Staffelsee-Inventar/Urbar
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Das Inventar bzw. Urbar der frühmittelalterlichen Kirche bzw. des Klosters St. Michael auf der Insel Wörth im Staffelsee (Lkr. Garmisch-Partenkirchen) zählt zu den wichtigsten Besitzverzeichnissen des Frühmittelalters. Entstanden um 800 als Teil eines umfassenden Verzeichnisses der Güter des Bistums Augsburg, fand es Eingang in die wohl wenig später entstandene Mustersammlung zur Inventarisierung karolingischer Reichs- und Kirchengüter, die sog. Brevium exempla. Der im Staffelseer Inventar/Urbar beschriebene Haupthof des Klosters dient der Forschung als idealtypisches Beispiel für die Villikationsverfassung, auch zweigeteilte oder klassische Grundherrschaft genannt. Darüber hinaus bietet die Quelle aber auch eine anschauliche Zusammenstellung aller Wertgegenstände und Bücher der Michaelskirche sowie Anhaltspunkte zu Fragen nach Entstehung und Bedeutung einer frühmittelalterlichen Klosterherrschaft.
Gegenstand der Quelle und räumlicher Kontext
Beschreibung und Quellengattung
Das Inventar/Urbar vom Staffelsee ist aufgrund seines Detailreichtums eines der meistbeachteten Besitzverzeichnisse des karolingerzeitlichen Europa und gehört zu den Schlüsselquellen zur Erforschung der frühmittelalterlichen Grundherrschaft.
Das Verzeichnis ist in vier Teile gegliedert und beginnt mit der Zusammenstellung des Zubehörs der St. Michaelskirche auf der Insel Wörth. Der zweite Teil besteht in einer Beschreibung des Haupthofes mit seinen Ländereien und seinem Zubehör, der dritte in der Aufzählung der abhängigen Bauernhufen, also der freien und unfreien mansi mit ihren jeweiligen Leistungsverpflichtungen. Den kurzen Schluss bildet die Erwähnung von sieben im Verzeichnis nicht explizit aufgeführten Höfen sowie die Summierung der insgesamt 1507 Hufen (mansi) des Bistums Augsburg. Zusammen mit einem unvollständigen Anfangssatz des Verzeichnisses, der auf eine weitere, Staffelsee vorangehende Hofbeschreibung hindeutet, belegt dieser Schluss, dass das Staffelseer Inventar/Urbar Teil eines umfassenden, aber ansonsten verlorenen Besitzverzeichnisses des Bistums Augsburg war.
Frühmittelalterliche Besitzverzeichnisse haben sehr unterschiedlichen Charakter. Dabei gilt als Urbar, wenn das Dokument hauptsächlich der grundherrschaftlichen Verwaltung diente, indem neben den Liegenschaften Abgaben und Dienstverpflichtungen von Abhängigen aufgeführt wurden. Als Inventar wird dagegen ein Bestandsverzeichnis von Vermögenswerten (Liegenschaften und gegenständlicher Besitz) bezeichnet. Im Falle Staffelsees liegt eine Verbindung beider Kategorien vor.
Insel Wörth und Staffelsee
Das Inventar/Urbar spricht von einer Michaelskirche auf der Insel Staffelsee (insula Staphinseie = Wörth im Staffelsee) sowie von einer curtis, also einem Herrenhof, am selben Ort. Bei Ausgrabungen in den 1990er Jahren am Standort der 1773 abgebrochenen Pfarrkirche St. Michael (Archäologische Staatsammlung München, B. Haas-Gebhard) wurden die Fundamente eines Kirchenneubaus aus der Mitte des 8. Jahrhunderts freigelegt. Der geschützte Platz war damals bereits seit längerer Zeit besiedelt, überlagern die genannten Fundamente doch bereits spätrömische Mauerreste, einen frühmittelalterlichen Begräbnisplatz und eine Vorgängerkirche aus dem 7. Jahrhundert.
Die spätrömischen Mauerreste um den Kirchhügel dürfen als befestigter Zufluchtsort in Zusammenhang mit der unmittelbar östlich des Staffelsees vorbeiziehenden Via Raetica interpretiert werden. Sie bildete als Fernstraße von Italien nach Augsburg eine Parallele zur Via Claudia Augusta am Lech. Eine Straßenstation mit deutlich größerer spätrömischer Siedlung befand sich auf dem Moosberg im nahen Murnauer Moos.
