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Romanische Sprachreste und Bilingualität im bairischen Sprachraum

Aus Historisches Lexikon Bayerns

von Wolfgang Haubrichs

Im Bereich des bairischen Sprachraums, der sich zum größten Teil auf ehemals römischem Provinzboden ausbildete, überdauerte in regional unterschiedlicher Dichte eine alteingesessene, romanisch-sprachige Bevölkerung den Übergang von der Antike ins Mittelalter. Sie vermittelte nicht nur zahlreiche vordeutsche Orts- und Gewässernamen, sondern pflegte auch die Tradition lateinischer und graecolateinischer Personennamen bis weit ins 8. Jahrhundert. Spezifische Lautentwicklungen bzw. das Ausbleiben von solchen geben Auskunft über das quantitative Verhältnis von germanisch-althochdeutsch und romanisch sprechenden Personen sowie deren Akkulturation. Darüber hinaus liefern diese Lautentwicklungen ebenso wie zweisprachige "Wörterbücher" den Nachweis für eine gewisse Zweisprachigkeit, die etwa im Salzburger Raum bis ins 10. Jahrhundert andauerte.

Quellen der Sprachentwicklung

Für das Weiterleben lateinisch-romanischer Sprache in den ehemaligen römischen Provinzen der Raetia Secunda und Ufernoricums südlich der Donau und im Ostalpenraum, nachdem dort um die Mitte des 6. Jahrhunderts das bairische Herzogtum entstanden war, gibt es kaum direkte Quellen. Will man ein genaueres Bild von den Quantitäten und der Topographie des Zusammenlebens sowie von der Qualität der Akkulturation der romanisch-sprachigen indigenen Restbevölkerung und neuzugezogener germanisch-sprachiger Gruppen gewinnen, so muss man zu indirekten Quellen greifen. Neben lexikalischen Entlehnungen gehören dazu vor allem onomastische Zeugnisse, d. h. Personennamen, die in der frühmittelalterlichen Überlieferung belegt sind, und Orts- bzw. Siedlungsnamen (Toponyme), wie sie zum Teil bis heute bestehen.

Personennamen

Die Quellen des 7. bis 9. Jahrhunderts (Inschriften, Urkunden, Verbrüderungsbücher, Heiligenviten etc.) offenbaren für den sich erst allmählich formierenden bairischen Sprachraum südlich der Donau einschließlich des westlichen Österreichs und Südtirols eine mit ca. 800 Exemplaren quantitativ starke, wenn auch räumlich unterschiedlich gewichtete Schicht nichtgermanischer, romanischer und (in geringerem Umfange) biblischer Personennamen. Bei der Auswertung dieses auch statistisch relevanten Materials muss man sich freilich darüber im Klaren sein, dass weder eine direkte ethnische noch eine direkte sprachliche Interpretation möglich ist. Nicht jeder Träger eines romanischen oder nichtgermanischen Namens war ein Romane oder sprach noch romanisch. Um solche Schlüsse zu ermöglichen, müssen Anzeichen lebendiger sprachlicher Romanität und eine linguistische Analyse hinzukommen. Doch wenn im bairischen Raum so viele lateinisch-romanische Personennamen aufscheinen, wie sonst im 'deutschen' Sprachraum des frühen Mittelalters nur noch im Rhein-Moselraum um Trier, dann weist das zumindest auf eine in den Jahrhunderten davor gründende lateinische Namenkultur hin. Sie findet ihren Ausdruck in römischen Traditionsnamen wie Aetius, Cassius, Marcellus, Maximus, geo- oder glottogenen Namen wie Antiocholus, Corinthianus, Latinus, theriophoren Namen (Tiernamen) wie Lupus und Ursus, Heilsnamen ("noms de bon augure") wie Salvianus, Felix, Eugenia, theophoren und christlichen Namen wie Deusdedit, Donata, Paschasius, Heiligennamen wie Ambrosius, Benedictus, Helena, schließlich in biblischen Namen wie David, Iob, Andreas, Petrus, die sich teilweise mit den Heiligennamen überschneiden und in ihrer Dichte nördlich der Alpen einzigartig sind. Dabei wurden auch (vor allem im Salzburger Raum) griechische Namenwelten integriert, fassbar in Namen wie Agatha, Anthesimus, Eparchius, Euphemia, Euphraxia oder Georgius. Hier stellt sich die Frage, ob sich darin ein älteres graecolateinisches Christentum, gestützt etwa von einem Zentrum wie Aquileia, niederschlug, das auch die eigenartigen ins Bairische entlehnten griechischen Wochentagsnamen (z.B. Pfinz-tag 'Donnerstag' < griech. pémpte heméra 'fünfter Tag'; ahd. pferin-tag 'Freitag, Rüsttag vor Sabbat' < graecolat. parasceven) zu erklären vermöchte.

