Königskrise (1885/86)
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Als "Königskrise" wird die politische und Verfassungskrise bezeichnet, die sich seit dem Herbst 1885 aus der Verschuldung der Königlichen Kabinettskasse aufgrund der hohen Ausgaben für die persönlichen Passionen Ludwigs II. (1845-1886, König 1864-1886), insbesondere seine Schlossbauten, ergab. Die Krise brachte das System der anti-parlamentarischen Regierung durch Minister, die aus den Reihen der hohen Beamtenschaft kamen und allein vom Vertrauen und in den Augen der Öffentlichkeit damit auch vom Prestige der Krone abhingen, in erhebliche Bedrängnis. Die Probleme wurden schließlich im Juni 1886 durch ein Zusammenwirken dieser "Ministeroligarchie" mit dem wissenschaftlichen Experten Bernhard von Gudden (1824-1886), der den König für geisteskrank erklärte, gelöst. Prinz Luitpold von Bayern (1821-1912, Prinzregent 1886-1912) nahm widerstrebend die ihm zugedachte Rolle als Regent an und sicherte damit das Überleben des bestehenden politischen Systems.
Frühe Zweifel an der Regierungsfähigkeit Ludwigs II.
Schon wenige Monate nach dem Regierungsantritt des achtzehnjährigen Ludwig (1845-1886, König 1864-1886) finden sich in Berichten in München akkreditierter Diplomaten Äußerungen, in denen leise Zweifel an dessen voller geistigen Gesundheit und somit Regierungsfähigkeit geäußert werden. Beobachtungen von exzentrisch und manieriert erscheinenden Verhaltensweisen des Königs gaben Anlass dazu. Weitere Kreise sowohl der politischen Elite Bayerns wie der Bevölkerung vor allem Münchens begannen an der Zurechnungsfähigkeit ihres Königs zu zweifeln, als dieser ausgerechnet während der politischen Krise, die dem Ausbruch des Deutschen Bundeskriegs von 1866 vorausging, zunächst Richard Wagner (1813-1883) in der Schweiz besuchte und sich dann auf die Roseninsel im Starnberger See zurückzog. Die öffentlichkeitswirksame Reise, die Ludwig II. nach dem Ende des Krieges durch die von Kriegshandlungen betroffenen fränkischen Landesteile unternahm, zerstreuten diese negativen Wahrnehmungen wieder. Der danach erneut einsetzende Rückzug des zunehmend menschenscheuen Königs aus der Öffentlichkeit vollzog sich schleichend. Seine Abstinenz hinsichtlich der aktiven Gestaltung der Politik, die sich im Gefolge der Reichsgründung von 1871 verschärfte, wurde von der "Ministeroligarchie" aufgefangen und nach außen hin nach Möglichkeit verschleiert.
Die Ursachen der Königskrise
Strukturelle Ursachen
Politische Komplexität und der Regierungsstil Ludwigs II.
Gemäß der bayerischen Verfassungsurkunde von 1818 war der König dazu berechtigt und berufen, die Richtlinien der Politik festzulegen. Die zunehmende Komplexität von Verwaltung und Gesellschaft hatte jedoch schon König Maximilian II. (1811-1864, König 1848-1864) gezwungen, sich weithin auf die Expertise seiner Minister zu verlassen. Aufgrund der Unerfahrenheit und des alsbald sich einstellenden Unwillens Ludwigs II., sich anstrengender Regierungsarbeit zu widmen, ging die tatsächliche Ausübung der königlichen Rechte auf die Minister sowie den Kabinettssekretär über. Letzterer fungierte gerade bei einem Monarchen wie Ludwig II., der zuletzt die meiste Zeit des Jahres von seiner Hauptstadt abwesend war, als unentbehrliches Vermittlungsorgan zwischen dem König und den Staatsorganen.
