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Güterverzeichnisse des Frühmittelalters

Aus Historisches Lexikon Bayerns

von Sebastian Grüninger

Güterverzeichnisse sind Besitzaufzählungen im Rahmen der Grundherrschaft. Ein halbes Dutzend solcher Verzeichnisse aus dem frühmittelalterlichen Bayern hat sich erhalten. Entstanden sind sie zumeist im Zusammenhang mit der Übernahme und Konsolidierung der karolingischen Herrschaft im ehemals agilolfingischen Herzogtum, also nach 788. Formal und inhaltlich reichen sie von wortkargen Hubenlisten (Passau) über die Zusammenstellung ausführlicherer und zahlreicherer agilolfingerzeitlicher Besitzübertragungen (Salzburg, Niederaltaich, evtl. auch Benediktbeuern) bis zur detaillierten Beschreibung von Zubehör und Herrschaftsrechten einzelner Hofverbände/Villikationen mit urbarialem Charakter (Staffelsee und Bergkirchen). In allen Formen dienten sie der herrschaftlichen Besitzsicherung und der Vermessung des Wertes von Grundbesitz. Insofern zählen die Besitzverzeichnisse zur sogenannten pragmatischen Schriftlichkeit. Nach Form, Inhalt und Überlieferungszusammenhang besitzen sie zudem eine große Bedeutung für die kirchliche Traditionsbildung.


Güterverzeichnisse als vielfältige Quellengattung

Erste Seite des Breviarius Urolfi von 788. Abschrift im Kopialbuch des Abtes Hermann von Niederaltaich von 1254. (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Kloster Niederalteich Amtsbücher und Akten 1 lizenziert durch CC BY-NC-ND 4.0 via bavarikon)

Aus dem frühmittelalterlichen Bayern liegen sechs Güterverzeichnisse ausschließlich geistlicher Grundherrschaften und sehr unterschiedlichen Charakters vor: Die Notitia Arnonis (NA) und die Breves Notitiae (BN) der bischöflichen Kirche Salzburg, der Breviarius Urolfi (BU) aus dem Kloster Niederaltaich, eine kurze Zusammenstellung von Huben aus Schenkungen an die Passauer Kirche sowie die Inventare/Urbare der Augsburger Villikation Staffelsee und der Kirche Bergkirchen im Bistum Freising. Als siebtes Verzeichnis ist vielleicht auch eine Auflistung von frühen Schenkungen an das Kloster Benediktbeuern hinzuzurechnen.

Typologie

Güterverzeichnisse sind grundherrschaftliche Quellen. Ihre Ausrichtung kann unterschiedlich sein. Treten zur Güterbeschreibung die Angaben von Leistungen und Erträgen hinzu, besitzen die Verzeichnisse urbariellen Charakter und dienen dem Leistungsnachweis, u.U. auch der Verwaltung der Grundherrschaft. Dazu gehören die in anderen Artikeln behandelten Inventare von Staffelsee aus der Zeit um 800 und Bergkirchen aus dem mittleren 9. Jahrhundert.
Andere Güterverzeichnisse sind bloße Auflistungen von Besitz bzw. Zusammenstellungen von Besitzübertragungen, die in der Regel zu dessen Sicherung angefertigt wurden. Auf diesen ruht im Folgenden der Fokus, denn zu diesem Typus gehören alle anderen Verzeichnisse aus dem frühmittelalterlichen Bayern, so die Notitia Arnonis (NA) und die Breves Notitiae (BN) für den Besitz des (Erz-)Bistums Salzburg sowie der Breviarius Urolfi (BU) für das Kloster Niederaltaich. Neben diesen drei wichtigsten und unten ausführlicher zu behandelnden Verzeichnissen existiert für Passau eine wortkarge Liste von rund 25 herzoglichen und anderen Schenkungen betreffend 81½ Hufen (mansas), also abhängige bäuerliche Hofstellen, vier Kirchen sowie Fiskalland (dominicales) an das Bistums Passau.
Einen Sonderfall bildet Benediktbeuern. Im sogenannten Rotulus historicus sowie im Breviarium Gottschalci aus der Mitte des 11. Jahrhunderts finden sich Aufzählungen von Schenkungen aus agilolfingischer Zeit, mitunter ganzer villae mit pauschal erwähntem Zubehör (adjacentia), die im Rotulus in die frühe Geschichte dieses Klosters eingefügt sind. Die vom Mönch Gottschalk (gest. nach 1062) verfassten Texte zur Gründung Benediktbeuerns sind jedoch quellenkritisch so problematisch, dass auch seine beiden Besitzverzeichnisse von der Forschung eher selten berücksichtigt werden. Immerhin wird darauf hingewiesen, dass sie auf frühmittelalterlichen Vorlagen beruhen könnten.
Neben diesen eigentlichen Güterverzeichnissen existieren Listen von Besitzschenkungen ohne Lokalisierung der übertragenen Güter, etwa die Ausstattung des Klosters Isen unter Abt Joseph in den Freisinger Traditionen. Ebenso enthalten diverse Schenkungsurkunden kürzere und längere Besitzaufzählungen, was die Ein- und Abgrenzung der heterogenen Textgattung erschwert.

