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Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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von Felix Bellaire

Sinti und Roma waren in Bayern ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert einer besonders repressiven Politik ausgesetzt. Die Polizeidirektion München nahm deutschlandweit eine Führungsrolle bei der Durchführung  antiziganistischer Maßnahmen ein. Aufbauend auf vorangegangenen Diskriminierungen wurden Sinti und Roma in der NS-Zeit zunächst entrechtet und vor allem ab 1938 in Konzentrationslager deportiert. Bis zum Ende der NS-Herrschaft wurden hunderttausende Sinti und Roma aus ganz Europa ermordet, unter ihnen auch solche aus Bayern.

Zur Begriffsdefinition

"Sinti" und "Roma" sind die gebräuchlichen Selbstbezeichnungen für die Nachfahren einer Volksgruppe, die vor über 1.000 Jahren aus dem Nordwesten Indiens nach Europa abwanderte. Die Begriffe entstammen dem mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandten Romanes, welches von den Angehörigen der Minderheit (im Folgenden als Sinti und Roma bezeichnet) neben der jeweiligen Landessprache als zweite Muttersprache gesprochen wird. Als "Sinti" bezeichnet man meist die Teilgruppe, die seit Beginn des 15. Jahrhunderts in Mitteleuropa beheimatet ist. "Roma" nennt man gemeinhin die seit dem Mittelalter in Ost- und Südosteuropa lebenden Menschen dieser Volksgruppe, wobei "Roma" oder "Rom" außerhalb des deutschen Sprachraums auch als Sammelbegriff für die gesamte Minderheit verwendet wird. Der Begriff "Zigeuner" geht bis ins Mittelalter zurück. Als oft pejorativ gebrauchte und von Vorurteilen und Klischees überlagerte Fremdbezeichnung wird er mittlerweile abgelehnt. In der Vergangenheit wurde er von der Mehrheitsgesellschaft weniger als ethnische Kategorie gebraucht, sondern auch pauschal zur Bezeichnung anderer sozial gefasster Gruppen von Reisenden oder "Fahrendem Volk", etwa der Jenischen, verwendet, denen eine ähnliche, nicht sesshafte Lebensweise attestiert wurde. Wegen der Schwierigkeit der Unterscheidung richteten sich die seit dem Kaiserreich gegen "Zigeuner" erlassenen Bestimmungen deshalb meist auch gegen alle sonstigen reisenden Gruppen am Rand der Gesellschaft. Erst die Nationalsozialisten konstruierten mit großem Aufwand und pseudowissenschaftlichen Methoden eine eigene "Rasse" mit besonderen äußeren Merkmalen und vermeintlich vererbbaren Eigenschaften und verfolgten die so willkürlich als "Zigeuner" definierten Menschen erbarmungslos.

Historischer Hintergrund

Fahrende Leute bei München-Forstenried, vermutlich 1912. (Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, Archiv Kester)