Konstitutionelles System und parlamentarische Mehrheitsverhältnisse
Die Verfassung von 1818 basierte auf dem Grundsatz des "Monarchischen Prinzips" bei strenger Gewaltenteilung. In diesem Punkt hatten auch die Reformen von 1848 nur in geringem Maße Modifizierungen bewirkt. Das heißt, dass der König Oberhaupt der staatlichen Exekutive war, während ihm die Gesetzgebung nur gemeinsam mit beiden Kammern des Landtags zukam. Insbesondere ernannte allein der Monarch die Minister. Der in romantisch-verklärten Vorstellungen vom mittelalterlichen und absolutistischen Königtum befangene und selbst einen bloßen Anschein von Parlamentarisierung ablehnende Ludwig II. ernannte seit 1866 stets liberal-preußenfreundlich gesinnte Minister, obwohl ihm eigentlich die seit 1869 über die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer verfügende katholisch-konservative Patriotenpartei politisch näher stand. Damit verfügten die Minister einerseits wegen der Passivität des Königs über große Machtfülle, waren aber andererseits zu ihrer Legitimation auf die Rückendeckung und das Prestige der Krone angewiesen.
Aktuelle Ursache: Die Schuldenkrise der königlichen Kabinettskasse
Die Finanzlage
König Ludwig II. hatte 1868 mit umfangreichen Bauvorhaben zur Errichtung neuer Schlösser (Linderhof, Neuschwanstein, Herrenchiemsee) begonnen, in denen sich seine Traumwelten manifestieren sollten. Sie wurden nicht aus der Staatskasse, sondern der königlichen Kabinettskasse finanziert. Diese speiste sich aus der jährlich vom Staat an den König überwiesenen „Zivilliste“ (ca. 4,23 Mio. Mark), die jedoch überwiegend für den Unterhalt des Hofstaats und der bestehenden Schlösser verwendet werden musste, aus den Erträgen des von König Maximilian II. vererbten Vermögens (ca. 500.000 Mark jährlich) sowie seit 1871 aus geheimen Zahlungen Otto (Fürst) von Bismarcks (1815-1898, Reichskanzler 1871-1890) in Höhe von 300.000 Mark pro Jahr. Für die Schlossbauten und andere private Liebhabereien stand Ludwig II. ungefähr eine Million Mark pro Jahr zur freien Verfügung. Seit etwa 1877 reichten diese Mittel nicht mehr aus, die Aufträge und Bestellungen zu bezahlen, so dass sich bei der Kabinettskasse Schulden anhäuften. Bereits im Jahr 1884 drohten Klagen von Gläubigern. Diese Gefahr konnte durch ein von Emil von Riedel (1832-1906, Finanzminister 1877-1903) vermitteltes Bankdarlehen von 7,5 Mio. Mark abgewandt werden. Da der König sich aber weiterhin mit Bauaufträgen nicht zurückhielt, waren im Sommer 1885 erneut fast 6,5 Mio. Mark Schulden aufgelaufen. Die Kabinettskasse war zahlungsunfähig.
Der drohende Ansehensverlust der Krone
Ludwig II. reagierte auf die Finanzkrise und den weitgehenden Baustopp bei seinen Schlössern damit, dass er unter Einschaltung enger Vertrauter aus seiner Dienerschaft sowie teilweise unseriöser und politisch bedenklicher Vermittler im In- und Ausland neue Kredite aufzutreiben versuchte. Diese Aktivitäten blieben der Presse auf Dauer nicht verborgen und wurden, zunächst vor allem außerhalb Bayerns, auch publiziert. Dies drohte das Ansehen des Königs wie des Landes zu schädigen.
Verschärft wurde die Lage dadurch, dass angesichts der Zahlungsschwierigkeiten sowie bizarrer Verhaltensweisen des Königs in der Dienerschaft eine starke Fluktuation herrschte. Ersatzweise kommandierte der König seit Februar 1885 Chevaulegers (Soldaten der leichten Kavallerie) von ihren Einheiten zum Dienst in seiner unmittelbaren Umgebung ab. Dadurch erhielten seit langem kursierende Gerüchte über die sexuelle Orientierung Ludwigs II. neue Nahrung.
