Geistliches Lied (Mittelalter)
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Mittelalterliche geistliche Lieder sind volkssprachliche Gesänge, die beim Gottesdienst oder bei Andachten gesungen wurden, ohne aber einen festen Platz in der lateinischsprachigen Liturgie zu besitzen. Typischerweise erklangen sie bei Predigten, bei Wallfahrten oder zu besonderen Andachten im Weihnachts- und Osterfestkreis. Da sie häufig mit einer Eleison-Akklamation enden, werden geistliche Lieder auch als "Leis" bezeichnet. Das älteste bekannte Beispiel eines geistlichen Lieds aus Bayern ist das Freisinger Petruslied (10. Jahrhundert). Früh bezeugt sind auch "Christ ist erstanden" (12. Jahrhundert) und "Nun bitten wir den heiligen Geist".
Begriffsbestimmung
Der Begriff "Geistliches Lied" ist terminologisch weitgehend offen. Nur die religiöse Thematik und der nachweisbare Liedvortrag (in Abhebung zur Leselyrik) zeigen sich als feste Konstituenten. Aber bereits beim Liedvortrag muss zwischen Solo-, Gemeinde- und Chorlied, zwischen ein- und mehrstimmigem Gesang unterschieden werden. In der Regel wird der Begriff auch dazu verwendet, volkssprachigen von lateinischem liturgischen und außerliturgischen geistlichen Gesang zu unterscheiden. Darüber hinaus umfasst das geistliche Lied ein breites Typenspektrum, das von der privaten Frömmigkeit bis zur Liturgienähe, vom Liedgut kirchlicher und nichtkirchlicher Gemeinschaften bis zum Repertoire von Kirchengemeinden reicht.
Für das Mittelalter wird der Begriff "Geistliches Lied" vor allem für das volkssprachige einstimmige Lied verwendet, das von der Gemeinde oder einem Chor bei der Messliturgie, bei kirchlichen Feiern (etwa in der Osternacht) oder bei Andachten (etwa Wallfahrten) gesungen wurde. Diese geistlichen Lieder hatten innerhalb der prinzipiell lateinischen Liturgie im strengen Sinne keine liturgische Funktion. Sie bildeten aber eine Tradition aus, die nach der Reformation - mit Ausnahme der katholischen Kirche - in das liturgisch konstitutive Kirchenlied mündete. Um diesen Kern gruppiert sich eine Vielzahl geistlicher Lieder aus kirchlichen Gemeinschaften (Orden) und nichtkirchlichen Gemeinschaften (Hofgesellschaften, stadtbürgerliche Bildungsschichten, Meistersingergesellschaften), die durchweg zur Pflege privater (zum Teil jedoch öffentlich inszenierter) Frömmigkeit dienten. Diesem Befund entsprechend stehen im nachfolgenden Überblick die einstimmigen volkssprachigen Gemeinde- und Chorlieder des Mittelalters aus dem Umfeld der Liturgie, der kirchlichen Feiern und Andachten im Mittelpunkt.
Baiern (zu dem seinerzeit auch das Erzstift Salzburg zählte) hat bei der Begründung und Entfaltung dieser Tradition einen nicht unbedeutenden Beitrag geleistet. Dies zeigt sich an der hohen Zahl an Erstbelegen für das mittelalterliche geistliche Lied, auf die sich der nachfolgende Überblick konzentriert. Franken und Schwaben treten in diesem Bereich dagegen eher rezeptiv in Erscheinung. Ob sich dieser Sachverhalt nur auf die Zufälligkeiten der Überlieferung zurückführt, lässt sich nur schwer einschätzen. Zumindest standen auch unterschiedliche pastorale Ambitionen einzelner Orden und der Bistümer hinter diesem auffälligen Befund.