Inhalt

Formal und inhaltlich gibt es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Texten: Während das Passauer Verzeichnis auf die Nennung von Hufen, Kirchen und Salland an verschiedenen Orten beschränkt ist, nennen die anderen Verzeichnisse neben Hufen auch andere Schenkungsobjekte wie ganze Fronhofverbände/Villikationen (curtes bzw. villae) und Kirchen, die teilweise, wie bei Bergkirchen, ebenfalls als Zentren von Villikationen fassbar werden, sowie einzelne Äcker, Weinberge, Wälder und anderes Zubehör.
Diese Besitzauflistungen sind in unterschiedlichem Maß in erzählende Passagen eingebettet, also in einen kirchen- bzw. klostergeschichtlichen und hagiografischen Zusammenhang. Insofern handelt es sich bei den Besitzverzeichnissen nur teilweise um pragmatische Schriftlichkeit. Vielmehr haben die einen Verzeichnisse mehr, die anderen weniger auch literarischen und hagiografischen Charakter und sind damit Zeugnisse für die im Frühmittelalter typische Besitzsicherung durch die Autorität der Gründungstradition und -heiligen. Herwig Wolfram (geb. 1934) spricht in diesem Zusammenhang von einem Genus mixtum sowie von Sammelnotizen.

Bezeichnungen

Zeitgenössisch werden die bayerischen Besitzverzeichnisse teilweise als Breve/Breviarium(-us) (lat. brevis ‚kurz‘) bezeichnet, als kurze, zusammenfassende Auflistungen des Besitzes z.B. der Kirche von Bergkirchen oder als Zusammenführung zahlreicher Schenkungsnotizen im Fall der Salzburger Breves Notitiae. Das andere Salzburger Verzeichnis wird Notitia (Arnonis) genannt (Singular). Die Bezeichnung Breviarius Urolfi für eine Auflistung von agilolfingischen Schenkungen an das Kloster Niederaltaich an diversen Orten geht vermutlich erst auf eine Abschrift Abt Hermanns von 1254 zurück, der seine wohl frühmittelalterliche Vorlage als carta, also Urkunde, des Abtes Urolf (788-814) charakterisiert. Für die überlieferten Güterverzeichnisse und ihre Vorlagentexte dominieren ansonsten jedoch die zeitgenössischen Bezeichnungen notitia und breve.

Zeitliche Einordnung/Datierung

Dass mit Ausnahme der Inventare/Urbare von Staffelsee und Bergkirchen sämtliche Verzeichnisse frühestens in Handschriften aus dem Hochmittelalter überliefert sind, erschwert ihre Datierung. Mit Ausnahme von Bergkirchen, dessen Inventar/Urbar wohl um die Mitte des 9. Jahrhunderts entstand, sind alle bayerischen Verzeichnisse um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert zu datieren. Sie stehen damit im zeitlichen Zusammenhang mit der Konsolidierung der karolingischen Herrschaft in Bayern nach dem Sturz des agilolfingischen Herzogs Tassilo III. 788 sowie deren kirchenpolitischen Folgen. Konkreter werden das Passauer Verzeichnis, die NA aus Salzburg, der BU aus Niederaltaich und teilweise auch die Güterlisten aus Benediktbeuern mit tatsächlichen oder erhofften Bestätigungen von agilolfingischen Besitzübertragungen durch Karl den Großen (reg. 768-814, Kaiser ab 800) unmittelbar nach dessen Machtübernahme in Verbindung gebracht. Vermutlich war aber auch die neue fränkische Herrschaft selber an Bestandsaufnahmen kirchlicher Besitzungen und vor allem von Fiskalgut interessiert.