Der Ausbruch der Königskrise
Der Anlass: Die Affäre Nanette Wagner
Im Zuge seiner Geldbeschaffungsaktivitäten hatte König Ludwig II. am 22. Februar 1886 einer übel beleumundeten Kreditvermittlerin namens Nanette Wagner aus Stuttgart eine Vollmacht ausgestellt. Hofsekretär (Verwaltungsleiter des Hofstaats) Ludwig Klug (1838-1913, Hofsekretär von 1885-1886) gelang es, mit Hilfe der Polizei diese Vollmacht wieder an sich zu bringen und damit eine mögliche Kompromittierung des Königs zu verhindern. Der über den Vorgang erschrockene Ministerrat beschloss am 20. März, die „Gesundheitsverhältnisse“ Ludwigs II. überprüfen zu lassen. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Minister seit dem Juli 1885 unter Einbeziehung von Prinz Luitpold von Bayern (1821-1912, Prinzregent 1886-1912) Überlegungen angestellt hatten, wie dem Finanzgebaren des Königs Zügel angelegt werden könnten. Insbesondere Johann Freiherr von Lutz (1826-1890, 1869-1890 Kultusminister, Ministerratsvorsitzender 1880-1890) hatte außerdem etwa seit dem Jahreswechsel 1885/86 darüber nachgedacht, wie es gelingen könne, König Ludwig II. zur Abdankung zu bewegen.
Das Urteil des Psychiaters Gudden
Sogleich nach dem Beschluss vom 20. März 1886 lud Lutz den Münchner Professor der Psychiatrie und Leiter der Kreisirrenanstalt von Oberbayern, Bernhard von Gudden (1824-1886), zu einer Besprechung am 23. März. Gudden versicherte dabei Lutz und seinem Kollegen Friedrich Krafft Freiherr von Crailsheim (1841-1926, Außenminister 1880-1903, Ministerratsvorsitzender 1890-1903), er halte Ludwig II. für „originär verrückt“. Zugleich erklärte er sich bereit, ein diesbezügliches Gutachten zu erstellen, wenn ihm ausreichendes Aktenmaterial zur Verfügung gestellt werde. Gudden war einer der führenden Psychiater seiner Zeit; sein großes Ansehen paarte sich mit einer übertriebenen Selbstsicherheit. Als einer der für die Behandlung von Ludwigs zweifelsfrei geisteskranken Bruder Otto (1848-1916, König 1886-1913) zuständigen „Prinzenärzte“ dürfte er außerdem von einer gewissen Voreingenommenheit aufgrund vermuteter erbbiologischer Zusammenhänge nicht frei gewesen sein.
Die Zuspitzung
Die Öffentlichkeit kommt mit ins Spiel
Im Frühjahr 1886 gingen beim Landgericht München I Klagen auf Zahlung gegen die Kabinettskasse ein. Erste Verhandlungstermine wurden auf Mai angesetzt. Auch in der bayerischen Presse wurde die Schuldenmacherei des Königs nun breit erörtert, wobei die Regierung sich nicht mehr wie bisher bemühte, solche Artikel durch Einwirkung auf die Verleger zu verhindern. In Wirtshausgesprächen wurden außerdem die seltsamen Lebensgewohnheiten des Königs thematisiert, wobei allerlei dessen Ansehen abträgliche Gerüchte zur Sprache kamen. Zum Ziel der Kritik seitens der katholisch-konservativen Presse wie aus dem Volk wurden aber auch die Minister, weil sie den Zuständen jahrelang untätig zugesehen hatten.