Indem sie noch romanische Lautentwicklung und Formenwandel des frühen Mittelalters mitgemacht haben, bezeugen diese lateinischen oder graecolateinischen Namen aber auch eine lebendige romanische Sprache. Solche Entwicklungen sind:

Die Entstehung von Kurznamen aus antiken lateinischen Personennamen aufgrund der Akzentverhältnisse
z.B. Cilia < Cecília, Cissimo < Dulcíssimo,
Genia < Eugénia, Cello < Marcéllo, Minigo < Domínico, Cencio < Vincéntio etc.
Lautliche Entwicklungen:
Sonorisierung der Tenues [p, t, k] zu [b, d, g] (6./7. Jh.) z.B. Lupa > Loba, Senator > Senadur,

Vitalis > Vidale, Jacob(o) > Jagob, Secundina > Sigundina etc.

Spirantisierung des intervokalischen [b] (7./8. Jh.) Dabei wird auch

aus [p] sonorisiertes [b] erfasst (fast nur im Salzburger Raum)

z.B. Iubinanus > Iuvanan, Proba > Prova

Lupicinus > Luvisinus, Lupo > Luvo

Palatalisierung von [di, ti + Vokal] > [tsi] (graphisch <z, zz, ci>),

wohl im 7. Jh. durchweg durchgeführt

z.B. Amantia > Amaza, Antiolo > Enzolo,

Claudia > Clauza, Constantio > Custanzo, Corinthianus > Coranzan, Titianus > Tizan etc.

Entwicklung von graecolat. [eu] > [au] (8.Jh.) Aostasius < Eustasius
Romanischer intervokalischer g-Schwund (8. Jh.) ergreift auch germ. Namen z.B. 765 Aeio laicus bei Erding < *Agio,

oder im Ortsnamen Pang bei Rosenheim, 752 Paingas < *Bag-ingas

Andererseits wurden die romanischen Namen auch von den neuen Siedlern seit dem 7. Jahrhundert adaptiert. Eine bilinguale Mischkultur wird durch die Entwicklung 'baiuvarisierter' Formen belegt:

Verschiebung der Mediae [d, b, g] zu [t, p, k] Diphthong [ai] > [ei] Umlaut [a] > [e] vor [i, j] Substitution von lat. [v], vor 700 durch ahd. [w] bzw. nach 700 durch [f]
z.B. Daniel > Tenil, David > Tevid,
Donatianus > Tonazan,
Bonifacius > Ponafacio,
Gaio > Keio etc.
Maioranus > Meioran Daniel > Tenil, Latin(us) > Ledi Vigilantio > Wegalanzo,
Vitalis > Fidal

