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Nationalpark Bayerischer Wald

Aus Historisches Lexikon Bayerns

von Ute Hasenöhrl

Flugblatt für die Errichtung des Nationalparks Bayerischer Wald (1966), aus: Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Nationalpark Bayerischer Wald. Eine Landschaft wird Nationalpark. Grafenau 1993, 103, Holzschnitt von Heinz Theuerjahr. (H. G. Theuerjahr)

Der über 24.000 Hektar große Nationalpark Bayerischer Wald wurde am 7. Oktober 1970 als erster Nationalpark Deutschlands ins Leben gerufen. Mit dem angrenzenden tschechischen Nationalpark Šumava (Nationalpark seit 1991) bildet er heute das größte Waldschutzgebiet Mitteleuropas. Seine Genese war konfliktreich. Der feierlichen Eröffnung im Rahmen des Europäischen Naturschutzjahrs 1970 war eine mehrjährige Kampagne von Naturschutzvereinen vorausgegangen. Durch die systematische Mobilisierung der öffentlichen Meinung war es dabei gelungen, den Nationalpark gegen erhebliche Widerstände der staatlichen Forstverwaltung und der privaten Forstwirtschaft durchzusetzen. Nicht nur die Genese, auch die Weiterentwicklung des Nationalparks nach dem Prinzip „Natur Natur sein zu lassen“ (Hans Bibelriether, 1991) war kontrovers. So löste die „Borkenkäferfrage“ seit den 1980er Jahren heftige Debatten in der Region aus. Die wechselvolle Geschichte des Nationalparks Bayerischer Wald gewährt damit Einblicke in den Wandel des Naturverständnisses in der Nachkriegszeit.

Vorgeschichte und Auslöser der Nationalparkkampagne

Die Idee, großräumige Naturlandschaften für kommende Generationen zu bewahren, war bei der Gründung des Nationalparks Bayerischer Wald bereits fast hundert Jahre alt. 1872 war im US-amerikanischen Yellowstone-Gebiet der erste Nationalpark überhaupt entstanden. 1909 folgte in Schweden der erste Nationalpark in Europa. Ein Nationalpark im Bayerischen Wald wurde erstmals Ende der 1930er Jahre unter dieser Begrifflichkeit diskutiert. Die Reichsstelle für Naturschutz unter der Leitung des Zoologen Lutz Heck (1892–1983) hatte 1938 ein Nationalpark-Programm aufgelegt, um typisch „deutsche“ Kulturlandschaften zu schützen – darunter auch den Bayerischen Wald als Teil eines größeren Nationalparks „Böhmerwald“. Im Vordergrund stand dabei allerdings weniger ein strenger Naturschutz als vielmehr die Sicherung großer Erholungsgebiete für das „deutsche Volk“ – und nicht zuletzt eine physische wie symbolische Aneignung der 1938 annektierten sudetendeutschen Gebiete. Obgleich bereits weit gediehen, mussten die Planungen 1942 kriegsbedingt zurückgestellt werden und wurden nach 1945 zunächst nicht wieder aufgegriffen. Ein strenger „konservierender“ Naturschutz galt in den ökonomischen Boomjahren nicht mehr als zeitgemäß, vielmehr betonten die meisten Naturschützerinnen und Naturschützer nun, die Natur solle „vor dem Menschen für den Menschen“ erhalten werden.

Auch im Falle des Bayerischen Waldes war der Auslöser für die Nationalparkkampagne nicht grundsätzlicher, sondern eher profaner Natur. Der Bayerische Wald gehörte auch nach dem Zweiten Weltkrieg zu den ärmsten Regionen des Landes. Um den Fremdenverkehr und damit die Wirtschaftsentwicklung anzukurbeln, planten die Bayerwaldgemeinden die bisher unberührten Gipfel des inneren Bayerischen Waldes (Rachel, Lusen) mit Seilbahnen und Skiabfahrten zu erschließen. Um dies zu verhindern, schlug der Naturschutzbeauftragte für Niederbayern, Hubert Weinzierl (geb. 1935, Regierungsbeauftragter für Naturschutz in Niederbayern 1965–1972), 1966 die Errichtung eines Nationalparks als alternativen Tourismusmagneten vor. Die Idee fand bei wichtigen Institutionen rasch Anklang. Zusammen mit Bund Naturschutz in Bayern, Deutschem Naturschutzring und Zoologischer Gesellschaft Frankfurt a.M. (Hessen) gründeten die Landkreise, Städte und Gemeinden der Region, inzwischen abgerückt von ihrem ursprünglichen Plan, am 26. August 1967 einen „Zweckverband zur Förderung des Projektes Nationalpark Bayerischer Wald“. Auch mehrere Parteiorganisationen, darunter der SPD-Landesverband Bayern sowie die CSU-Landtagsfraktion, sprachen sich nach anfänglichem Zögern für das Unterfangen aus.