Aktionen des Königs
Neben weiteren verzweifelten und untauglichen Bemühungen zur Geldbeschaffung unternahm König Ludwig II. Anfang April auch einen politischen Schritt: Über Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern (1859-1949), einen der wenigen engen Verwandten, mit denen er auf gutem Fuße stand, kontaktierte er den konservativ-katholischen Oppositionspolitiker Georg Arbogast Freiherr von Franckenstein (1825-1890, Bayer. Patriotenpartei, MdR 1872-1890), um die Möglichkeit einer zusätzlichen Geldbewilligung durch den Landtag zu erörtern. Franckenstein hatte in den 1870er Jahren mehrfach als Kandidat auf den Ministerratsvorsitz bei einem politischen Systemwechsel gegolten. Eine Befassung des Landtags mit den königlichen Finanzproblemen hielt er aber für aussichtslos, wenn keine Garantie für ein künftiges sparsames Wirtschaften gegeben werde. Er selbst forderte Lutz in einer Unterredung am 16. April dazu auf, den König durch Drohung mit dem Rücktritt des Ministeriums zur Vernunft zu bringen. An der Bildung eines konservativen Kabinetts mitten in der Krise hatte er kein Interesse.
Am 6. April hatte sich König Ludwig II. brieflich auch an Bismarck mit der Bitte um Rat gewandt. Der Reichskanzler antwortete in einem Schreiben vom 14., der König solle sich durch den Ministerrat an den Landtag wenden. Am 17. April erging eine entsprechende Weisung an die Minister. Diesen war dieser Befehl unangenehm. Als Motiv steht mangelnder Glaube an eine künftige Mäßigung des Königs fest; umstritten ist, ob Befürchtungen, dass eine Vorlage an den Landtag doch zu einem Ministerwechsel führen könnte, mit im Spiel war. Jedenfalls wurde die königliche Weisung nicht vollzogen. Stattdessen besprachen sich Lutz und Riedel mit führenden Abgeordneten aller Parteien, nach deren Einschätzung bei der gegen den König kritischen Stimmung in der Bevölkerung höchstens ein Sanierungskredit gewährt werden konnte und das unter Bedingungen, die mit Ludwigs Wünschen, Geld zum Weiterbauen zu erhalten, unvereinbar gewesen wären.
Die Minister teilten dem König in einem Schreiben vom 5. Mai mit, dass keine Aussicht auf eine Geldbewilligung des Landtags bestehe; sie forderten nicht nur strenge Sparsamkeit, sondern auch die Entlassung der Chevaulegers sowie die Rückkehr des Königs nach München. Dieser reagierte mit Beschimpfungen, der Entlassung des Kabinettssekretärs Alexander von Schneider (1845-1909, Kabinettssekretär von 1883-1886) sowie Aufträgen an seinen Vertrauten, den Marstallfourier Karl Hesselschwerdt (1840-1902), sowie seinen Friseur Richard Hoppe, nach anderen Ministern zu suchen, die ihm Geld zur Schuldendeckung und Fortführung der Bauten beschaffen sollten.
Aktionen der Minister
Die von völliger Uneinsichtigkeit zeugende Reaktion König Ludwigs II. auf ihr Schreiben vom 5. Mai veranlasste die Minister bei einer nicht schriftlich protokollierten Sitzung kurz vor Mitte des Monats zu dem Entschluss, eine Regentschaft einzusetzen, wofür als verfassungsmäßige Voraussetzung die Regierungsunfähigkeit des Königs festzustellen war. Am 17. Mai bestätigte Gudden in einer Besprechung mit Lutz erneut, er halte Ludwig für verrückt. Durch Oberststallmeister Max Graf von Holnstein (1835-1895) als den Vorgesetzten des Marstallpersonals, aus dem die Umgebung des Königs vorwiegend bestand, wurden Hesselschwerdt und der Kammerdiener Adalbert Welker als Zeugen über absonderliche Verhaltensweisen des Königs vernommen. Die Aussagen wurden Gudden zugänglich gemacht.