Die Ausmaße der ergrabenen Kirche mit diversen Nebengebäuden sowie das Fragment einer karolingerzeitlichen Chorschranke sprechen für Brigitte Haas-Gebhard (geb. 1963) und die Mehrheit der Forschung für eine Klosterkirche. Die Befunde passen zu einer Benediktbeurer Tradition des 11. Jahrhunderts, wonach ein Kloster Staffelsee zusammen mit anderen Klöstern von Benediktbeuern aus gegründet und mit 25 Mönchen besetzt worden sei. Gottfried Mayr (geb. 1943) kritisiert dagegen den Rückgriff auf die späte Überlieferung und betont das völlige Fehlen von Hinweisen auf ein Kloster in sämtlichen Quellen des 8. und 9. Jahrhunderts. Ein solches wird erst durch die Vita des hl. Ulrich (890-973) für das 10. Jahrhundert belegt. Mayr weist auf das kurz nach 800 unter Bischof Simpert/Sintpert (ca. 750-807) mit dem Bistum Augsburg vereinigte Bistum Neuburg-Staffelsee hin und deutet die archäologischen Befunde als Bischofskirche mit einer Gemeinschaft von Chorgeistlichen.
Fragment einer Chorschrankenplatte aus Sandstein. Fundort: Insel Wörth im Staffelsee. Abb. aus: Brigitte Haas-Gebhard: Archäologische Ausgrabungen auf der Insel Wörth im Staffelsee, in: Ludwig Wamser (Hg.): Dedicatio. Hermann Dannheimer zum 70. Geburtstag, Kallmünz/Opf. 1999, 140–161, S. 149. (Archäologische Staatssammlung/Brigitte Haas-Gebhard)
Überlieferung, Datierung und Abfassungszweck der Quelle
Handschriftliche Überlieferung in den Brevium exempla
Das Staffelseer Inventar/Urbar ist in einer einzigen mittelalterlichen Handschrift aus dem 9. Jahrhundert überliefert, im Codex Guelferbytanus 254 Helmstediensis der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Dieser enthält unter anderem die ebenfalls einzige erhaltene frühmittelalterliche Abschrift des Capitulare de Villis Karls des Großen, welches die Verwaltung königlicher Güter regelt, sowie eine Reihe von Beispielen für die Inventarisierung kirchlicher und königlicher Güter, die seit dem 19. Jahrhundert ‘Brevium exempla ad describendas res ecclesiasticas et fiscales’, kurz Brevium Exempla, genannt werden. Das erste dieser Beispiele bildet die Beschreibung der Besitzungen von Staffelsee.
Die Erstabfassung des Staffelseer Inventars/Urbars im Rahmen eines Augsburger Besitzverzeichnisses und die Zusammenführung mit anderen Dokumenten zu den Brevium Exempla sind zweifellos getrennte Vorgänge. Die Zusammenführung wird aufgrund inhaltlicher und sprachwissenschaftlicher Kriterien in der Kanzlei Karls des Großen in Aachen verortet, ohne dass eine konkrete Datierung möglich wäre.
Datierung, Verfahren und Ziel der Erstabfassung
Die Tatsache, dass das Inventar/Urbar sicher Teil eines umfassenderen Besitzverzeichnisses des Bistums Augsburg war, hilft der Eingrenzung der Erstabfassung: Die Kirche von Staffelsee war laut einem Papstbrief im Jahr 800 Sitz oder eine Art Nebenkathedrale des Bischofs Simpert/Sintpert von Neuburg a. d. Donau, der in diesem Schreiben Bischof der Kirche von Staffelsee genannt wird (Sintpert Stafnensis aecclesiae), bevor er das Bistum kurz darauf mit dem Bistum Augsburg vereinigte, dem er in Personalunion ebenfalls vorstand. Durchaus möglich erscheint, dass im Zusammenhang mit dieser Bistums(wieder)vereinigung auch ein Inventar der Augsburger und damit auch der Staffelseer Besitzungen angelegt wurde, also zwischen 800 und Simperts Tod im Jahr 807. Christof Paulus (geb. 1974) denkt dagegen an Simperts Nachfolger Hanto (gest. ca. 816) der 808 zusammen mit einem Königsboten in Eglfing (Lkr. Weilheim-Schongau) bezeugt ist. Sollte diese singulär und wohl eher zufällig überlieferte Tätigkeit eines Königsboten tatsächlich mit dem Text in Verbindung stehen, bliebe dennoch offen, ob sie mit der Erstaufnahme des Augsburger Verzeichnisses oder mit dessen Überführung in die Mustersammlung der Brevium Exempla zusammenhing.