Sinti und Roma wurden seit ihrem Erscheinen in Europa im Spätmittelalter immer wieder zum Ziel von Ausgrenzung und Verfolgung. Dem lag eine Stigmatisierung durch teils sehr langlebige Vorurteile zugrunde, welche von Kulturlosigkeit und Arbeitsscheu bis hin zu einem Hang zu Bettelei und Kriminalität reichten und der Obrigkeit oftmals zur Legitimierung von Repressionsmaßnahmen diente. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich zudem ein rassistischer Antiziganismus, der pseudowissenschaftliche Belege für die seit langem tradierten Stereotype und Negativzuschreibungen zu liefern suchte. Mit der Lebenswirklichkeit der meisten Sinti und Roma hatten die Klischees der Mehrheitsbevölkerung zwar meist wenig zu tun, hatten aber langfristig fatale Folgen für sie. Eine zentrale Frage des ab Ende des 18. Jahrhunderts geführten gesellschaftlichen "Zigeunerdiskurses" in Mitteleuropa war, ob die Sinti und Roma durch Sesshaftmachung "zivilisiert" werden könnten. In der Praxis standen einer solche Bestrebung allerdings meist die Unwilligkeit der einzelnen Gemeinden entgegen, zuziehende "Zigeuner" dauerhaft aufzunehmen. Auch die rechtliche Gleichstellung der deutschen Sinti und Roma nach der Reichsgründung 1870/71 blieb Formalität: Eine Verschärfung der Gesetzgebung in den 1880er Jahren zielte darauf ab, ausländische "Zigeuner" möglichst auszuweisen und reichsangehörige Fahrende am − für den Erwerb ihres Lebensunterhalts oftmals unverzichtbaren − Reisen zu hindern. Zudem wurden die staatlichen Bemühungen einer möglichst umfassenden Kontrolle und erkennungsdienstlichen Erfassung von Sinti und Roma vorangetrieben. In der Weimarer Republik setzte sich dies mit dem Ausbau einer Sondergesetzgebung fort, die zunehmend mit rassistischen Beschreibungsmustern arbeitete und eine lückenlose Erfassung aller "Zigeuner" anstrebte. Die Nationalsozialisten konnten 1933 so bereits auf ein umfangreiches und seit Jahrzehnten weiterentwickeltes rechtliches Instrumentarium zu deren Verfolgung zurückgreifen, die auch in der latent antiziganistisch eingestellten Gesellschaft auf Zuspruch fußte. Sie verschärften darüber hinaus ihr Vorgehen gegenüber Sinti und Roma, wobei vor allem die rassistische Definition der "Zigeuner" als "minderwertige Fremdrasse" im Vordergrund stand. Nach Kriegsbeginn 1939 radikalisierten sich die Verfolgungsmaßnahmen noch einmal drastisch und zielten schließlich auf die Auslöschung von als "Zigeuner" definierten Menschen im Deutschen Reich und den von der Wehrmacht besetzten Gebiete ab.

Frühe Maßnahmen gegen Sinti und Roma in Bayern

Schematische Darstellung der Herkunft von vier verschiedenen Familien durch den bayerischen "Zigeunernachrichtendienst". Abbildung aus: Kriminalistische Monatshefte. Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis. Heft 1, Januar 1927. (Bayerische Staatsbibliothek, 4 Crim. 153 r-1)

Sinti und Roma waren seit jeher in allen deutschen Ländern einer repressiven Politik ausgesetzt, die bayerischen Institutionen nahmen ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert bei der Verschärfung und Koordinierung dieser Maßnahmen allerdings eine führende Rolle ein. 1899 wurde bei der Polizeidirektion München der "Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf die Zigeuner" (kurz "Zigeunerzentrale") eingerichtet, dessen Aufgaben die Erfassung und Überwachung der Minderheit waren. Aus den gesammelten Daten wurde unter der Leitung des Polizeipräsidenten Alfred Dillmann (1849-1924) im Jahr 1905 ein sogenanntes Zigeuner-Buch erstellt, welches umfangreiche Daten zu 3.350 Personen sowie alle bestehenden antiziganistischen Vorschriften enthielt. Sechs Jahre später (1911) berief das Innenministerium eine "Zigeunerkonferenz" ein, an der auch Vertreter anderer deutscher Länder teilnahmen. Die Konferenz trieb die Kriminalisierung und planmäßige Überwachung von Fahrenden sowie von Sinti und Roma weiter voran. Das 1926 vom Landtag verabschiedete Gesetz zur "Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen" (GVBl. 1926, S. 359), welches unter anderem die Zwangseinweisung in Arbeitshäuser vorsah, definierte den Begriff "Zigeuner" erstmalig rassistisch und diente reichsweit als Vorbild. Auch waren in den meisten deutschen Ländern mittlerweile Landeszentralen eingerichtet, die die Erfassung der Sinti und Roma zur Aufgabe hatten. Die Polizeidirektion München fungierte weiterhin als Hauptnachrichtensammelstelle aller deutschen Länder zur Bekämpfung der vermeintlichen "Zigeunerplage" und führte die "Deutsche Zentralkartei über Zigeuner und Landfahrer".

