hg.), Hl. Afra. Eine frühchristliche Märtyrerin in Geschichte, Kunst und Kult (= Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 38), Augsburg 2004 (vgl. darin besonders die Beiträge von B. Schimmelpfennig, W. Berschin, L. Bakker, W. Pötzl, H. Raab, M. Thierbach, D. Hiley u. K. Schlager/T. Wohnhaas sowie den Katalogteil).
- Bernhard Schimmelpfennig, War die hl. Afra eine Römerin?, in: Stuart Jenks (Hg.), Vera lex historiae. Studien zu mittelalterlichen Quellen: Festschrift Dietrich Kurze, Köln 1993, 277-303; erneut abgedruckt in: Ders., Papsttum und Heilige. Kirchenrecht und Zeremoniell: ausgewählte Aufsätze, hg. von Georg Kreuzer, Neuried 2005, 433-458.
- Gregor Wurst, Das Bistum Augsburg in der Spätantike: zum Stand der Forschung, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 48 (2014), 1-15.
Quellen
- Conversio et passio Afrae, in: Bruno Krusch (Hg.), Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici et antiquiorum aliquot (I) (MGH Scriptores rerum Merovingicarum 3), Hannover 1896, 41–64.
- Venantius Fortunatus, Vita S. Martini, in: Friedrich Leo (Hg.), Venanti Honori Clementiani Fortunati presbyteri Italici Opera poetica (MGH Auctores antiquissimi 4,1), Berlin 1881, 293-370.
Externe Links
Weiterführende Recherche
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Empfohlene Zitierweise
Matthias Simperl, Afrakult, publiziert am 12.10.2023, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Afrakult> (10.12.2024)