Der Bayerische Wald – Naturraum und Ökologie

Zonierung des Nationalparks Bayerischer Wald. (© Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald)

Naturräumlich waren die Voraussetzungen für einen Nationalpark günstig, aber nicht optimal. Der Bayerische Wald zählt zusammen mit dem angrenzenden tschechischen Böhmerwald zu den größten geschlossenen Waldgebieten Mitteleuropas. Aufgrund des unwirtlichen Klimas mit bis zu sieben Monaten Schnee in den Höhenlagen gehörte der Gebirgsgürtel zu den als letztes besiedelten Regionen Mitteleuropas. Doch auch hier hatte Mitte des 19. Jahrhunderts eine planmäßige Forstwirtschaft eingesetzt. Ursprünglich Mischwälder mit hohen Anteilen von Tannen und Buchen, verschob die forstwirtschaftliche Nutzung die Zusammensetzung der Baumarten zugunsten der schnell wachsenden Fichte.

Auch die Fauna des Bayerischen Waldes änderte sich. Um Rothirsche als Jagdtrophäen heranzuziehen, waren die Wildbestände überhegt worden. 1972 lebten nach Schätzung des Biologen und Forstwissenschaftlers Hans Bibelriether (geb. 1933, Leiter der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald 1978–1998), damals Leiter des Nationalparkamtes Bayerischer Wald, vier- bis sechsmal so viele Hirsche und Rehe im Bayerischen Wald als noch vor 200 Jahren. Trotzdem eine Reihe vormals einheimischer Tierarten wie Luchs, Bär, Biber oder Elch verschwunden oder stark dezimiert worden waren, wies der Bayerische Wald aber eine überdurchschnittliche Biodiversität auf – heute tummeln sich im Nationalpark fast 14.000 Tier- und Pflanzenarten. Alles in allem handelte es sich beim Bayerischen Wald also Mitte der 1960er Jahre in weiten Teilen um einen Wirtschaftswald, in dem jährlich rund 68.000 Festmeter Holz geerntet wurden. Ein Fünftel des Gebiets, vorwiegend die Hochwälder und Moore, befand sich aber nach wie vor in einem naturnahen Zustand. Der im Rachel-Lusen-Gebiet anvisierte Nationalpark sollte eine Fläche von ca. 13.000 ha umfassen. Das Gebiet befand sich bereits vollständig in Staatsbesitz und war weitgehend siedlungsfrei, sodass größere Ablösungszahlungen nicht notwendig waren.

Auf Wildtiersafari im Bayerischen Wald?

Um den Wald ging es in der Nationalparkkampagne zunächst kaum. Nicht ein ökologischer Biotopschutz, sondern die Errichtung einer Tierfreistätte stand 1966/67 im Mittelpunkt. Für diesen Schwerpunkt war vor allem der Zoologe und Tierschützer Bernhard Grzimek (1909-1987, Direktor des Zoos in Frankfurt a.M. 1945–1974) verantwortlich, der das Projekt als Deutschlands populärster Naturschützer zunächst nach außen vertrat. Grzimeks Konzept sah die Pflege und Ansiedelung großer Säuger und Vögel vor – und appellierte damit geschickt an die Tierliebe der Bürgerinnen und Bürger. Mit dem Versprechen, die Gäste des Nationalparks könnten Tiere ungestört in der freien Wildbahn beobachten, bediente der Ansatz der Tierfreistätte zugleich die touristischen Hoffnungen der Bayerwaldgemeinden, in denen man von Afrika-ähnlichen Fotosafaris träumte.