Die Salzburger Güterverzeichnisse: Notitia Arnonis (NA) und Breves Notitiae (BN)

Die beiden Salzburger Güterverzeichnisse sind in sieben Handschriften ab dem 12. Jahrhundert überliefert, wobei nur eine davon Teile aus beiden Verzeichnissen enthält. Was die NA betrifft, so folgt die Forschung der Aussage des Textes (NA 8,8), wonach die Notitia von einem Diakon Benedict im Auftrag von Bischof Arn (785-821) und mit Zustimmung Karls des Großen zusammengestellt wurde, und zwar im selben Jahr, als dieser Bayern in Besitz nahm, also 788 bzw. zwischen 788 und Ende 790, als Karl der Große dem Bistum seinen auf diese Weise belegten Fiskalbesitz bestätigte. Mangels entsprechender Hinweise im Text fällt die Datierung der BN schwerer, doch spricht einiges für einen Zeitpunkt kurz nach der Erhebung Salzburgs zum Erzbistum 798, möglicherweise im Zusammenhang mit der Immunitätsverleihung Karls des Großen.

Inhaltlich weisen die beiden Verzeichnisse über weite Strecken große Ähnlichkeiten auf. Diese gehen zweifellos auf gemeinsame Vorlagen zurück, die jeweils unterschiedlich detailliert übertragen sowie begrifflich und stilistisch überarbeitet wurden. Fritz Lošek (geb. 1957), der Herausgeber der jüngsten Edition (2006), kann aufzeigen, dass es sich dabei eher um einzelne Schenkungsurkunden (cartae) als bereits um ein Traditionsbuch handelte, wie dies Heinrich Wanderwitz (geb. 1949) für die gemeinsamen Teile der beiden Verzeichnisse postuliert. Die erzählenden Passagen, insbesondere der ausführlicheren BN greifen demgegenüber auf eine Vorlage aus der Zeit Bischof Virgils (749/55-784) zurück. Dieser sogenannte Libellus Virgilii war nach Herwig Wolfram wohl eine in mehreren Phasen entstandene Streit- bzw. Rechtfertigungsschrift zur Sicherung von durch den einheimischen Adel gefährdeten bzw. entfremdeten Besitzungen der Maximilianszelle in Bischofshofen. Auch lassen sich Bezüge zur Salzburger Hagiografie in den Verzeichnissen ausmachen.