Diese Beispiele althochdeutschen Lautwandels des späten 7. und 8. Jahrhunderts deuten auf ein längeres Nebeneinander von romanischer und bairischer Sprache hin. Dafür spricht auch die über nahezu das gesamte Gebiet der Raetia Secunda und des westlichen Noricum, wenn auch in sehr unterschiedlichen Quantitäten, ausgebreitete Verteilung dieser Altnamen (Karte 1), wobei die Belegkonzentration in den Episkopalsitzen Freising, Regensburg, Passau und vor allem im von vorgermanischen Toponymen umgebenen Iuvavum-Salzburg gewiss auch deren zentrale Funktionen widerspiegelt. Was die chronologische Dimension der romanischen Personennamen angeht, scheint die Situation im 8. Jahrhundert zugunsten des 'germanischen' Namenbrauchs zu kippen. Eine so hohe Anzahl romanischer Namen wie in der ersten in Freising ausgestellten Urkunde von 743 findet sich später nicht mehr. Ebenso bleibt die erste, ins frühe 8. Jahrhundert zu datierende Passauer Urkunde mit ihrer Ausstellung in vico Fonalvae die consule und ihren völlig romanischen Agenten Mairanus, Dominicus, Dominicans, Floritus, Vigilus und dem Schreiber Quartinus, der auch ein qui escripsi mit romanischem Vokalvorschlag einflicht, singulär.

Orts- und Gewässernamen

Besonders aussagekräftig für die Frage der Kontinuität sind die vorgermanischen Toponyme, Orts- und Gewässernamen, die am Ort haften und nicht überregional bekannt waren. Sie sagen uns durch ihre räumliche Verteilung etwas über die primäre Kontinuität lateinisch-romanischer Sprache, ferner durch die spezifischen lautlichen Veränderungen, die sie in der Ausgangssprache Latein noch oder nicht mehr mitmachten bzw. in der Zielsprache Bairisch schon oder noch nicht mitmachten, etwas über das Datum ihrer Integration. Durch ihre geographische Lagerung (Karte 2) bieten uns diese Relikt-Toponyme auch Einsichten in die Räume der Kontinuität, von denen wir für den bairischen Sprachraum ca. acht unterscheiden können.

Kontinuitätsräume

Am Donaulimes

Ein erster, nur kurzlebiger Kontinuitätsraum zeichnet sich am römischen Donaulimes im Bereich der dortigen Castra und Kastelle von Abusina-Eining über Ratisbôna-Regensburg und Batavis-Passau bis an die Enns ab. Hier findet man in den Orts- und Gewässernamen keinen romanischen Sprachwandel, aber die frühe, ins 6. Jahrhundert zu setzende bairisch-alemannisch-langobardische Verschiebung der Tenues [t] zu [ts] (geschrieben zz, z, c) und [p] zu [pf, (f)f]: Pfünz an der Altmühl, 887 Phuncina < *Pontina; Künzing bei Deggendorf, 425/30 Quintanis, 750 Quinzin-gauue; Passau, 425/30 Batavis, 774 Bazzauua; GwN Erlaf bei Pöchlarn, antik Arlape, 832 Erlafa; GwN Ipf bei Lorch, 777 Ipfa < *Eppia 'Rossbach' etc. Hier dürfte sich die Integration der Restromanen im 6. Jahrhundert vollzogen haben. Nur im Umkreis von Regensburg scheint es auch eine etwas dichtere romanische Population gegeben zu haben.

Der Donauraum östlich der Enns

Östlich der Enns haben nur winzige romanische Sprachinseln – bis spätestens ins 7./8. Jahrhundert – überlebt: Tulln, 837 Tullina, bewahrt unverschobenes [t]; romanischer intervokalischer [g]-Schwund zeigt sich bei der Traisen (GwN beim Kastellort Traismauer, antik Tragisa(mum) < kelt. *Tragisamâ, 828 Dreisma) und beim Kaumberg, 791 Cumeoberg < *Comagenis (antiker Name der Stadt Tulln nach der dort stationierten Ala I Commagenorum). Immerhin zeigen all diese Befunde, dass sowohl die im späten 5. Jahrhundert von Severinus (gest. 482) vorgenommene Umsiedlung romanischer Bevölkerung der Raetia II nach Lauriacum/Lorch als auch die von Odoakar (König von Italien 476-493) 488 angeordnete Rückführung der Romani nach Italien keineswegs alle Anwohner der Donauprovinzen betroffen hat.