Zahlen und Berufsfelder

Zu Beginn der NS-Diktatur lebten schätzungsweise 20.000 Sinti und Roma im Deutschen Reich (1939: etwa 30.000 im Reichsgebiet mit Österreich und Sudetenland). Die − oft nicht eindeutig zu erfassende − Gruppe war sehr heterogen und entgegen den gängigen Klischees in vielen Berufszweigen vertreten. Einige Mitglieder übten zwar noch das tradierte Wandergewerbe aus, waren als Schausteller, Artisten, Musiker oder in randständigen Erwerbszweigen tätig und lebten vielfach an der Armutsgrenze. Andere waren jedoch, beispielsweise als Handwerker oder Händler, Teil der Mittelschicht und zu Wohlstand gekommen. Wegen seiner traditionell repressiven Politik gegenüber den Sinti und Roma zählte Bayern zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme nur einige Hundert Angehörige der Volksgruppen, während ihr Anteil etwa in Preußen und Hessen deutlich höher lag. So wurde für die Gaue Franken, Mainfranken, Bayerische Ostmark und Schwaben für Sommer 1940 die Zahl von 300 genannt – im Vergleich zu 4.180 im Rheinland und Westfalen. Laut der "Dienststelle für Zigeunerfragen" lebten im Stadtgebiet München im Oktober 1941 etwa 200 Sinti und Roma.

Verfolgungsmaßnahmen nach 1933

Bekanntmachung zur "Bekämpfung des Zigeunerunwesens". Aus: Bayerisches Polizeiblatt Nr. 174, 20. November 1936. (Bayerische Staatsbibliothek, 4 Bavar. 408-1936)
Erkennungsdienstliches Foto von Hulda Steinbach, München 1938. (BArch Berlin R 165-57)

Nach der Machtübernahme 1933 verschärften die Nationalsozialisten die Entrechtung und Kriminalisierung der Sinti und Roma. Die Verfolgung wurde dabei zunächst auf kommunaler Ebene von Behörden, Polizei und Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei (NSDAP) forciert. Die Maßnahmen umfassten den Entzug von Erwerbsgrundlagen (z.B. Wegnahme von Wandergewerbsscheinen, Ausschluss aus Berufsverbänden wie der Reichsmusikkammer), die Verweigerung von Fürsorgeleistungen, Zwangssterilisationen, Vertreibung und Ghettoisierung. Ab 1935 zwangen beispielsweise die Städte Köln, Essen, Düsseldorf (alle Nordrhein-Westfalen), Berlin, Frankfurt am Main (Hessen) oder Magdeburg (Sachsen-Anhalt) die vor Ort lebenden Angehörigen der Minderheit zur Ansiedlung in bestimmten, teils bewachten Lagern. Dies entsprach auch den Forderungen des am 6. Juni 1936 von Reichsinnenminister Wilhelm Frick (NSDAP, 1877-1946) herausgegebenen "Erlasses zur Bekämpfung der Zigeunerplage", welcher Wandergewerbe kriminalisierte und die Konzentration der Sinti und Roma an festen Orten durchsetzen sollte.

Durch die "Nürnberger Gesetze", in deren Rahmen "Zigeuner" 1935 als "Fremdrasse" definiert wurden und auch keine Reichsbürger mehr sein konnten, verstärkte sich die rassistische Motivation der Verfolgung. Im Mai 1938 wurde im Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) in Berlin die "Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" eingerichtet, deren Personal sich teilweise aus der bislang zuständigen Münchner "Dienststelle für Zigeunerfragen" rekrutierte. Beispielsweise wurde der bisherige Leiter der Münchner "Zigeunerpolizei", Kriminalinspektor Josef Schegg, in die Reichszentrale abgeordnet. Gemäß dem "Runderlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage" Heinrich Himmlers (NSDAP, 1900–1945, Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei) vom 8. Dezember 1938, sollten alle "sesshaften und nichtsesshaften Zigeuner" sowie "nach Zigeunerart umherziehende Personen" im Deutschen Reich erfasst und einer sog. rassenbiologischen Untersuchung zugeführt werden. Himmler strebte damit eine "endgültige Lösung der Zigeunerfrage […] aus dem Wesen der Rasse" heraus an.