Analoge Stellen aus der Notitia Arnonis und den Breves Notitiae
Notitia Arnonis (ed. Lošek, 72-75). Breves Notitiae (ed. Lošek, 88-91).
[1,2] Simili modo tradidit idem dux [Theodo] villa nuncupante Pidinga in pago Salzburchgaoe iuxta fluvium Sala mansos XXX inter vestitos et apsos vel quicquid ad ipsos mansos aspicitur. [2,4] ... Postea vero domnus et sanctus Růdbertus episcopus Theodoni duci dedit de proprio conquestu suo in auro et argento solidos mille et comparavit ad eum villam, quȩ dicitur Pidinga, cum servis ibi manentibus in coloniis suis XXX, curtem et casam cum aliis edificiis et territorio ibidem pertinenti cum pratis, pascuis, silvis ac montibus, molendariis aquarumve decursibus, cum omnibusque confiniis ibidem pertinentibus, et eternaliter ad ipsam sedem deservire uulgariter ac publie confirmavit.
[1,2] In gleicher Weise übergab derselbe Herzog das Dorf, genannt Piding, im Gau Salzburggau am Fluß Saalach 30 Hufen, teils bewirtschaftet, teils unbewirtschaftet, und alles, was zu ebendiesen Hufen gehört. 2,4] … Später aber gab der heilige Herr Bischof Rupert dem Herzog Theodo aus seinem eigenen Vermögen in Gold und Silber tausend Solidi und kaufte bei ihm das Dorf, das Piding genannt wird, mit den Unfreien, die dort behaust waren auf ihren 30 Hofstellen, den Hof und das Haus mit den anderen Gebäuden und dem dorthin gehörenden Landbesitz mit Wiesen, Weiden, Wäldern und Almen, Mühlen und Wasserläufen und mit allen angrenzenden Gebieten, die dorthin gehörten, und bestätigte, daß es auf ewig zu ebendiesem Bischofssitz gehöre vor dem Herzog und dem Volk.
[1.4] Necnon et prefatus dux tradidit Romanos et eorum tributales mansos LXXX inter vestitos et apsos commanentes in supradicto pago Salzburgense per diversa loca. [2,6] Dedit etiam ad eandem sedem item Theodo dux de Romanis tributales homines LXXX cum coloniis suis in diversis locis.
[1,4] Und außerdem übergab der vorher genannte Herzog auch Romanen und 80 abgabepflichtige Hufen von ihnen, teils bewirtschaftet, teils unbewirtschaftet, die im oben genannten Gau Salzburggau an verschiedenen Orten liegen. [2,6] Auch gab an denselben Sitz wiederum Herzog Theodo von den Romanen 80 abgabepflichtige Leute mit ihren Hofstellen an verschiedenen Orten.
[1,7] In pago vero Drunense tradidit memoratus dux villulam, que vocatur Pahman, cum mansos X inter vestitos et apsos, cum silva et prata vel pascua ad eadem villulam pertinentem. [2,9] Deditque idem dux Theodo ad iam dictam sedem in pago Trůnsê in loco, qui dicitur Pachmanna, curtem et casam cum aliis appendiciis suis, terris, silvis, pratis et aquis et manentes X inter servos et liberos cum coloniis suis.
[1,7] Im Traungau aber übergab der erwähnte Herzog ein Dorf, das Bachmanning heißt, mit zehn Hufen, teils bewirtschaftet, teils unbewirtschaftet, mit Wald und Wiesen sowie Weiden, zu demselben Dorf gehörend. [2,9] Und es gab derselbe Herzog Theodo an den schon genannten Sitz im Traungau im Ort, der Bachmanning genannt wird, einen Hof und das Haus mit seinem anderen Zubehör, Ländereien, Wäldern, Wiesen und Wassern und zehn Behauste, teils Unfreie, teils Freie, mit ihren Hofstellen.
Grundherrschaft der Salzburger Kirche Ende des 8. Jahrhunderts. Abb. aus: Dopsch, Heinz: Geschichte Salzburgs. Teil I,1: Vorgeschichte, Altertum, Mittelalter, Salzburg 1981, 170/171. (Heinz Dopsch, Pustet Verlag)