Eindeutiger als der Zeitpunkt lässt sich der Zweck der ursprünglichen Inventarisierung bestimmen: Hier ging es um die Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Augsburger Grundherrschaft an Immobilienbesitz, Ländereien, Wertgegenständen und bäuerlichen Leistungen.
Die Formulierungen des Textes, insbesondere das formelhafte invenimus „wir fanden vor“, lassen darauf schließen, dass das Verzeichnis das Resultat eines Erhebungsverfahrens im Rahmen einer Inspektionsreise von bischöflichen, wenn nicht gar von königlichen Boten (missi) war. Auch gibt es Hinweise auf direkte Handlungen bzw. Weisungen dieser Boten, etwa die Überlassung des wenigen vorgefundenen Getreides, welches explizit auf eine Steuer (annona) zurückzuführen war, an das Hofpersonal. Die für Getreide ansonsten ungewöhnliche Maßeinheit carrada (Fuhren), die auch hier in Staffelsee insbesondere für Wiesen bzw. Heufuhren verwendet wird, könnte darauf hinweisen, dass dieses Getreide eigentlich für den Transport nach Augsburg bestimmt war. Neben dem Gesamtzusammenhang stellt dies ein weiteres Indiz dafür dar, dass das Verzeichnis wohl nicht der lokalen klösterlichen Verwaltung diente, sondern in erster Linie der Abschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bzw. des Wertes der Augsburger Besitzungen insgesamt.
Inhalt und Forschung
Inventar der Michaelskirche auf der Insel Wörth
Beschreibung
Den ersten Teil des Textes bildet ein Inventar der Michaelskirche auf der Insel Wörth im Staffelsee mit ihrem Zubehör. Dieses bestand u.a. aus reichem liturgischem Gerät aus Gold, Silber und Kupfer und wertvollen Messgewändern und Textilien (Abb.). Bei vielen dieser Gegenstände wurde der Wert in Pfund und Schillingen angegeben. Dies zeigt, dass es bei der Inventarisierung nicht unwesentlich um eine Einschätzung des Besitzes ging.
Danach werden 19 Bücher aufgezählt, drei Bände mit alttestamentarischen Schriften, ein Evangeliar sowie ein weiteres Buch mit neutestamentarischen Schriften, drei Lektionare, darunter ein besonders reich verziertes, zwei Bände mit Predigten, einer davon mit 40 Predigten Gregors des Großen (ca. 542-604, Papst 590-604), drei Sakramentare, zwei Antiphonare, ein Buch mit kirchenrechtlichen Texten, ein weiteres mit Psalmenauslegungen und eins mit Matthäuskommentaren des hl. Hieronymus (ca. 345-420). Ein letzter Band enthält die Benediktsregel.
Dass im Anschluss an die Bücherliste noch zwei Fässer Glas bzw. Glassand sowie drei Platten und ein Klumpen Blei genannt werden, lässt an Glasproduktion und insbesondere die Anfertigung oder Ausbesserung von Kirchenfenstern denken, was ein seltener und früher Beleg für diese Tätigkeit wäre. 170 calami werden in der Regel als Schreibrohre oder Schreibfedern gedeutet und weisen zusammen mit den erwähnten Büchern auf die Bedeutung der Schriftlichkeit hin; ein Faltstuhl kam möglicherweise auf auswärtigen Einsätzen des Abtes oder Bischofs zum Einsatz.