Freising und Umgebung

Der Isarraum um Freising kennt nur wenige vorgermanische Toponyme und Hydronyme, welche auch die althochdeutsche Medienverschiebung von [d, b, g] > [t, p, k] zeigen. Man darf hier also mit der sprachlichen Akkulturation verbliebener Romanen weit vor dem 8. Jahrhundert rechnen, während die immerhin doch beachtliche Anzahl von romanischen Personennamen auf eine gewisse Bewahrung der ererbten Traditionen deutet.

Bairischer Voralpenraum

Dagegen haben sich im Kontakt mit der inneralpinen Romania im bairischen Voralpenraum romanische Außenposten gehalten, die von der bairischen Umgebung Walaha 'Romanen' genannt wurden, wie zum Beispiel beim Wallgau (Lkr. Garmisch-Partenkirchen), 763 Uualhogoi < *Walho-gauwja 'Gau der Romanen' mit dem Walchensee 'See der Romanen', oder im Reliktort Walchstadt (Lkr. Bad-Tölz-Wolfratshausen), 821 Walchsteti 'romanische Siedlung', wo eine Adlige mit Namen Genia < Eugénia begütert war und eine ancilla namens Tunica wirkte. Erhaltenes [p, t] in Parten-kirchen, 3. Jh. Part(h)ano in der Nähe des Bergwaldes Scarantia (763), heute Scharnitz, mit romanischer Palatalisierung [ti] vor Vokal > [ts] und romanischer Schwund des intervokalischen [v] in Pähl (Lkr. Weilheim-Schongau), 1096/1133 Boile < bovîle 'Ochsenstall' bezeugen die Eindeutschung des wohl siedlungsarmen pagus desertus Wallgau erst im Laufe des 7. Jahrhunderts.

Inntal und Chiemgau

Im Bereich des Inntales und jenseits des Inns, der die Grenze zur Provinz Noricum bildete, setzen sich die voralpinen Walchennamen fort, wie z.B. mit Traunwalchen, 8. Jh. pagus Trunwalha, und dem Walchsee w. Ebbs (Tirol), a. 788 ad Episas (ohne [p]-Verschiebung). Besonders um den Chiemsee herum und im Inntal häufen sich romanische und vorromanische Resttoponyme: sie zeigen allesamt sowohl die Tenuesverschiebung wie etwa bei Leonhardspfunzen, ca. 925 Phunzina < keltorom. *pontêna 'Fähre' oder Langkampfen oberhalb Kufstein (Tirol), 799 Lantchamp(h)a < *Landae campus 'Feld in der Heide', als auch die Medienverschiebung wie etwa beim Flussnamen Traun, 790 Trun < 790 Druna oder bei Prien am Chiemsee(Lkr. Rosenheim), 1184/1200 Prienne < kelt. *Brig-ana 'Bergbach'. Mit allmählicher Baiuvarisierung der verbliebenen Romanen seit dem 6./7. Jahrhundert ist also zu rechnen. Allerdings zeigt die romanische Doppelform 790 Pontena mit erhaltenen [p, t] und der romanische g-Schwund in Prien, dass eine Phase der Bilingualität über diese Zeit hinaus noch anzunehmen ist. Hier schenkt der bairische Herzog noch zu Beginn des 8. Jahrhunderts LXXX Romanos et eorum mansos tributales ... iuxta fluenta Druna, und in den Salzburger 'Breves Notitiae' heißt es: Trunwalha ... qui dicuntur Romanos tributales LXXX.