Anfänge
Die frühesten Überlieferungszeugnisse deuten darauf hin, dass die Gläubigen den Liedvortrag eines Vorsängers mit einem Zuruf (Akklamation) beantworteten. In voll ausgebildeter Weise liegt diese Gesangspraxis erstmals im "Petruslied" vor, das im ersten Drittel des 10. Jahrhunderts auf der Schluss-Seite einer Freisinger Handschrift (BSB clm 6260) als Nachtrag aufgezeichnet wurde und das vielleicht noch aus dem 9. Jahrhundert stammt. Einer zwischenzeitlich angenommenen Entstehung des Lieds in Regensburg fehlt eine überzeugende Begründung. Inhaltlich stellt das dreistrophige, durchweg unter mittelalterlicher Notenschrift (Neumen) stehende Lied in der Tradition der lateinischen Petrus-Hymnik den Apostelfürsten als Heilsvermittler der Menschen heraus. Formal scheint es sich um ein Prozessionslied zu handeln, bei dem die Gläubigen auf jede vorgetragene Strophe mit einem gesungenen "Kyrie eleyson, Christe eleyson" ("Herr, erbarme dich, Christus, erbarme dich") antworteten. Diese Akklamation dürfte der (Allerheiligen-) Litanei entlehnt sein. Mit variierten Texten findet sich die Form des akklamierenden Rufs später und bis in die Neuzeit bei den Wallfahrtsliedern.
Da die "Eleyson"-Akklamation in den späteren (zunächst einstrophigen) Gemeindeliedern häufig als Strophenschluss wiederkehrt, dürfte dieses Charakteristikum zu deren mittelalterlicher Bezeichnung als 'Leisen' (Singular: der 'Leis, der 'Leise') geführt haben. Das berühmteste, bis heute interkonfessionell gesungene Beispiel dafür ist "Christ ist erstanden". Sein neumierter Anfang findet sich bereits um 1180/90 in einem Ordinarium des Salzburger Doms (Salzburg, UB, cod. II. 6) im Zusammenhang mit dem Besuch des symbolischen Grabes Jesu in der Osternacht (Visitatio sepulchri) als abschließender Gesang der Gemeinde. Von hier aus fand dieses Lied eine weite Verbreitung bei der Predigt, bei Wallfahrten und als abschließender Gesang der Gläubigen bei deutschsprachigen Passions- und Osterspielen.
Zu den bis heute bekannten Leisen zählt auch das Lied "Nun bitten wir den heiligen Geist", das im Zusammenhang mit der lateinischen Pfingstsequenz "Veni sancte spiritus" steht. Vollständig zitiert es erstmals der berühmte franziskanische Prediger Berthold von Regensburg (gest. 1272) in seinen Predigten.
Lieder zur Predigt
Da die Predigt keiner liturgischen Regelung unterlag, war sie für Rufe und Lieder (aber auch für Gebete) der Gemeinde offen. Als übliche Orte zeichnen sich dafür der Predigtschluss und vor allem die Zäsur zwischen Ankündigung des Predigtthemas (Exordium) und anschließendem Predigttext ab. Bereits im 12. Jahrhundert ist in einer Benediktbeurer Handschrift (BSB cgm 39) am Schluss einer Allerheiligen-Predigt "Helfen <mögen> uns alle Heiligen" als Ruf der Gemeinde belegt. Das Beispiel zeigt, dass sich die Rufe und die Lieder inhaltlich am Predigtthema bzw. am Kirchenjahr orientierten. Bekannte Beispiele sind zur Adventszeit "Mitten in unseres Lebens Zeit", eine Übertragung der lateinischen Prozessionsantiphon "Media vita in morte sumus", "Der Tag, der ist so freudenreich", eine Übertragung der lateinischen Cantio "Dies est laetitiae", zu Weihnachten und das schon genannte "Christ ist erstanden" während des Osterfestkreises.