Forschungsfragen
Das Kircheninventar liefert der Forschung Hinweise auf die kontrovers diskutierte Stellung und Bedeutung der Michaelskirche: Während die Benediktsregel gerne als Indiz für ein frühes Kloster im Staffelsee gesehen wird, werden die zahlreichen Gewänder, vor allem die reich verzierten Seidenhandschuhe, sowie der Faltstuhl teilweise als Hinweise auf einen Bischofssitz verstanden. Allerdings ist auch an eine enge Verzahnung von benediktinischem Mönchtum und Bischofsmacht zu denken, wie sie um 800 auch andernorts nachweisbar ist. Auf jeden Fall weist das Inventar die Michaelskirche als Gotteshaus von einiger Bedeutung und beträchtlichem herrschaftlichem Interesse aus.
Urbarielle Aufzeichnungen
Beschreibung von Herrenhof, abhängigen Bauernstellen und Leistungen
Der Haupthof des Klosters bzw. der Michaelskirche bildete das wirtschaftliche Zentrum der Staffelseer Grundherrschaft. Erwähnt wird eine Hofstatt mit Herrenhaus (curtis et casa indominicata), dazu Nebengebäude sowie Salland (terra dominica/arabilis) in herrschaftlicher Eigennutzung von 740 Tagwerken (iurnales), also Tagespflugleistungen eines Ochsengespanns. Geht man mit der Forschung von einem Tagwerk von ca. einem Viertel bis einem Drittel Hektar aus, so wären dies rund 180-250 ha. Dazu kommen Wiesen zu 610 Wagenfuhren (carradae) Heu. An Großvieh werden ein zahmes Pferd, ein Stier, 26 Ochsen und 20 Kühe aufgezählt, dazu eine beträchtliche Anzahl Kleinvieh aller Art, hauptsächlich Schafe, sowie Geflügel.
Beschreibung des Augsburger Fronhofs Staffelsee (um 800) [Beginn 2. Zeile links]. Abb. der Handschrift des 9. Jahrhunderts aus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 254 Helmst. lizenziert durch CC BY-SA 3.0, fol. 9v.
Edition der Beschreibung des Augsburger Fronhofs Staffelsee (ed. Alfred Boretius, in: MGH Capitularia Regum Francorum. Tomus I, 1, 1887, 251f., gemeinfrei)
Die Aufzählung geht weiter mit 12 Bienenstöcken, getrocknetem Fleisch und anderen Nahrungsmitteln wie Honig, Butter und Salz, schließlich diversen Gerätschaften, teilweise aus Metall, Seifen und Fischernetzen. Zum Herrenhof gehörte auch ein Gynäceum (genitium), ein Frauenarbeitshaus, in dem zum Zeitpunkt der Inventaraufnahme 24 Frauen arbeiteten und wo 5 wollene Gewänder, 4 Gürtel und 5 Hemden zu finden waren. Zur Infrastruktur des Herrenhofs zählte auch eine Mühle, die jährlich 12 Scheffel (modii) Mehl abzuliefern hatte. Dass im Herrenhof zusätzlich 12 Scheffel Malz vorgefunden wurden, könnte auf eine Bierbrauerei hinweisen. Auffällig ist die beträchtliche Anzahl von 72 provendarii, die von der Forschung gewöhnlich als auf dem Herrenhof ansässige Unfreie verstanden werden, sogenannte Hofhörige, Acker- oder Hofsklaven. Dass die 24 Frauen des Gynäceums hier mit eingerechnet sind, lässt sich vermuten, aber nicht belegen.
Nach dem Herren- bzw. Fronhof werden im dritten Teil des Inventars/Urbars die abhängigen bäuerlichen Hofstellen, die mansi, aufgezählt. Sie bilden in der zweigeteilten oder klassischen Grundherrschaft den anderen Pol der bipartiten Villikation. Die Bewohner dieser in der Forschung Hufen oder Mansen genannten Höfe hatten Abgaben zu entrichten und Frondienste zu leisten. Das Urbar unterscheidet zwischen 23 Freien- und 19 Unfreienhufen (mansi ingenuiles und mansi serviles). Im Gegensatz zur Gesamtzahl der Mansen des Bistums Augsburg, wo über 5% unbesetzt waren (80 mansi absi von 1507), waren in Staffelsee alle 42 Hufen bewirtschaftet (mansi vestiti), was ein Indiz für wirtschaftliche Prosperität der Villikation sein könnte.