Die (Medien)Kampagne für den Nationalpark Bayerischer Wald

Postkarte "In freier Wildbahn im Bayerischen Wald - Zukünftiger Deutscher Nationalpark". Damit wurde der Nationalpark als Tierfreistätte beworben. (© Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald)

Mit diesem Ansatz trafen die Naturschützer den Nerv der Zeit. Nach einer Infratest-Umfrage sprachen sich 1967 88 % der befragten Bundesbürger und sogar 91 % der Bayern für einen Nationalpark im Bayerischen Wald aus. Die Nationalparkkampagne setzte bewusst auf eine Mobilisierung der Öffentlichkeit. Hierfür nutzte man zum einen Medienformate wie Grzimeks populäre Fernsehsendung „Ein Platz für Tiere“ (Hessischer Rundfunk, 1956–1987) und kooperierte mit illustrierten Zeitschriften wie Gong oder Hörzu. Zum anderen wurde die Bevölkerung direkt um Mithilfe gebeten – via Leserbriefe, Behördenschreiben und Unterschriftensammlungen, aber auch durch Geldspenden im Rahmen der Patenschaftsaktion „Tiere für den Nationalpark“. Diese medien- und öffentlichkeitsorientierte Vorgehensweise war für den traditionell eher auf Bittschriften, Gutachten und Lobbyarbeit setzenden deutschen Naturschutz fast schon revolutionär. Speziell in Bayern leitete die Nationalparkkampagne einen Strategiewandel hin zur „Ökobewegung“ der 1970er Jahre ein („Ohne die lautstarke Hilfe der Öffentlichkeit, glaube ich, werden wir uns in Zukunft im Naturschutz kaum durchsetzen können.“ Weinzierl, 1968).

Kritiker und Opponenten – Forstwirtschaft, Jäger, Naturpark-Bewegung

Trotz der breiten medialen und öffentlichen Zustimmung stieß die Nationalparkkampagne von mehreren Seiten auf Widerstand. Selbst die Haltung des Naturschutzes war uneinheitlich. Renommierte Organisationen wie der Deutsche Rat für Landespflege, die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald oder der Verband Deutscher Naturparke hielten den Bayerischen Wald als für einen Nationalpark ungeeignet. Sie argumentierten, das Gebiet sei zu klein und zu stark vom Menschen überformt. Außerdem befürchteten sie einen Interessenkonflikt zwischen der Schutzfunktion des Nationalparks und dem durch Besuchermassen zu erwartenden "Rummel". Als Alternative schlugen sie die Gründung eines Naturparks vor – ein Ansatz, der Naturschutz mit Erholung und Regionalentwicklung zu verbinden suchte, allerdings mit weniger Einschränkungen in der ökonomischen Nutzung.

Am entschiedensten wandten sich Fortwirtschaft und Jagd gegen das Vorhaben – von den Forstbehörden vor Ort bis hinauf zum Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (MELF). Grzimeks Konzept einer Tierfreistätte stieß hier auf wenig Gegenliebe. Die beabsichtigte Pflege heimischer Wildbestände wie Rothirsch, Reh, Fuchs oder Marder sowie die Wiederansiedlung vormals heimischer Tierarten wie Elch, Wisent, Wildpferd, Wildschwein, Biber, Bär oder Luchs werde zu „Waldverwüstungen großen Stils“ führen und die Natur des Bayerischen Waldes verfälschen. Die ersten Äußerungen der Nationalparkbefürworter hatten Befürchtungen reichlich Nahrung geboten, im Nationalpark werde die Fauna auf Kosten der Flora umhegt. Die Vorstellung von Nationalparken als großflächigen Tiergehegen mit Beobachtungsgarantie dominierte aufgrund des großen Medienechos lange die öffentliche und politische Debatte – auch dann noch, als sich in der fachlichen Diskussion längst differenziertere Konzepte durchgesetzt hatten. Die inhaltliche Fokussierung auf (Groß)Wildtiere erwies sich damit als zweischneidig. Mit dem Konzept der Tierfreistätte ließ sich zwar großes öffentliches Interesse generieren, für die praktische Umsetzung bot es aber viel zu viele Angriffspunkte.