Oberösterreich

Deutlicher zeichnet sich diese romanische Kontinuität jenseits von Inn und Salzach in Oberösterreich (Inn- und Hausruckviertel) und im benachbarten Salzburgischen ab. Auch hier begegnen zunächst frühmittelalterliche Romanenorte mit Walchen (Gemeinde Vöcklamarkt, Oberösterreich), Straßwalchen (Salzburg), Ehwalchen (Gemeinde Zell am Pettenfirst, Oberösterreich), a. 876 Uualahofeld 'Gebiet der Romanen im Traungau' und Seewalchen am Attersee. Hier haben sich im Gebiet der voralpinen Seen und des Hausrucks Romanenreste bis ins 8./9. Jahrhundert gehalten, wie erhaltene Tenues [p, t] in Toponymen bezeugen: z.B. 750/76 GwN Marhluppa (zum Inn bei Mühlheim) < *Lup; Plain bei Lochen, 1324 Plain < *Plagina (zu lat. plaga 'Fläche, Feld'), hier auch mit romanischem Schwund des intervokalischen [g]; Gampen bei Vöcklabruck, 823/28 Camparon als Ableitung zu lat. campus 'Feld'; Bach- und Ortsname Gurten, 786 Curtuna, mit Suffix zu rom. curte 'Hof' usw.

Salzburg und Umland

Die Walchen- oder Romanenorte im Raum des Inns sind wiederum nur Außenposten eines mit Trier, Metz und Basel vergleichbaren städtischen Kontinuitätszentrums um die antike civitas von Iuvavum-Salzburg, das großräumig betrachtet den östlichen Eckpfeiler eines weitläufigen romanischen Resistenzraums an den Nordrändern der Alpen bildete, das sich von Nord- und Ostschweiz über den Garmischer Raum und das tirolisch-bayerische Inntal bis nach Salzburg und Oberösterreich erstreckte und südlich über die norischen, später ladinischen Zugangstäler bis Sabiona/Säben reichte. Im Salzburger Becken, aber auch in den salzburgisch geprägten alpinen Kleinlandschaften Pon- und Pinz-gau, in der Salzachromania also, ist ein dichtes, hier nur in schmalen Ausschnitten darzustellendes Netz von vorromanischen und romanischen Toponymen bezeugt, aber auch die für solche langandauernden Kontinuitätszonen typischen Namenpaare (Iuvavum-Salzburg; Flussname Iuvarus-Salzach; Vicus Romaniscus-Wals < 8. Jh. Walch-wis 'romanisches Dorf'; Salinas-Reichenhall 'Salzstätte'). In den Toponymen finden sich spezifisch romanische Lautentwicklungen: wie z.B. die Palatalisierung von [ki] > [ts] in Götschen-berg im Pongau < vorrom. *Kukinu oder spätlat. *coccinu 'rot'; die Sonorisierung in Vigáun, 8. Jh. ad Figun < rom. *Vicône 'Großdorf' oder 3mal Muntigl, 8. Jh. Monticulus 'kleiner Berg', 1188/93 Muntigil; Spirantisierung von [b] in †Toval n. Hallein, nach 1191 Toval < rom. *Tubâle (zu lat. tubus 'Röhre'); späte Anlautsonorisierung der Tenuis [k] in Gamp bei Hallein, 8. Jh. villa Campus und 6mal Gols/Gois < lat. colles 'Hügel' usw. Von althochdeutschen Lautentwicklungen ist jedoch eindeutig belegt die Verschiebung der Media [d, b, g] > [t, p, k] des 8. Jahrhunderts, z.B. Pinz-gau, 8. Jh. noch Bisonzio; ebenso die Diphthongierung von [ô] > [uo, ue], z.B. in Gmain, 8. Jh. Muen neben älterem Mona; ferner die erst seit etwa 700 mögliche Integration von lat. [v] durch ahd. [f] in Vigaun, 8. Jh. Figun. So ist im Salzburger Bereich mit einer begrenzten Baiuvarisierung seit dem fortschreitenden 8. Jahrhundert zu rechnen, doch zeigen die zahlreichen Fälle, in denen der romanische Akzent bewahrt wurde (Vigáun, Gugelán, Marzóll usw.), wohl an, dass sich das Romanische der Iuvavenses doch bis ins 10./11. Jahrhundert als Bauern- und Haussprache gehalten hat. Im Salzburggau schenkt der bairische Herzog Theodbert (gest. um 720) im 8. Jahrhundert tributarios Romanos CXVI ... per diversa loca, dazu einige Almen mit romanischen Namen Cuudicus, Cuculana, Alpicula, Lacuana monte, ferner die Jagd in silva, que adiacet inter alpes a Gaizloberch (Gaisberg bei Salzburg) usque ad pontes que nunc vocantur Stega ('Stege'). Hier ist der allmähliche Sprachwechsel in der Aufzeichnung von ca. 788 deutlich zu greifen.