Der nun auch vom Ministerrat durch den bayerischen Gesandten in Berlin informierte Reichskanzler Bismarck riet von dem geplanten verdeckten Vorgehen ab und empfahl erneut, mit den königlichen Finanzproblemen den Landtag zu befassen, der dann auch die Errichtung der Regentschaft einleiten könne. Die Minister folgten diesem Rat nicht; der Reichskanzler betrachtete die Sache als eine innerbayerische Angelegenheit, in die das Reich sich nicht einzumischen habe.
Prinz Luitpold hätte es vorgezogen, mit der Verantwortung eines Regenten verschont zu werden. Schließlich sagte er bei fortbestehenden Bedenken gegen das von ihm als Last empfundene Amt aus Pflichtbewusstsein zu, die Aufgabe zu übernehmen. Er hätte es aber lieber gesehen, wenn der ursprünglich erwogene Gedanke, Ludwig II. zur Abdankung zu bewegen, weiterverfolgt worden wäre. In diesem Fall hätte er die Regentschaft für einen zweifelsfrei geistesgestörten König Otto übernehmen müssen. Von der Krankheit Ludwigs war Luitpold nicht völlig überzeugt. Auch Lutz kamen Bedenken, ein psychiatrisches Gutachten lediglich auf die Aussagen von niederrangigen Dienern von geringer Bildung zu stützen, zumal ein Teil der Aufgeforderten die Aussage verweigert hatte.
Daher wurden am 1. Juni weitere und prominentere Personen um die Lieferung von Material ersucht. Der ehemalige Stallmeister Richard Hornig (1841-1911), ein zuletzt in Ungnade gefallener einst enger Vertrauter König Ludwigs II., sowie die früheren Kabinettssekretäre Ludwig August von Müller (1846-1895, Kabinettssekretär 1879-1880), und Friedrich von Ziegler (1839-1897, Kabinettssekretär 1877-1879, 1880-1883) gaben schriftliche Berichte ab. Hesselschwerdt und Welker wurden in Anwesenheit Guddens und Crailshaims nochmals vernommen.
Die Ministerratssitzungen vom 7.-9. Juni und die Regentschaftseinsetzung
7. Juni: Der Grundsatzbeschluss
Prinz Luitpold hatte die Minister am 6. Juni für den folgenden Tag zu einem „Empfang“ eingeladen. Offenbar wollte er es vermeiden, sich vorab königliche Rechte anzumaßen, die ihm erst als Regenten zustanden. Im Protokoll ist dann aber von einer „Ladung“ zu einer „Beratung“ die Rede. Rechtlich einwandfrei wäre es gewesen, wenn Lutz als Vorsitzender Minister seine Kollegen geladen und dann den Prinzen gebeten hätte, an der Sitzung teilzunehmen. Stattdessen war Lutz zunächst abwesend. Prinz Luitpold stellte an Crailsheim nochmals die Frage, ob man nicht Ludwig II. zur Abdankung bewegen könne. Die Antwort lautete, dazu sei Zwang nötig; außerdem wäre die Abdankungsurkunde eines Geisteskranken nichtig. Erst danach stießen Lutz und Gudden hinzu. Von letzterem ließ sich Luitpold überzeugen, dass der Weg der Abdankung nicht gangbar sei. Da er offenbar letzte Zweifel an der Krankheit seines Neffen hegte, regte er aber an, der Psychiater möge den König persönlich untersuchen. Dem widersetzte sich Lutz, der stattdessen zusagte, dass die Zeugen vereidigt würden.
8. Juni: Der Auftrag an Gudden und Kollegen
Nachdem bereits über die Texte einer Regentschaftsproklamation und der in deren Gefolge verfassungsgemäß gebotenen Einberufung des Landtags Beschluss gefasst worden war, wurden Gudden und drei weitere Psychiater beauftragt, ein Gutachten über den Geisteszustand Ludwigs II. auszuarbeiten. Außerdem wurde beschlossen, auf eine formale Bekanntmachung der (privatrechtlichen) Entmündigung zu verzichten.