Das Haber-Gutachten

Die Wende leitete hier das sog. Haber-Gutachten ein. Ende 1967 hatte der Deutsche Rat für Landespflege ein externes Gutachten in Auftrag gegeben, um den Streit um den Nationalpark in ein sachlicheres Fahrwasser zu lenken. Der Landschaftsökologe Wolfgang Haber (geb. 1925) galt als Koryphäe seines Fachs und wurde von beiden Seiten als unabhängiger Experte akzeptiert. Das am 2. Februar 1968 veröffentlichte Haber-Gutachten ermöglichte eine Annäherung der festgefahrenen Positionen, indem es die zentrale Streitfrage, ob das Gebiet später als National- oder Naturpark designiert werden solle, offenließ und stattdessen konkrete Empfehlungen für die Umsetzung eines „großräumigen Vollnaturschutzgebiets“ unterbreitete. Dazu gehörte die Konzentration der touristischen Angebote auf die Randzonen des Schutzgebiets, die Einrichtung von fünf Großwildschaugehegen (Rothirsch, Wildschwein, Bär, Wisent, Elch), eine Beschränkung des freilebenden Großwilds sowie eine naturnahe Ausrichtung der Holzwirtschaft. Nachdem damit Konsens über die Eckpunkte des Projekts bestand, gab das Land- und Forstwirtschaftsministerium seine Fundamentalopposition ab Mitte 1968 ebenfalls auf. Die parlamentarische Zustimmung zur Errichtung eines Nationalparks im Rachel-Lusen-Gebiet fiel am 11. Juni 1969 schließlich einstimmig. Kurz vorher hatte sich auch Ministerpräsident Alfons Goppel (CSU, 1905–1991, Ministerpräsident 1962–1978), der sich in der causa Nationalpark bislang öffentlich zurückgehalten hatte, erstmals klar für das Projekt ausgesprochen.

Minister Eisenmann und die Inauguration des Nationalparks im Europäischen Naturschutzjahr

Bernhard Grzimek (hinten; 1909-1987, Direktor des Zoos in Frankfurt a.M. 1945–1974), Hans Eisenmann (links; CSU, 1923–1987, Landwirtschaftsminister 1969–1987) und Hans Bibelriether (geb. 1933, Leiter der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald 1978–1998) bei der Eröffnungsfeier des Nationalparks. (© Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald)
Mehrfach besuchten Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann (CSU, 1923–1987, Landwirtschaftsminister 1969–1987) und Nationalparkleiter Hans Bibelriether (geb. 1933, Leiter der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald 1978-1998) Windwürfe. Letztlich wurde beschlossen, in den Naturzonen nicht mehr einzugreifen. (© Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald)

Von entscheidender Bedeutung für die Verwirklichung des Nationalparks waren – neben der anhaltenden Unterstützung durch die Öffentlichkeit – vor allem zwei Faktoren: die Ankündigung des Europarates, 1970 ein Europäisches Naturschutzjahr (ENJ) durchzuführen, und der Personalwechsel an der Spitze des Land- und Forstwirtschaftsministeriums am 11. März 1969. Hans Eisenmann (CSU, 1923–1987, Landwirtschaftsminister 1969–1987) war im Gegensatz zu seinem Vorgänger Alois Hundhammer (CSU, 1900–1974, Landwirtschaftsminister 1957–1969) ein entschiedener Fürsprecher des Nationalparks. Eisenmann hatte die Potentiale erkannt, die der populäre Nationalpark für die öffentliche Wahrnehmung und Selbstdarstellung des Freistaats (sowie seiner eigenen Person) als moderne, zukunftsorientierte Institution besaß – und dies zu vergleichsweise geringen Kosten. Das ENJ 1970 bot den idealen Rahmen. Die Staatsregierung war bemüht, sich europaweit an die prestigeträchtige Spitze der Umweltpolitik zu setzen. Am 8. Dezember 1970 richtete der Freistaat mit dem Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen das erste Umweltministerium der Welt ein (auch wenn der Schwerpunkt der Aktivitäten zunächst klar auf der Landesentwicklung lag). Und auch der Nationalpark Bayerischer Wald diente der Profilierung der bayerischen Politik im vielversprechenden neuen Aktionsfeld des Natur- und Umweltschutzes. Seine Eröffnung am 7. Oktober 1970 wurde entsprechend öffentlichkeitswirksam als Volksfest zelebriert und inszeniert. Der Nationalpark sollte dabei eine vierfache Aufgabenstellung erfüllen und Naturschutz, Forschung, Tourismus und Bildung gleichermaßen befördern.