Weitere Unterschiede kommen hinzu: Die NA hat eindeutig pragmatischeren Charakter als die BN. Dies zeigt sich bereits in der recht knappen Vorrede und den Einleitungen zu einzelnen Abschnitten. Selbst der Heilige Rupert wird profan domnus Hrodbertus genannt, wogegen die BN über mehrere Kapitel hinweg die Salzburger Gründungsgeschichte durch diesen Heiligen schildern, inklusive der Bekehrung und Taufe Herzog Theodos, sowie den Kampf um angeblich unrechtmäßig entfremdeten Besitz. Der Schluss der NA mit der Nennung des Konsenses Karls des Großen, einer anachronistischen Zeugenliste und der Nennung des mit der Abfassung betrauten Diakons Benedikt verleiht dem Text einen urkundlichen Charakter, wozu die Bezeichnung notitia passt.
Die Güteraufzählung der NA listet zunächst die zahlreichen Schenkungen der agilolfingischen Herzöge Theodo II. (ca. 680-716), Theodbert (719-725), Hucbert (725-737), Odilo (737-748) und Tassilo III. (748-788) an die Bischofskirche St. Peter auf. Darauf folgen die Schenkungen von freien Leuten (liberi Baiovarii), die den Konsens der Herzöge benötigten, weil es sich um herzogliche Lehen handelte, darunter mehrere Klöster, nämlich Gars und Au am Inn sowie Otting. Diese freien Schenker werden sozial nicht differenziert, allerdings finden sich unter ihnen auch bedeutende Amtsträger wie ein Graf (comes) und ein Richter (iudex). Die dem Bistum übertragenen Lehensgüter wurden teilweise explizit als Herzogs- bzw. Fiskalgut (causa dominica) ausgewiesen. Es folgen Berichte über die Gründung und Ausstattung der dem Bistum übertragenen Klöster Nonnberg in Salzburg und der Maximilianszelle in Bischofshofen (A, Salzburg Land).
An die Konsensschenkungen der herzoglichen Lehensgüter schließt eine Liste von Kirchen in diversen Gauen an, die als ecclesiae parrochiales bezeichnet werden. Diese Kirchen gehören explizit zum bischöflichen Lehen und wurden angeblich mit Barschalken und ihren Knechten ausgestattet. Da die Barschalken in der Regel als Freie bzw. Minderfreie mit Herzogs- bzw. Fiskalgut in Verbindung gebracht werden, liegt es nahe, diese ecclesiae parochiales nicht wie in der Forschung oft geschehen, als bischöfliche Eigenkirchen zu deuten, sondern als Kirchen mit einem öffentlichen Charakter innerhalb des Bistumssprengels, als Herzogskirchen (in Bischofshand) oder gar Fiskalkirchen. Interessanterweise fehlt diese Liste in den BN.
Demgegenüber reicht der Fokus der BN über ehemaliges Herzogsgut bzw. Fiskalgut hinaus. Zu den Schenkungen der Herzöge sowie deren Lehensträgern kommen in den BN zahlreiche Übertragungen von Eigengütern von Priestern und Laien, teilweise auch Frauen hinzu. Es handelt sich um Schenkungen und Tauschgeschäfte und es erscheinen nicht nur Adelige (nobiles) unter den Wohltätern, sondern explizit auch mediokre Freie (mediocres) und sogar solche, die sich mit ihrem Eigengut selbst in die Knechtschaft begaben. Neben der bereits in der NA erwähnten, von den Herzögen übergebenen Infrastruktur zur Salzgewinnung in Reichenhall, widmen die BN ein längeres Kapitel den bischöflichen Jagdrechten.
Während also die NA insbesondere die Fiskalgüter in bischöflicher Hand auflistet, scheint in den BN der gesamte erschließbare, dann bereits erzbischöfliche Besitz zusammengetragen. Inwieweit dieser vollständig verzeichnet ist, lässt sich nicht überprüfen, enden die BN doch anders als die NA ohne eigentlichen Schluss mit der Übertragung von Grundbesitzungen. Auch deuten Ausschmückungen bzw. Manipulationen darauf hin, dass über tatsächlichen Besitz hinaus auch Güter verzeichnet wurden, die die Salzburger Kirche lediglich für sich beanspruchte bzw. die umstritten waren.
Unterschiede gibt es auch in der Anordnung: Die NA nimmt im ersten Teil eine Gliederung nach geografischen Gesichtspunkten und entlang der beschenkten Salzburger Kirchen vor. Dieser wird die Chronologie der schenkenden Herzöge untergeordnet. In der deutlich komplexer gegliederten BN ist dies tendenziell umgekehrt.
Die beiden Verzeichnisse geben die gleichen Vorlagen unterschiedlich wieder. Das zeigt sich vor allem in der Wahl der Begrifflichkeiten: Die BN bezeichnen sechs Herrenhöfe als curtis, während die NA durchgehend von villa spricht. Noch auffälliger ist, dass die NA für abhängige Hofstellen, also Hufen, stets den Begriff mansus braucht, während die BN bei den gleichen Objekten teilweise auch von colonia oder von tributpflichtigen Abhängigen (tributales) spricht. Letzteren Begriff verwendet die NA nur, wenn sie romanische Zinspflichtige (Romani tributales) von ganzen Gauen zusammenzählt. Die frühmittelalterliche Gesellschaft Bayerns erscheint in den BN also wesentlich differenzierter als in der NA.
Diese Unterschiede belegen bei den BN eine ausgeprägtere begriffliche Varietät, was eine größere Nähe zu den Vorlagen vermuten lässt, während die NA standardisierter erscheint. Die Vermutung liegt nahe, dass diese größere Nähe zu karolingischen Standards genauso wie der inhaltliche Fokus mit dem bereits erwähnten Verwendungszweck der NA zusammenhängt, die Rechtmäßigkeit des Besitzes von Reichs- bzw. Fiskalgütern gegenüber Karl dem Großen als Rechtsnachfolger der agilolfingischen Herzöge nachzuweisen. Demgegenüber sind die Formulierungen der erzählenden Passagen in der wohl stärker für bistumsinterne Zwecke verfassten BN durch literarische und hagiografische Elemente angereichert.
Die Forschung hat den BN teilweise eine prokarolingische, der NA eine eher agilolfingerfreundliche Tendenz zugeschrieben. Diese Sichtweise wird inzwischen kritisch beurteilt und stattdessen die unterschiedliche Beurteilung der einzelnen Herzöge in beiden Quellen betont.