9. Juni: Entmündigung König Ludwigs II. und Regentschaftseinsetzung
Gudden verfasste das geforderte Gutachten aufgrund eines schon in der Nacht zuvor erstellten Entwurfs noch am 8. Juni. Die drei übrigen Gutachter unterschrieben es lediglich, ohne an der Textfassung beteiligt gewesen zu sein. Der Schluss aus einer langen und ziemlich unsystematischen Aufzählung von Symptomen, die Gudden aus den Zeugenaussagen sowie aus Aufzeichnungen des Hofsekretärs Klug zusammengestellt hatte, war, dass König Ludwig II. „in sehr weit vorgeschrittenem Grade seelengestört“ sei, indem er an „Paranoia (Verrücktheit)“ leide. Daher sei er unheilbar geisteskrank und somit auf Lebenszeit regierungsunfähig. Prinz Luitpold und die Minister beschlossen daraufhin, das ärztliche Gutachten zu billigen und „mit der Bestellung der Regentschaft […] vorzugehen“. Anschließend unterzeichnete Luitpold die Regentschaftsproklamation. Unter Berufung auf die zivilrechtlichen Bestimmungen des Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756 über entmündigte Personen wurden außerdem zwei Kuratoren für das Privatvermögen Ludwigs II. bestellt.
Das Nachspiel
Mit der Einsetzung der Regentschaft schien die Königskrise beendet. Die erste Staatskommission unter Leitung Crailsheims und Holnsteins, die König Ludwig II. von der Regentschaftseinsetzung förmlich informieren und unter ärztliche Aufsicht stellen sollte, scheiterte jedoch am 10. Juni kläglich. Dass sie sich von der örtlichen Gendarmerie auf Befehl des Königs gefangen setzen ließ, hätte den Ereignissen nochmals eine dramatische Wendung geben können. Der menschenscheue König folgte aber weder dem Rat seines Flügeladjutanten Alfred Graf von Dürckheim (1850-1912), sofort nach München zu fahren, noch ergriff er die Gelegenheit zur Flucht. Diese psychisch bedingte Unfähigkeit, zielgerichtet zu handeln, kann als im Nachhinein von Ludwig II. selbst geliefertes Indiz für die im Gutachten vom 8. Juni behauptete Regierungsunfähigkeit angesehen werden.
Die folgenden tragischen Ereignisse um die im zweiten Anlauf doch noch gelungene Gefangennahme des Königs am 12. Juni und seinen Tod im Starnberger See am darauffolgenden Tag gehören nicht mehr zur Königskrise im engeren Sinne, belasteten aber den Beginn der Regentschaft des Prinzen Luitpold zusätzlich und trugen in erheblichem Maße zur Bildung des Mythos um König Ludwig II. bei.
Kontext und Nachwirkungen
Probleme des Verfahrens
Während der gesamten Königskrise stellte sich den Beteiligten ein Problem: Die bayerische Verfassungsurkunde von 1818 enthielt eine klare Regelung, wem in Eventualfall die Regentschaft zustehe, nämlich dem nächsten volljährigen Anwärter auf die Thronfolge. Es gab auch einen Passus, dass eine Regentschaft einzusetzen sei, wenn der König „durch irgend eine Ursache, die in ihrer Wirkung länger als ein Jahr dauert, an der Ausübung der Regierung gehindert“ sei. Nach unstreitiger Interpretation der Staatsrechtslehre schloss dies Geisteskrankheit mit ein. Die Verfassung enthielt aber keine Bestimmungen darüber, wie eine solche festzustellen sei und wer zu einer solchen Feststellung die Initiative zu ergreifen habe. Diese Rechtsunsicherheit hat sich in den gewundenen Formulierungen, wie sie sich in den Protokollen der Ministerratssitzungen vom 7. bis 9. Juni 1886 häufig finden, deutlich niedergeschlagen.