Tirol und Südtirol

Die Situation stellt sich in Tirol, vor allem im Inntal, dann in Südtirol in der Vallis Norica (Eisacktal) mit dem Zentrum der bischöflichen Burg Sabiona/Säben und im anschließenden Etschtal mit dem Vinschgau, der Vallis Venosta, für das Frühmittelalter ganz ähnlich dar. Man muss mit einer großen inneralpinen romanischen Kontinuitätszone rechnen, die seit ca. 600 nur von geringen, vorwiegend militärisch und administrativ bedingten bairischen Ansiedlungen durchsetzt wurde. So ist etwa in Bozen < Bauzanum < *Bautianum um 680 ein bairischer comes bezeugt. Die neben einer romanischen Doppelform 769 India < *Indiga < *Intica (mit romanischer Sonorisierung des [k] und intravokalischem g-Schwund) existierende und schließlich durchgesetzte althochdeutsche Doppelform des Namens des 769 im Pustertal gegründeten Klosters Innichen, 816 Inticha (mit Verschiebung der Tenuis [k]) verdankt sich der militärischen Offensive der agilolfingischen Herzöge Bayerns im 7./8. Jahrhundert gegen vordringende Slawen. Ansonsten bleiben die andernorts den frühesten Schüben der althochdeutschen Lautverschiebung unterliegenden Tenues [t, p] durchweg erhalten, z.B. in Tirol Telfs, 828 Telves, in Südtirol Térenten (Pustertal), 990 Torrentum; in Tirol Pill, 1288 Pulle < *Ap-uliâ 'Land am Wasser', in Südtirol Wipp-tal, antik Vipitenum (Sterzing), 824 Uuipitina. Die zwei verschobenen Toponyme im weiteren Inntal stehen unter Sonderbedingungen: Beim Namen Ziller für den bedeutendsten und wohl die Grenze zwischen Raetia und Noricum markierenden Nebenfluss des Inns, namengebend für einen Gau (889 pagus Cilares-tale), 915 ad Zilare < *Tilaros wird es sich analog zu ähnlichen Frühbelegen verschobener Namen bedeutender Flüsse und Kastelle in der Innerschweiz um ein Exonym handeln; ebenso bei dem antiken Kastell Teriolis, 799 in Cyreolu, heute Zirl an der nach Augsburg führenden Via Claudia Augusta. Während Fälle von verschobener Tenuis [k] > [ch] (7. Jh.) im Inntal, gelegentlich mit Bilingualität bezeugender romanischer Doppelform, häufiger sind, fehlen diese südlich des Brenners durchweg, selbst im Flussnamen Eisack < 1. Jh. Isarcus. Bei der anscheinenden Ausnahme 923 Nurih-tale < vallis Norica (955/75) dürfte es sich um ein begreifliches Exonym für eine bedeutende Durchgangslandschaft handeln. Ansonsten zeigen die Ortsnamen Tirols und Südtirols, lange in direktem Sprachkontakt mit Raetoromania, Ladinia und Oberitalien stehend, noch zahlreiche romanische Lautveränderungen samt der späten Anlautsonorisierung und der Bewahrung des lateinischen Paenultima-Akzents, daneben aber auch auf breitem Raum die ins 8. Jahrhundert zu setzende Verschiebung der Mediae [b, d] zu den Tenues [p, t]. So war die Integration dieser Sprachlandschaft ins Bairische im 8. Jahrhundert im Gange, aber noch lange nicht vollendet.