Die rassenbiologischen Untersuchungen wurden durch die 1936 gegründete und von Robert Ritter (NSDAP, 1901–1951) geleitete "Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle" (RHF) im Reichsgesundheitsamt durchgeführt, die von 1941 bis Kriegsende rund 24.000 pseudowissenschaftliche Gutachten erstellte, in denen die Untersuchten als "Zigeuner", "Zigeunermischlinge" oder "Nichtzigeuner" eingestuft wurden. Die Forschungsstelle lieferte damit die "Zigeunerdefinition" nach, die in den Ausführungsbestimmungen der Nürnberger Rassegesetze noch gefehlt hatte und wurde so zum entscheidenden Instrument bei der Verfolgung und Ermordung von Angehörigen der Minderheit.

Während die NS-Propaganda über alle verfügbaren Medien ausführlich gegen angeblich für die deutsche Volksgemeinschaft schädliche Gruppen wie Juden oder Erbkranke zu Felde zog, spielte in ihr die Hetze explizit gegen "Zigeuner" keine prominente Rolle. Dies war allerdings auch nicht notwendig, da die gegen die Minderheit gerichteten Maßnahmen einer langen Tradition folgten sowie von der großen Mehrheit der Bevölkerung geduldet oder gutgeheißen wurden und daher kaum auf Protest stießen.

Deportationen und Völkermord

Roma aus dem Burgenland im KZ Dachau, 20. Juli 1938. Foto: Franz Friedrich Bauer (1903-1972). (BArch Berlin, Bild 152-27-11A )

1938 erfolgten erste Masseneinweisungen von oft als "asozial" und "arbeitsscheu" diffamierten Sinti und Roma unter anderem in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen (Brandenburg) und Buchenwald (Thüringen). Bis Juni 1939 mussten mindestens 2.000 als "Zigeuner" klassifizierte Menschen dort Zwangsarbeit leisten. Allein aus Österreich wurden bei Transporten im Juni 1938 230 und Juni 1939 550 Sinti und Roma in das KZ Dachau verschleppt. Im Konzentrationslager Flossenbürg waren insgesamt mindestens 660 Sinti und Roma inhaftiert, 3/4 von ihnen Frauen. Sie mussten vor allem in den Außenlagern Wolkenburg (Sachsen) und Zwodau (Savtava, Tschechien) Zwangsarbeit für Rüstungsfirmen leisten. Durch die uneinheitlich und oft willkürlich gehandhabte Klassifizierung von KZ-Häftlingen als "Zigeuner", "Asoziale" oder "Berufsverbrecher" sind exakte Zahlenangaben jedoch schwierig.

Nach Kriegsbeginn ist eine rasche Radikalisierung der gegen "Zigeuner" gerichteten Maßnahmen zu beobachten. Gleichzeitig verlagerte sich der Schwerpunkt von Initiativen auf lokaler Ebene hin zu reichsweiten Aktionen. Auf Weisung Himmlers wurden im Mai 1940 in einer ersten Verschleppungsaktion bis zu 2.800 Sinti und Roma aus dem Reich ins besetzte Polen deportiert. im Sommer 1941 wurden osteuropäische Sinti und Roma in einem Lager in Königsberg zusammengezogen. Im Laufe desselben Jahres wurden 5.000 aus dem österreichischen Burgenland in das Ghetto Lodz deportiert.

Am 12. Dezember 1942 ordnete Himmler schließlich die systematische Deportation fast aller im Reichsgebiet verbliebenen Sinti und Roma an, woraufhin annähernd 23.000 Menschen aus ganz Europa in ein innerhalb des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau (Oświęcim, Polen) errichtetes "Zigeunerlager" gebracht wurden. Die allermeisten von ihnen starben innerhalb kurzer Zeit an den menschenunwürdigen Lebensbedingungen im Lager oder wurden in den Gaskammern ermordet.

Auch aus bayerischen Städten, etwa München, Würzburg, Nürnberg, Augsburg, Bayreuth und Hersbruck (Lkr. Nürnberger Land), wurden Sinti und Roma, teils im Familienverband, weiter in Konzentrationslager deportiert. Die Verfolgung reichte bis in die kleinsten Ortschaften hinein, wo als "Zigeuner" stigmatisierte Personen zum Ziel von Maßnahmen wie Inhaftierung und Zwangssterilisation wurden.