Ferner sind einfach-rechtliche Regularien eines Entmündigungsverfahrens missachtet worden. Zwar waren auf die von der Verfassung als „heilig und unverletzlich“ bezeichnete Person des Königs die hierzu einschlägigen Bestimmungen der Reichs-Zivilprozessordnung nicht direkt anwendbar, doch hätte in sinngemäßer Interpretation des Königlichen Familienstatuts von 1819 die Leitung der Tatsachenermittlung den Präsidenten des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Oberlandesgerichts München übertragen und somit in die Hände einer politisch neutralen Instanz gelegt werden müssen.
Aus der Sicht der modernen psychiatrischen Wissenschaft weist das ärztliche Gutachten vom 8. Juni 1886 erhebliche Mängel auf. Die damalige Einschätzung „Paranoia“ wird heute überwiegend nicht mehr geteilt, ohne dass ein Konsens über eine zutreffende Diagnose besteht. Überwiegend gehen die Experten auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychologie (z. B. Hans Förstl) davon aus, dass König Ludwig II. nicht an einer voll ausgeprägten Psychose, sondern an einer Persönlichkeitsstörung litt.
Forschungskontroversen und Quellen
In der historischen Forschung sind außer der mehr aus psychiatrischem als historischem Blickwinkel interessanten Frage nach der genauen Diagnose der Krankheit König Ludwigs II. vor allem zwei Fragen strittig gewesen:
Einmal ging es darum, wer als die treibende Kraft des Verfahrens der Regentschaftseinsetzung anzusehen ist. Gegenüber der Außenseitermeinung des Psychiaters Heinz Häfner (1926-2022), der glaubt, diese in Prinz Luitpold identifizieren zu können, ist sich die historische Forschung heute weitestgehend darin einig, dass die Initiative zur Entmachtung des Königs vom Ministerrat und insbesondere dessen Vorsitzenden ausging. Stark hervorgehoben wurde in jüngster Zeit die Bedeutung der bereits im Vorfeld der Begutachtung erfolgten apodiktischen Erklärung Ludwigs II. als verrückt durch Gudden (Wolfgang Burgmair/Matthias Weber).
Strittig ist bis heute, von welchem Motiv Lutz und seine Kollegen sich bei ihrem Vorgehen gegen den König leiten ließen. Der Bibliothekar und Autor Rupert Hacker (1935-2016) war geneigt, ihre spätere Berufung auf angeblich selbstloses Handeln im Interesse des Staates für weitgehend glaubwürdig zu halten. Andere Forscher, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, (z. B. Hans-Michael Körner) betonen eher die egoistischen Motive. Diese konnten zum einem individuell in der Behauptung der eigenen Ministerposten liegen. Es konnte zum anderen aber auch darum gehen, dass sie gemeinsam ihr bisheriges Herrschaftssystem zu schützen versuchten, in welchem die Minister faktisch die Herrschaft inne hatten und welches sie nun gegen ein zumindest theoretisch mögliches Zusammengehen von König und Landtagsmehrheit verteidigen müssten.
Die Dokumente, die der Erklärung König Ludwigs II. für regierungsunfähig und entmündigt zugrunde lagen, sind durch Rupert Hacker und den ehemaligen Staatsanwalt und Richter Wilhelm Wöbking vollständig ediert. Von den Beratungen des Ministerrats sind außer den Sitzungen vom 7. bis 9. Juni keine Protokolle vorhanden. Der in der Abteilung V (Nachlässe und Sammlungen) des Bayerischen Hauptstaatsarchivs archivierte Nachlass Lutz ist für die entscheidende Frage nach den Motiven von dessen Handeln unergiebig.