Die älteste Übertragung (Mitte 15. Jahrhundert) des "Media vita" stammt aus der Erzdiözese Salzburg (St. Peter, Stiftsbibliothek, ms. b. IX 28 [10]). Bereits um 1480 ist aus Ebersberg (BSB clm 6034) eine zweistimmige Fassung des später beliebten Liedes (Leise) belegt. Für das Lied "Der Tag, der ist so freudenreich" gilt eine Wessobrunner Handschrift (BSB cgm 444) um 1425 als ältester Nachweis. In einer Amberger Handschrift (BSB clm 2992) findet sich als Nachtrag des 16. Jahrhunderts das deutsch-lateinische Mischlied "Ein Kindelein so löbelich / est natus hodie", das zur zweiten Strophe des "Der Tag, der ist so freudenreich" wurde. Im Anschluss an die Predigt scheinen von der Gemeinde auch Lieder über die Zehn Gebote (Dekaloglieder) gesungen worden zu sein; eines dieser Lieder, "Süßer Vater, Herr Gott" wurde in einer mittelbairischen Handschrift (BSB clm 6034) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aufgezeichnet. Psalmlieder vor und nach der Predigt sind hingegen eine Neuerung der Reformation.
Lieder im Umkreis der Liturgie
Die Messe als zentrale liturgische Feier der Gläubigen, zu der im Mittelalter nur das Latein als Kirchensprache zugelassen war, zeigt besonders deutlich die Schwierigkeiten, volkssprachige geistliche Lieder im Rahmen der Liturgie zu etablieren. So lässt sich für Baiern kein einziges geistliches Lied in der Volkssprache nachweisen, das von der Gemeinde innerhalb der Messe gesungen wurde. Anders steht es mit gottesdienstlichen Feiern als ortsgebundenen Erweiterungen der normativ geregelten Liturgie. Hier finden sich gerade im bairischen Sprachraum vielfältige Zeugnisse für geistliche Gemeinde- und Chorlieder. Aber selbst hier zeigen sich deutliche Differenzen: Die zahlreichen Übertragungen der liturgischen Hymnen und Sequenzen, die uns besonders zahlreich in bairischen Handschriften überliefert sind, fanden nur ausnahmsweise den Weg zum kirchlichen Gemeinde- und Chorlied. Es wurde vielmehr von der Cantio angeregt, die als lateinisches Strophenlied bereits selbst eine ausschmückende Erweiterung der Liturgie darstellt.
Volkssprachige geistliche Lieder finden sich im Laufe des Kirchenjahrs vor allem bei gottesdienstlichen Feiern des Weihnachts- und des Osterfestkreises. Zu Weihnachten hervorzuheben ist das Kindelwiegen, bei dem im Anschluss an das kanonische Abendgebet (Komplet) in szenischer Darstellung das Jesuskind von Maria und Josef in den Schlaf gewiegt wird. Ausgangspunkt dafür ist die Cantio "Resonet in laudibus", die gemeinsam mit dem refrainartigen "Magnum nomen domini Emmanuel" vornehmlich zur Komplet gesungen wurde. Dessen Melodie und einzelne Strophen bilden die Grundlage für das "Joseph, lieber neve mein" (heutige Form: "Joseph, lieber Joseph mein") als Hauptgesang beim Kindelwiegen. Das beliebte, auch in Weihnachtsspielen verwendete Lied ist u. a. in zwei Handschriften - eine aus Tegernsee (BSB cgm 715) Mitte des 15. Jahrhunderts - mit Liedern des Mönchs von Salzburg überliefert, einem Anonymus am Hofe des Salzburger Erzbischofs Pilgrim II. von Puchheim (reg. 1365-1396). Daher wird es immer wieder, doch zu unrecht, als dessen Schöpfung angesehen. Zum "Magnum nomen domini Emanuel" überliefert eine Wessobrunner Handschrift (BSB cgm 444) um 1425 auch das Lied "Da Gabriel der Engel klar" mit der bekannten Strophe "Sausa Minne, / Gottes Minne, / nun schweig und ruh" zur Beschwichtigung des "weinenden Kindes". Aus dem Repertoire der deutschsprachigen Weihnachtslieder verdient das bereits im Abschnitt "Lieder zur Predigt" genannte "Der Tag, der ist so freudenreich" hervorgehoben zu werden.