Der Völkermord an den Sinti und Roma erstreckte sich auch auf sämtliche vom Deutschen Reich besetzten Gebiete. Seit Sommer 1941 verübten vor allem Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) in Süd- und Osteuropa Massaker an zehntausenden Roma.

Die exakte Zahl der während des Nationalsozialismus ermordeten, als "Zigeuner" verfolgten Menschen, ist nicht bekannt. Als gesichert kann heute die Zahl von mindestens 200.000 getöteten Sinti und Roma angenommen werden. Andere Schätzungen liegen aber zum Teil deutlich über dieser Zahl und reichen bis zu 500.000 Opfern.

Wie viele Sinti und Roma aus Bayern der Verfolgung zum Opfer fielen, ist aufgrund fehlender Quellen und Forschungen ebenfalls nicht exakt zu ermitteln. Rund 300 Angehörige der Minderheit wurden in Würzburg zusammengezogen und von dort aus deportiert. Aus München sind für die Jahre 1940 bis 1944 164 Deportierte (100 im Stadtgebiet lebend, 64 in anderen ober- und niederbayerischen Orten) namentlich bekannt. Sie wurden mehrheitlich in Auschwitz-Birkenau ermordet. Auch aus Städten wie Regensburg, Nürnberg und Augsburg wurden Sinti und Roma verschleppt und ermordet, meist fehlen aber noch systematische Untersuchungen.

Ausblick: Sinti und Roma nach 1945

Nach Kriegsende konnten nur wenige tausend überlebende deutsche Sinti und Roma in ihre Heimatorte zurückkehren. In den Gemeinden erhielten sie vor allem bei den auf Anordnung der alliierten Militärregierung eingerichteten Betreuungsstellen erste Fürsorgeleistungen. Da sie meist Wohnungen, Besitz und zahlreiche Angehörige verloren hatten, waren sie zur Überlebenssicherung oftmals auf diese Maßnahmen angewiesen.

Im Allgemeinen bestanden die rassistischen Vorurteile und negativen Stereotypen gegenüber der Minderheit nach 1945 unvermindert fort. Dies erschwerte für die Überlebenden nicht nur die Reintegration in die Nachkriegsgesellschaft, sondern prägte auch den oft ablehnenden bis feindseligen Umgang der Ämter und Behörden mit den Sinti und Roma.

Deutlich zeigte sich das Fortbestehen von Diskriminierung und Antiziganismus in der "Wiedergutmachungs"-Debatte beziehungsweise der Entschädigung von NS-Opfern durch deutsche Behörden. Die Verfolgungsmaßnahmen gegen "Zigeuner" wurden häufig als zwar harte, letztendlich aber legitime staatliche Ordnungsmaßnahmen ausgelegt. Begünstigt wurde dies dadurch, dass Planer und Organisatoren der Verfolgung ihre Karrieren in Verwaltung, Justiz oder Wissenschaft meist mehr oder weniger ungehindert fortsetzen konnten und als vermeintliche Experten zur nachträglichen Legitimierung oder Vertuschung der Verbrechen beitrugen. So etwa Josef Eichberger, der in der NS-Zeit im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Deportationen von Sinti und Roma organisiert hatte und später Leiter in der "Landfahrerzentrale" im Landeskriminalamt in München wurde.

Bezeichnend für die Bagatellisierung der Verfolgung der Sinti und Roma war das Urteil des Bundesgerichtshofs vom Januar 1956, demzufolge die "Zigeuner" bis 1943 nicht aus rassistischen Gründen, sondern aufgrund ihrer "asozialen" Eigenschaften und Verhaltensweisen verfolgt worden seien. Zwar wurde die Rechtsprechung ab 1963 Schritt für Schritt revidiert, für viele Sinti und Roma, die für die erlittenen Verfolgungsmaßen keinerlei Entschädigungszahlungen erhielten, kam dies jedoch zu spät.