Folgen der Königskrise von 1885/86 für die Monarchie in Bayern
Die posthume Popularität König Ludwigs II., die der lebende König zuletzt nur noch bei der Bevölkerung am Alpenrand genossen hatte, war für die bayerische Monarchie eine ambivalente Angelegenheit, da der Verklärung der Vergangenheit stets auch Elemente der Kritik an der Gegenwart innewohnen. Zwar konnte Prinzregent Luitpold durch sein ebenso würdevolles wie leutseliges Auftreten die Vorbehalte, die seiner Person zunächst entgegenschlugen, allmählich überwinden, nicht aber das Defizit an legitimatorischer Strahlkraft, das in der geminderten Stellung eines bloßen Stellvertreters für den unsichtbaren König Otto lag. Zudem beschränkte die Tilgung der Schulden Ludwigs II. seine Möglichkeiten für kulturelle Initiativen, mit denen v. a. die Könige Ludwig I. (1786-1868, König 1825-1848) und Max II. dem Königtum Glanz verliehen hatten. Damit wurde über weitere 26 Jahre für jedermann augenfällig, was schon unter Ludwig II. eingetreten war: Dass die Leitung der Geschicke des Landes an das Gesamtstaatsministerium als Exponent der Ministerialbürokratie übergegangen war. Hatte dieses während der Königskrise bewusst den Landtag wie den königlichen Familienrat aus allen Entscheidungen herausgehalten, so blockierte es während der Prinzregentenzeit im Interesse der eigenen Machtvollkommenheit weiter den Übergang zur parlamentarischen Monarchie. Als er endlich 1912 doch zaghaft eingeleitet und zudem 1913 die Regentschaft beendet wurde, blieb bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu wenig Zeit, durch einen schrittweisen Umbau des Verfassungssystems etwa nach dem Vorbild der Niederlande und Belgiens das bayerische Königtum auf eine neue stabile Basis zu stellen.
Literatur
- Karl Otmar Freiherr von Aretin, Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart 2003.
- Peter Gauweiler, Bernhard von Gudden und die Entmündigung und Internierung König Ludwig des Zweiten aus juristischer Sicht, in: Hanns Hippius/Reinhard Steinberg (Hg.), Bernhard von Gudden, Heidelberg 2007, 93-107.
- Rupert Hacker, Die Königskrise von 1885/86 und der Weg zur Regentschaft, in: Peter Wolf/Margot Hamm/Barbara Kink u. a. (Hg.), Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 59), Augsburg 2011, 44-54.
- Heinz Häfner, Ein König wird beseitigt. Ludwig II. von Bayern, München 2008.
- Oliver Hilmes, Ludwig II. Der unzeitgemäße König, München 2013.
- Gerhard Immler, Die Entmachtung König Ludwigs II. als Problem der Verfassungsgeschichte, in: Peter Wolf/Margot Hamm/Barbara Kink u. a. (Hg.), Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 59), Augsburg 2011, 55-59.
- Hans-Michael Körner, Das politische Schicksal Ludwigs II., in: Peter Wolf/Margot Hamm/Barbara Kink u. a. (Hg.), Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 59), Augsburg 2011, 17-21.
- Bernhard Löffler, Wie funktioniert das Königreich Bayern? Zur politisch-sozialen Verfassung Bayerns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Peter Wolf/Margot Hamm/Barbara Kink u. a. (Hg.), Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 59), Augsburg 2011, 22-33.
- Hermann Rumschöttel, Ludwig II. von Bayern (Beck'sche Reihe 2719), München 2011.
Quellen
- Wilhelm Wöbking, Der Tod König Ludwigs II. von Bayern. Eine Dokumentation (Rosenheimer Raritäten), Rosenheim 2011.
- Bayerische Verfassungsurkunde von 1818, § 9, § 10 Satz 1 und 2 und § 11 des Titels II.
Weiterführende Recherche
- Schlagwortsuche im Online-Katalog des Bibliotheksverbundes Bayern
- Schlagwortsuche in bavarikon
- Schlagwortsuche in der Bayerischen Bibliographie
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Empfohlene Zitierweise
Gerhard Immler, Königskrise (1885/86), publiziert am 19.10.2021; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Königskrise_(1885/86)> (15.10.2024)