Die Weiterentwicklung des Nationalparks Bayerischer Wald

Organigramm der Nationalparkverwaltung. (© Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald)

In der Praxis erwies es sich als äußerst anspruchsvoll, dieser vierfachen Aufgabenstellung des Nationalparks gerecht zu werden. Dies lag auch an Rechtsstatus und Verwaltungsstruktur. Zwar oblagen Planung und Verwaltung des Nationalparks von 1969 bis 1998 dem Nationalparkamt unter Leitung von Oberforstmeister Hans Bibelriether (geb. 1933, Leiter des Nationalparkamtes 1969–1978, Leiter der Nationalparkverwaltung 1978–1998), Stellvertreter war der Förster Georg Sperber (geb. 1933). Für Wild und Wald waren aber weiterhin die Forstämter zuständig. Hinzu kam, dass große Teile des Nationalparks zunächst ohne speziellen Schutzstatus blieben. In der Gründungsphase des Nationalparks Bayerischer Wald waren Nationalparke in Deutschland als Schutzkategorie noch nicht gesetzlich definiert; dies sollte in Bayern erst 1973 im Zuge der Neufassung des Bayerischen Naturschutzgesetzes erfolgen (in Anlehnung an die Kriterien der International Union for Conservation of Nature, IUCN). Eine verbindliche Verordnung für den Nationalpark war von Minister Eisenmann ebenfalls nicht erlassen worden – hätte diese doch den Übergang der Nationalparkverwaltung aus dem MELF in das Umweltministerium bedeuten können. Dieser halboffizielle Schwebestatus, der erst 1987 mit dem Erlass einer eigenen Nationalparkverordnung beendet wurde, erschwerte es, den Vorrang des Arten- und Biotopschutzes gegenüber anderen Ansprüchen (z. B. Holzwirtschaft, Jagd) durchzusetzen. Die Nationalparkverwaltung mit Sitz in Grafenau und heute (2021) rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist seit 2003 als Sonderbehörde des Umweltministeriums organisiert.

In der Aufbauphase des Nationalparks stand die Förderung des Fremdenverkehrs eindeutig im Vordergrund – durchaus mit Erfolg. Die Übernachtungszahlen der umliegenden Gemeinden vervierfachten sich nahezu bis Ende der 1970er Jahre von 0,7 Mio. (1969) auf circa drei Millionen (1980). 1977 gab rund ein Drittel der Besucher an, der Nationalpark sei für die Wahl des Urlaubsortes von Bedeutung gewesen. Auch der Naturschutz selbst machte unter dem Leitsatz „Natur Natur sein lassen“ beachtliche Fortschritte. Die Nationalparkfläche konnte stark ausgedehnt werden, zuletzt 1997 im Falkenstein-Rachel-Gebiet auf insgesamt 24.250 Hektar. Ausgestorbene Tierarten wie Luchs, Habichtskauz, Kolkrabe oder Uhu wurden erfolgreich wieder angesiedelt, gefährdete Arten wie das Auerhuhn in ihrem Bestand gestützt, die überhöhten Schalenwildbestände (Paarhufer wie Rotwild, Rehwild, Gamswild, Muffelwild etc.) dem Habitat angepasst, Moore und Gewässer renaturiert.

Die „Borkenkäferfrage“ – „Natur Natur sein lassen“?

In den 1990er Jahren beginnt die Massenvermehrung des Borkenkäfers im Lusen-Rachel-Bereich. Das Bild, das sich ergibt, ist für die Bevölkerung nur schwer zu ertragen. Die Nationalparkverwaltung erntet große Kritik für die Philosophie „Natur Natur sein lassen“. Anfangs kommt die neue Baum-Generation nur langsam nach. (© Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald)

Umstritten war und blieb die Holznutzung im Nationalpark bis in die Gegenwart (2021). Bibelriether hatte bereits 1972 auf einer Sturmfläche damit experimentiert, den Wald sich selbständig erneuern zu lassen. Als am 1. August 1983 ein Sturm hektarweise Bäume umriss (über 100 ha Fläche, über 50.000 Festmeter), konnte die Nationalparkverwaltung Minister Eisenmann hier die Erfolge dieser Vorgehensweise zeigen. Der Minister soll daraufhin beschlossen haben: „Wir lassen die Bäume liegen. Wir wollen im Nationalpark einen Urwald für unsere Kinder und Kindeskinder.“ Bis 1992 wurde im Zuge dieser Maßnahmen die reguläre Forstwirtschaft im Nationalpark fast vollständig beendet. Lediglich auf einem 500 Meter breiten Grenzstreifen dürfen zum Schutz der angrenzenden Wirtschaftswälder vom Borkenkäfer befallene Bäume gefällt werden.