Der Breviarius Urolfi (BU) von Niederaltaich

Schenkungen an das Kloster Niederaltaich nach dem Breviarius Urolfi. (Gestaltung Stefan Schnupp; Vorlagen: Spindler/Diepolder, Bay. Geschichtsatlas, 2; Tiefenbach (Hg.), Die Namen des Breviarius Urolfi; Klose, Die Urbare Abt Hermanns von Niederalteich)

Der Breviarius Urolfi (BU) ist in fünf Handschriften überliefert, die wie im Falle Salzburgs alle nicht vor das Hochmittelalter zurückreichen. Die wichtigste davon findet sich am Anfang eines Kopialbuches des Abtes Hermann (1242–1273) von 1254. Sie geht laut einer Vorbemerkung Hermanns auf eine Urkunde (carta) des Abtes Urolf (788-814) zurück und soll laut diesem Zeugnis wortgetreu abgeschrieben sein. So erscheint bei dieser Abschrift aus dem 13. Jahrhundert die Sprache tatsächlich ursprünglicher als bei einem wohl deutlich älteren Einzelblatt aus dem 12. oder gar 11. Jahrhundert.
Nicht nur der im Kopialbuch erwähnte Verfasser der Vorlage, der wohl 788 eingesetzte Abt Urolf, sondern auch die inhaltliche Ähnlichkeit zu den Salzburger Verzeichnissen lassen die Forschung an den gleichen Entstehungszusammenhang denken, also an die karolingische Machtübernahme in Bayern.
Diese Ähnlichkeit betrifft insbesondere den Grad der Detailliertheit der einzelnen Besitzübertragungen: Neben der Schenkung von ganzen Siedlungen bzw. Fronhofverbänden vor allem im Rahmen der Gründungsausstattung durch Herzog Odilo, wie in der NA in der Regel villa genannt, sowie von Klöstern und Kirchen, stehen vor allem Hufen im Zentrum der Schenkungen und zwar explizit von freien Zinspflichtigen (tributales) und servi, teilweise mit dem Zusatz dominici. Unter dem Zubehör werden meist stereotyp marchae und/oder termini aufgeführt, wohl im Zusammenhang mit der territorialen Abgrenzung der Besitzungen. Zusätzlich finden v.a. Wälder, Weinberge und Zehntrechte Erwähnung.
Anders als in der Salzburger NA, welcher der BU sowohl begrifflich als auch in seinem pragmatischen Charakter deutlich gleicht, werden hier allerdings nicht nur die herzoglichen Schenkungen und solche mit herzoglichem Konsens erwähnt, also Fiskalgüter, sondern in einem zweiten Teil wie in den BN auch Erbgüter (hereditates) unterschiedlicher Schenker.
Die Unterscheidung von Konsensschenkungen, also von herzoglichen Lehensgütern und Schenkungen aus Erb- bzw. Eigengut rückt den BU, der wohl mehrere unterschiedliche Vorlagentexte in sich vereinigt, laut Heinrich Wanderwitz zeitlich näher an die Salzburger NA als an die jüngeren BN heran, welche diese Unterscheidung nicht mehr machen, also wohl nahe an den Machtwechsel von 788. Zum Teil werden für die einzelnen Teile aber auch unterschiedliche Entstehungsschichten postuliert. Anders als die Salzburger Verzeichnisse enthält der BU zudem eine Aufzählung von entfremdetem Klosterbesitz, wobei offen bleiben muss, wo hier die Grenze zu reiner Anspruchsschriftlichkeit liegt.
Der Text wird einleitend als Comemoratio, also Erinnerung an die Gründungsausstattung durch Herzog Odilo bezeichnet. Dies trifft zwar nicht auf den ganzen Text zu, der auch Schenkungen Tassilos und vor allem solche mit Konsens dieses letzten Herzogs enthält. Die Bezeichnung verweist jedoch auf den traditionsstiftenden Charakter dieser Textgattung, die sich somit auch im BU als Genus mixtum erweist.