Sprachvermittlung im frühen Mittelalter

Kasseler Glossen, UB / LMB Kassel 4° Ms. theol. 24, fol.17r. Bayern, erstes Viertel 9. Jahrhundert (Zitierter Text hervorgehoben). (Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel via Public Domain Mark 1.0)

Es ist sicherlich nicht zufällig, dass wie im westlichen deutsch-romanischen Kontaktgebiet auch im bairischen Sprachraum ein kleines Handbuch für den rudimentären Erwerb der theodisca lingua durch Romani überlebte. Solche Texte dienten der Kommunikation im Reisefall oder elementarer Konversation. Die sogenannten 'Kasseler Glossen' wurden im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts in einem bairischen Skriptorium (vielleicht Regensburg) aufgezeichnet und enthalten zunächst ein Glossar, das die vulgärlateinischen oder romanischen Bezeichnungen für Körperteile, Haustiere, Wohnen, Kleidung und Werkzeuge ins Bairische übersetzt. Es umfasste auch eine Sammlung von Gesprächsfragmenten in der Form von Fragen und Antworten, die dem romanischen Sprecher helfen sollte, einige Herausforderungen des Alltagslebens zu bewältigen:

Quis es tu : wer pist du ('wer bist du')?

Unde uenis : wanna quimis ('woher kommst du')?

De quale patria : fona uuelihem lant ('aus welchem Land')?

Auch Instruktionen für Serviceleistungen begegnen:

Tundi meo capilli : skir min fahs ('schneide mein Haar')!

Radi meo parba : skir minan part ('schere meinen Bart')!

Kasseler Glossen, UB / LMB Kassel 4° Ms. theol. 24, fol.17v. Bayern, erstes Viertel 9. Jahrhundert (Merkspruch hervorgehoben). (Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel via Public Domain Mark 1.0)

Die Vokabeln besitzen dabei mehrfach einen regionalen Akzent, der sie mit der Raetoromania, Ladinia und Norditalien verbindet, wie z.B. bei Ordig(l)as : zaehun 'Zehen' < lat. articulos, ital. artiglio 'Kralle'; Putel : darm < lat. butellus 'Darm', ital. budella 'Därme'; Fidelli : chalpir 'Kälber' (mit Lautersatz von lat. [v] durch [f]) < lat. vitellum, ital. vitello; Troia : suu 'Sau' < ital. troja; Aucas : cansi 'Gänse' < lat. *avica, ital. oca 'Gans'; Pulcins : honchli 'Küken, Hühnchen' < lat. pullicênu, ital. pulcino; Saccuras : achus 'Äxte' < spätlat. secure, ital. scure; Manneiras : parta 'lange Äxte, Hellebarden' < lat. manuâria, ital. mannaja; -tutti : alle < spätlat. tôttu, ital. tutto etc.

Das Kasseler Büchlein ist auch berühmt für einen Merkspruch, der sowohl in einem Substandard-Latein als auch in Altbairisch formuliert wurde, und den die romanischen Schüler zu lernen hatten:

Stulti sunt Romani, Tole sint Uualha,
Sapienti sunt Paioari, spahe sint Peigira,
Modica est sapientia in
Romana,
luzic ist spahi in
Uualhum,
Plus habent stultitia
quam sapientia.
mera hapent tolaheiti
denne spahi.
("Die Romanen sind dumm,
die Baiern sind klug,
Klugheit ist rar bei den Romanen,
sie besitzen mehr Dummheit als Klugheit.")