Ein besonders kontroverser Streitpunkt war (und blieb) der Umgang mit dem Borkenkäfer, wie die Debatten um die Erweiterung des Nationalparks im Falkenstein-Rachel-Gebiet zwischen 1995 und 1997 exemplarisch zeigen. Genährt von Befürchtungen, die Laissez-Faire-Politik in Bezug auf den Borkenkäfer im Nationalpark könne zur Zerstörung der Wälder am Großen Falkenstein führen, kam es in den betroffenen Gemeinden zu heftigen Zerwürfnissen. In der Gemeinde Frauenau stimmten im April 1996 in einem Bürgerentscheid sogar 73 % der Wahlberechtigten gegen die Nationalpark-Erweiterung. Letztlich erfolglos, da die Kommunen kein Mitbestimmungsrecht in dieser Causa hatten (ein weiterer Kritikpunkt, der erst 2006 durch die Einführung eines Kommunalen Nationalparkausschusses behoben wurde) und sich Spitzenpolitiker wie Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU, geb. 1941, Ministerpräsident 1993–2007) für die Ausweitung aussprachen.

Die „Borkenkäferfrage“ erregte auch weiterhin die Gemüter. In neuerer Zeit entspannten sich die Fronten allerdings etwas, nachdem erkennbar geworden ist, dass sich der abgestorbene Wald verjüngt und der Tourismus offenbar nicht merklich beeinträchtigt wurde. Im Laufe seiner mittlerweile über fünfzigjährigen Geschichte trugen die Erfahrungen im und mit dem Nationalpark Bayerischer Wald maßgeblich dazu bei, das gesellschaftliche Verständnis von Natur und Umwelt zu erweitern und zu modifizieren. Damit stieg nicht zuletzt auch die Bereitschaft, Nationalparke nicht nur als gepflegte Wildnis zuzulassen, sondern auch die unberechenbaren Aspekte von Natur zu respektieren und ein Stück weit zu akzeptieren.

Forschungsstand

Der Nationalpark Bayerischer Wald gehört zu den besterforschten Schutzgebieten in Deutschland. Neben zahlreichen regionalökonomischen und naturwissenschaftlichen Studien liegt auch eine Reihe historischer Arbeiten vor, die sich ganz oder teilweise mit der Geschichte dieses Schutzgebiets beschäftigen. Herauszuheben sind hier zum einen Gisela Kaglers Dissertation zum „Diskurs um Wildnis“, zum anderen der zum 50-jährigen Jubiläum des Nationalparks erschienene Sammelband „Urwald der Bayern“, der neben geschichts-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Artikeln auch Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zur Geschichte der Nationalparke jenseits des Bayerischen Walds sei speziell auf den Sammelband „Civilizing Nature“ verwiesen, der das Thema aus einer globalgeschichtlichen Perspektive beleuchtet.

Literatur

  • Sandra Chaney, Nature of the Miracle Years. Conservation in West Germany, 1945-1975, New York/Oxford 2008.
  • Bernhard Gissibl/Sabine Höhler/Patrick Kupper (Hg.), Civilizing Nature. National Parks in Global Historical Perspective, New York 2012.
  • Ute Hasenöhrl, Zivilgesellschaft und Protest. Eine Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung in Bayern 1945–1980 (Umwelt und Gesellschaft 2), Göttingen 2011.
  • Marco Heurich/Christof Mauch (Hg.), Urwald der Bayern. Geschichte, Politik und Natur im Nationalpark Bayerischer Wald, München 2020.
  • Gisela Kangler, Der Diskurs um ‚Wildnis‘. Von mythischen Wäldern, malerischen Orten und dynamischer Natur, Bielefeld 2018.
  • Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald (Hg.), 50 Jahre Nationalpark. Nationalpark Bayerischer Wald (1970-2020), Grafenau 2020.

Quellen

Externe Links

Weiterführende Recherche

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Empfohlene Zitierweise

Ute Hasenöhrl, Nationalpark Bayerischer Wald, publiziert am 29.06.2021, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Nationalpark_Bayerischer_Wald> (19.04.2024)