Bedeutung der Güterverzeichnisse für die Landesgeschichte

Die Erforschung der Güterverzeichnisse, ihrer Funktion und ihres Quellenwerts hat eine lange Geschichte, da diese Quellengattung einen wichtigen Beitrag zur Rekonstruktion der frühmittelalterlichen Verhältnisse in Bayern liefert. Das gilt besonders für die Frühgeschichte der kirchlichen Institutionen, in deren Auftrag sie abgefasst wurden, also vor allem des (Erz-)Bistums Salzburg und des Klosters Niederaltaich. Mit ihrer Vielfalt von Besitzobjekten tragen sie wesentlich zur Rekonstruktion der Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte bei, indem Sie für das ansonsten quellenarme Frühmittelalter einzelne Regionen des alten Bayern erfreulich gut abdecken, allen voran die Region um Salzburg. Damit bieten sie zusammen mit den frühen Urkundenbeständen des Bistums Freising auch Anknüpfungspunkte für die Interpretation der stetig anwachsenden Befunde der Frühmittelalterarchäologie.
Allein die Entstehung der Verzeichnisse liefert wichtige Hinweise auf die turbulente Zeit rund um den Machwechsel von 788. In verfassungsgeschichtlicher Hinsicht hilft zudem die Nennung von zahlreichen Namen, Titeln und Funktionen dabei, sowohl die Herrschaftsverhältnisse als auch die gesellschaftlichen Strukturen zu beleuchten. Die Verzeichnisse liefern ein differenziertes Bild der Verhältnisse in den geistlichen Grundherrschaften, zeugen von der Vielfalt der Besitz-, Herrschafts- und Abhängigkeitsformen, etwa von der Existenz der zweigeteilten/bipartiten Grundherrschaft bereits im agilolfingischen Bayern. Nicht zuletzt enthalten sie Indizien zur Entstehung der frühmittelalterlichen Grundherrschaft, die in den Jahrhunderten des Übergangs zwischen Antike und Mittelalter zweifellos an alte spätrömische Strukturen anknüpfen konnte und gleichzeitig in stetiger Veränderung, Um- und Neubildung war. So belegen gerade die Güterverzeichnisse eine Anbindung der kirchlichen Besitzkomplexe und Herrschaftsstrukturen des Frühmittelalters an alte Römerstraßen, Fiskalgüter sowie an spätrömische herrschaftliche und militärische Infrastruktur.