Forschung und Rezeption

2016 errichtetes Denkmal zur Erinnerung an die ermordeten Sinti und Roma im Lagerkomplex Flossenbürg in der Gedenkanlage Tal des Todes. Bildhauer: Alfred Kainz. (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Foto: Thomas Dashuber)

Wie auch die Verfolgung der Sinti und Roma in der breiteren Öffentlichkeit jahrzehntelang kein Thema war, setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr, von einigen Ausnahmen abgesehen, ebenfalls erst in den 1980er Jahren ein. Ab Anfang der 1990er entstanden sowohl ausführliche, übergreifende Monographien als auch zahlreiche Einzelstudien, die sich mit regionalen Beispielen befassten. Insgesamt sind Verbrechen und Völkermord an den Sinti und Roma aber noch unzureichend erforscht. Dies gilt in besonderem Maße auch für Bayern, wo es bislang keine Gesamtdarstellung der Verfolgung gibt und auch nur wenige Fallstudien vorliegen. Eine Ausnahme stellt hier die Stadt München da, für welche die Verfolgung umfassend aufgearbeitet wurde.

Literatur

  • Norbert Aas, Sinti und Roma im KZ Flossenbürg und seinen Außenlagern Wolkenburg und Zwodau (Schriftenreihe des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern), Bayreuth 2001.
  • Matthias Baahr/Peter Poth (Hg.), Hugo Höllenreiner. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto und seine Perspektiven für eine bildungssensible Erinnerungskultur, Stuttgart 2014.
  • Eveline Diener, Das Bayerische Landeskriminalamt und seine "Zigeunerpolizei" (1946 bis 1965). Kontinuitäten und Diskontinuitäten der bayerischen "Zigeunerermittlung" im 20. Jahrhundert (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V. 25), Frankfurt a. Main 2021.
  • Alexander Diepold (Hg.), 30 Jahre Madhouse 1987-2017: Geschichte erinnern: Go ziro hoi his ferbist ra me nicht - Zukunft gestalten: Go ziro well o gama mer anno wast delel München 2017, München 2017.
  • Ludwig Eiber, "Ich wußte, es wird schlimm." Die Verfolgung der Sinti und Roma in München 1933-1945, München 1993.
  • Roland Flade, Dieselben Augen, dieselbe Seele. Theresia Winterstein und die Verfolgung einer Würzburger Sinti-Familie im „Dritten Reich“ (Veröffentlichungen des Stadtarchivs München 14), Würzburg 2008.
  • Paul Kornmayer, Verfolgt, deportiert, ermordet. Die Geschichte der Sinti in Hersbruck 1939-1945, Hersbruck 2018.
  • Stefan Löffler, Unentwegt auf Achse – und stets in Feindesland. Auf den Spuren der Sinti und Roma in Südthüringen und Oberfranken, in: Gudrun Braune/Peter Fauser (Hg.), Menschen unterwegs, Betrachtungen zu Geschichte und Geschichten, Schwerpunkt Thüringen: Beiträge des Kolloquiums vom 29. September 2012 in Gotha, Erfurt 2015, 125-140.
  • Winfried Nerdinger (Hg.), Die Verfolgung der Sinti und Roma in München und Bayern 1933-1945, München 2016.
  • Ansgar Reiß, Die Ausstellung "Rassendiagnose Zigeuner. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung" im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt, in: Bayerische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit (Hg.), Einsichten und Perspektiven 4 (2017), 38-43.
  • Ulli Schlee, Die Verfolgung der Sinti und Roma in Mittelfranken unter dem Nationalsozialismus, Erlangen 2011.
  • Volker Zimmermann, "Zigeuner" als "Landplage". Diskriminierung und Kriminalisierung von Sinti und Roma in Bayern und den böhmischen Ländern (Ende 19. Jahrhundert bis 1939), in: Milan Hlavačka/Robert Luft/Ulrike Lunow (Hg.), Tschechien und Bayern, München u.a. 2016, 207-223.

Externe Links

Verfolgung Zigeuner

Empfohlene Zitierweise

Felix Bellaire, Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus, publiziert am 17.01.2024; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Verfolgung_der_Sinti_und_Roma_im_Nationalsozialismus> (9.10.2024)