Der perfide Satz wird im Glossar als ein Beispiel nach dem Lemma stultus 'dumm' angeführt. Er bezeugt recht deutlich die Koexistenz von Baioarii und Romani in den Kontaktregionen südlich der Donau und in den östlichen Alpen, in Beziehungen, die sicherlich nicht immer einfach waren. Aber doch beweisen der Merksatz und seine Übersetzung, dass im Bewusstsein und im Leben der Baioarii romanisch sprechende Menschen intensiv präsent waren.

Literatur

  • Peter Anreiter/Christian Chapman/Gerhard Rampl, Die Gemeindenamen Tirols. Herkunft und Bedeutung, Innsbruck 2009.
  • Karl Finsterwalder, Tiroler Ortsnamenkunde. Gesammelte Aufsätze und Arbeiten, hg. v. Hermann N. Ölberg / Nikolaus Grass, 3 Bde., Innsbruck 1990-95.
  • Wolfgang Haubrichs, The Multilingualism of the Early Middle Ages: Evidence from Peripheral Regions of the Regnum orientalium Francorum, in: Robert Gallagher/Edward Roberts/Francesca Tinti (Hg.), The Languages of Early Medieval Charters. Latin, Germanic Vernaculars and the Written Word, Leiden/Boston 2021, 68-116.
  • Christa Jochum-Godglück, Walchensiedlungsnamen und ihre historische Aussagekraft, in: Hubert Fehr / Irmtraut Heitmeier, Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien 2012, 197-217.
  • Thomas Lindner, Die lateinisch-romanischen Ortsnamen in Salzburg: ein etymologisches Glossar, in: Österreichische Namenforschung 36/3 (2008), 21-52.
  • Herbert Penzl, 'Stulti sunt Romani'. Zum Unterricht im Bairischen des 9. Jahrhunderts, in: Wirkendes Wort 35 (1985), 241-248.
  • Michael Prinz, Regensburg – Straubing – Bogen. Studien zur mittelalterlichen Namenüberlieferung im ostbayerischen Donauraum, München 2007.
  • Ingo Reiffenstein, Vom Sprachgrenzland zum Binnenland. Romanen, Baiern und Slawen im frühmittelalterlichen Salzburg, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 21, H. 83 (1991), 40-64.
  • Ingo Reiffenstein/Thomas Lindner: Historisch-etymologisches Lexikon der Salzburger Ortsnamen, 2 Bde., Salzburg/Wien 2017.
  • Stefanie Stricker, 'Kasseler Glossen', in: Rolf Bergmann (Hg.), Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin/Boston 2013, 225-227.
  • Peter Wiesinger, Die Zweite Lautverschiebung im Bairischen anhand der Ortsnamenintegrate. Eine lautchronologische Studie zur Sprach- und Siedlungsgeschichte in Bayern, Österreich und Südtirol, in: Wolfgang Haubrichs / Heinrich Tiefenbach (Hg.), Interferenz-Onomastik. Namen in Grenz- und Begegnungsräumen in Geschichte und Gegenwart, Saarbrücken 2011, 163-246.
  • Peter Wiesinger, Die Romanen im frühmittelalterlichen bayerisch-österreichischen Raum aus namenkundlicher und sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Walter Pohl/Ingrid Hartl/Wolfgang Haubrichs (Hg.), Walchen, Romani und Latini. Variationen einer nachrömischen Gruppenbezeichnung zwischen Britannien und dem Balkan, Wien 2017, 87-112.
  • Peter Wiesinger/Albrecht Greule, Baiern und Romanen. Zum Verhältnis der frühmittelalterlichen Ethnien aus der Sicht der Sprachwissenschaft und Namenforschung, Tübingen 2019.

Quellen

  • Das älteste Traditionsbuch des Klosters Mondsee, bearb. von Gebhard Rath und Erich Reiter, Linz 1989.

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Empfohlene Zitierweise

Wolfgang Haubrichs, Romanische Sprachreste und Bilingualität im bairischen Sprachraum, publiziert am 07.08.2023; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Romanische_Sprachreste_und_Bilingualität_im_bairischen_Sprachraum> (27.04.2024)