Literatur

  • Roman Deutinger, Vom Rhein zur Donau. Akteure der Gründung, in: Stephan und Roman Deutinger (Hg.), Die Abtei Niederaltaich. Geschichte Kultur und Spiritualität von der Gründung bis zur Säkularisierung, Sankt Ottilien 2018, 39-52.
  • Heinz Dopsch, Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Teil I,1: Vorgeschichte, Altertum, Mittelalter, Salzburg 1981.
  • Heinz Dopsch und Robert Hoffmann, Salzburg. Die Geschichte einer Stadt, 2. aktualisierte Aufl., Salzburg-Wien-München 2008.
  • Heinrich Fichtenau, Das Urkundenwesen in Österreich vom 8. bis zum 13. Jahrhundert (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 23), Wien-Köln-Graz 1971.
  • Karl Forstner, Maximilianszelle. Der Heilige und sein Kloster in der karolingischen Überlieferung, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 150, Salzburg 2010, 9-47.
  • Karl Forstner, Quellenkundliche Beobachtungen an den ältesten Salzburger Güterverzeichnissen und an der Vita s. Ruperti, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landes-kunde 135, Salzburg 1995, 465-488.
  • Sebastian Grüninger, Die Suche nach dem Herrenhof. Zur Entwicklung der Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Baiern, in: Jochen Haberstroh/Irmtraut Heitmeier (Hg.), Gründerzeit. Siedlung in Bayern zwischen Spätantike und frühem Mittelalter (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 3), St. Ottilien 2019, 659-686.
  • Josef Hemmerle, Das Bistum Augsburg 1: Die Benediktinerabtei Benediktbeuern (Germania Sacra N.F. 28), Berlin/New York 1991. (online: https://personendatenbank.germania-sacra.de/books/view/38)
  • Herbert Haupt, Zur Sprache frühmittelalterlicher Güterverzeichnisse, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 83, Köln – Wien – Graz 1975, 33-47.
  • Ludwig Holzfurtner, Gründung und Gründungsüberlieferung. Quellenkritische Studien zur Gründungsgeschichte Bayerischer Klöster der Agilolfingerzeit und ihrer hochmittelalterli-chen Überlieferung (Münchner Historische Studien, Abteilung Bayerische Geschichte 11), Kallmünz Opf. 1984.
  • Fritz Lošek (Hg.), Notitia Arnonis und Breves Notitiae. Die Salzburger Güterverzeichnisse aus der Zeit um 800: Sprachlich-historische Einleitung, Text und Übersetzung, in: Herwig Wolfram (Hg.), Quellen zur Salzburger Frühgeschichte (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 44), Wien/München 2006, 72-85 (Notitia Arnonis) und 88-119 (Breves Notitiae)
  • Wilhelm Störmer, Fernstraße und Kloster. Zur Verkehrs- und Herrschaftsstruktur des westlichen Altbayern im frühen Mittelalter, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 29 (1966), 299-343.
  • Wilhelm Störmer, Frühmittelalterliche Grundherrschaft bayerischer Kirchen (8.-10. Jahr-hundert), in: Werner Rösener (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 92), Göttingen 1989, 370-410.
  • Heinrich Tiefenbach (Hg.), Die Namen des Breviarius Urolfi. Mit einer Textedition und zwei Karten, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Ortsname und Urkunde. Frühmittelalterliche Ortsnamensüberlieferung. Münchener Symposion 10.-12. Oktober 1988 (Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge, Beihefte 29), Heidelberg 1990, 60-96.
  • Heinrich Wanderwitz, Quellenkritische Studien zu den bayerischen Besitzlisten des 8. Jahrhunderts, in: Deutsches Archiv 39 (1983), 27-84.
  • Herwig Wolfram, Die Notitia Arnonis und ähnliche Formen der Rechtssicherung im nachagilolfingischen Bayern, in: Peter Classen (Hg.), Recht und Schrift im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 23), Sigmaringen 1977, 115-130.
  • Herwig Wolfram, Libellus Virgilii. Ein quellenkritisches Problem der ältesten Salzburger Güterverzeichnisse, in: Arno Borst (Hg.), Mönchtum, Episkopat und Adel zur Gründungs-zeit des Klosters Reichenau Sigmaringen (Vorträge und Forschungen 20), Sigmaringen 1974, 177-214.

Quellen

  • Max Heuwieser (Hg.), Die Traditionen des Hochstifts Passau (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte, NF 6), München 1930, Nr. 3.
  • Theodor Bitterauf (Hg.), Die Traditionen des Hochstifts Freising, Bd. 1 (744-926) (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, NF 4), München 1905, Nr. 4 (Ausstattung des Klosters Isen) und 652 (Inventar/Urbar von Bergkirchen).
  • Josef Klose (Hg.), Breviarius Urolfi, in: Ders. (Hg.), Die Urbare des Abtes Hermann von Niederaltaich, München 2003, 733-759.
  • Fritz Lošek (Hg.), Notitia Arnonis und Breves Notitiae. Die Salzburger Güterverzeichnisse aus der Zeit um 800: Sprachlich-historische Einleitung, Text und Übersetzung, in: Herwig Wolfram (Hg.), Quellen zur Salzburger Frühgeschichte (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 44), Wien/München 2006, 72-85 (Notitia Arnonis) und 88-119 (Breves Notitiae)
  • Urbar des Klosters Staffelsee (=Brevium exempla ad describendas res ecclesiasticas et fiscales), in: Alfred Boretius (Hg.), Capitularia regum Francorum, Bd. 1, Hannover 1973, 250-252.
  • Wilhelm Wattenbach (Hg.), Chronicon Benedictoburanum, in: Ders (Hg.), MGH SS 9, Hannover 1851, 213f. (Rotulus historicus in Anmerkungen) und 223 (Breviarium Gott-schalci).

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Empfohlene Zitierweise

Sebastian Grüninger, Güterverzeichnisse des Frühmittelalters, publiziert am 05.12.2025; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Güterverzeichnisse_des_Frühmittelalters> (5.12.2025)