Auch beim Osterfestkreis waren kirchliche Feiern mehrfach Ausgangspunkt für deutsche geistliche Lieder. Dazu gehören Finster- oder Pumpermetten (Matutinae tenebrarum) an den drei letzten Tagen der Karwoche mit dem Passionshymnus "Rex Christe factor omnium", der im 14. Jahrhundert um den Refrain "Laus tibi Christi" erweitert wurde. Zu dessen deutscher Fassung zählt die auch für Bayern (BSB cgm 715) bezeugte Strophe "Ach du armer Judas, was hast du getan", die beim Brauch des Judas-Austreibens, aber ebenso zu politischen Kontrafakturen (vorhandene Melodie mit neuem Text unterlegt) - besonders in der Reformation - diente. Vielfach wurde zum Abschluss des Grabbesuchs (Visitatio sepulchri) am Ende der Ostermatutin von der Gemeinde das bereits genannte "Christ ist erstanden" angestimmt.
Wallfahrts- und Pilgerlieder
Wie zu den Prozessionen finden sich auch bei den Wallfahrten zunächst Akklamationen (vgl. den Abschnitt "Anfänge"), die aber offenkundig bald um geistliche Lieder ergänzt wurden. Bereits ab dem Beginn des 13. Jahrhunderts ist das Lied "In Gottes Namen fahren wir" belegt, das im weiteren Verlauf - später auch erweitert um das einstrophige, gleichfalls seit dem 13. Jahrhundert bezeugte Wallfahrtslied "Helf uns das heilige Grab" - als Reise-, Kampf-, Wallfahrts- und Prozessionslied diente. Seine älteste Aufzeichnung liegt in einer Wessobrunner Handschrift (BSB cgm 444) um 1425 vor. Aus zwei Tegernseer Handschriften (BSB cgm 809 und cgm 817) des beginnenden 16. Jahrhunderts kennen wir das Jakobslied, das wohl für eine Pilgerreise nach Santiago di Compostela gedacht war.
Lieder nichtkirchlicher Gemeinschaften
Religiöse Lieder unterschiedlichster Ausprägung waren fester Bestandteil der Hofgesellschaften (Minnesänger, Sangspruchdichter), städtischer Bildungsschichten und der Meistersingergesellschaften. Ihr Liedgut blieb freilich in der Regel auf diese Rezipientenschicht beschränkt. Für das mittelalterliche Baiern lassen sich jedoch zwei wichtige Ausnahmen benennen: Für die Übertragungen lateinischer Hymnen und Sequenzen durch den Mönch von Salzburg, bei denen Passion, Ostern, Fronleichnam und Maria im Zentrum stehen, lässt sich eine ausschmückende Funktion bei Gottesdiensten am Salzburger Bischofssitz nicht völlig ausschließen. Und bei dem seit 1500 zunächst in Einblattdrucken außergewöhnlich breit überlieferten Marienlied "Maria zart" dürfte zumindest die Melodie von einem Angehörigen der Augsburger Bildungsschicht stammen.
Literatur
- Johannes Janota, "Kirchenlied". Abschnitt II, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil 5. Band, Kassel/Stuttgart 2. Auflage 1996, Sp. 62-67.
- Johannes Janota, Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 23), München 1968.
- Kurt Ruh u. a. (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 1.-11. Band, Berlin/New York 1978-2004. (Artikel zu den einzelnen Liedern und Autoren)
- Burghart Wachinger, Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter (Hermaea Neue Folge 57), Tübingen 1989.
Quellen
- Wilhelm Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen von den frühesten Zeiten bis gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts. 4 Bände (4. Band hg. von Joseph Gotzen), Freiburg im Breisgau 1866-1911. Nachdruck Hildesheim 1962.
- Max Lütolf, Geistliche Gesänge des deutschen Mittelalters. Melodien und Texte handschriftlicher Überlieferung bis um 1350 (Das deutsche Kirchenlied, Abteilung II), Kassel seit 2003 im Erscheinen begriffen.
- Franz Viktor Spechtler, Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Neue Folge 51), Berlin/New York 1972.
- Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von den ältesten Zeiten bis zum Anfang des VII. Jahrhunderts. 5 Bände, Leipzig 1864-1877. Nachdruck Hildesheim 1964.
Weiterführende Recherche
Externe Links
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Empfohlene Zitierweise
Johannes Janota, Geistliches Lied (Mittelalter), publiziert am 13.03.2009; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Geistliches Lied (Mittelalter) (3.10.2024)