Die 19 Unfreienhufen sind in ihren Leistungspflichten scheinbar einheitlich: Sie hatten jährliche Naturalzinsen von einem Frischling (Jungschwein), 5 Hühnern und 10 Eiern zu entrichten und jeweils vier herrschaftliche Jungschweine zu mästen. Zudem mussten sie drei Tage die Woche – also die Hälfte ihrer Arbeitsleistung – Frondienste leisten. Dies einerseits auf dem herrschaftlichen Salland, wobei explizit Pflugdienste erwähnt werden, andererseits aber auch in Form von Transportdiensten (scara). Zusätzlich hatten sie ein Pferd für Transportdienste zu stellen (paraferedus). Die Ehefrauen waren verpflichtet, jährlich ein Leinen- und ein Wollhemd zu fertigen.
Die Freienhufen – nach einleitender Gesamtsumme 23 an der Zahl, laut nachfolgender Aufzählung verschiedener Gruppen mit unterschiedlichen Leistungspflichten lediglich 21 – hatten einerseits zumindest teilweise deutlich höhere Naturalabgaben zu leisten: nämlich 4 Frischlinge, 2 Hühner, 10 Eier, 14 Scheffel (modii) Getreide, dazu Flachs, Leinsamen und Linsen. Dafür leisteten sie lediglich zeitlich begrenzte Frondienste, nämlich 5 oder 6 Wochen jährlich, sowohl auf den Äckern zum Pflügen, Säen, Ernten und Düngen, als auch auf den Wiesen des Sallandes, wo Gras geschnitten und eingebracht werden musste. Dazu kamen teilweise die Lieferung von Brennholz sowie Reit-/Boten- und Transportdienste, unter anderem für den Weintransport. Entscheidend ist die Erwähnung der Heerfolgeverpflichtung, die offensichtlich auch in Ersatzleistungen umgewandelt werden konnte. Diese konnten in der Stellung von Ochsen für den Krieg oder in Reiter- bzw. Botendiensten bestehen. In einem Fall wird auch hier wie sonst bei den Unfreienhufen die Stellung eines Zugpferdes (paraferedus) erwähnt.
Forschungsfragen
Diskussion besteht zur Frage der Lokalisierung der Besitzungen: Auch wenn die Lage des Herren- oder Fronhofes im Inventar/Urbar mit in eodem loco angegeben wird, also „am gleichen Ort“ wie die explizit auf der Insel liegende Michaelskirche, verortet das Gros der Forschung den Haupthof nicht auf der lediglich 38 ha großen Klosterinsel, sondern auf dem Festland bei Seehausen. Dies gilt zwangsläufig für den größten Teil der genannten Ländereien und es liegt nahe, dass der Herrenhof, also das Zentrum des Fronhofsverbandes in direkter Verbindung zu diesen Salländereien stand, die abgesehen von den Frondiensten der Hufenbauern zweifellos in hohem Maß von der curtis mit ihren 72 hofansässigen Unfreien aus bewirtschaftet wurden. Allerdings ist zu erwähnen, dass letztere gar nicht explizit als Zubehör dieses Hofes genannt werden, sondern lediglich indirekt als Empfänger des vorhandenen Getreides. Insbesondere das Fehlen von schwerem Ackergerät wie Pflügen und Wagen in der ansonsten detailreichen Aufzählung des Zubehörs lässt Konrad Elmshäuser (geb. 1959) vermuten, dass das Verzeichnis gar keinen eigentlichen Fronhof beschreibt, sondern einen klosternahen Wirtschaftshof auf der Insel. Auch Christof Paulus vermutet mit anderen Argumenten den beschriebenen Hof auf der Insel.
Ungeklärt bleibt auch die Frage, ob die im Verzeichnis genannten Hufen alle in der Nähe des Fronhofes lagen und mit diesem zusammen eine räumlich mehr oder weniger geschlossene Villikation bildeten, oder ob sie, wie Stefan Esders (geb. 1963) andeutet, auch weiter gestreut und insbesondere entlang der Straßen lagen.
Neben der Lokalisierung sind auch Wesen und Dynamik der im Verzeichnis aufscheinenden Wirtschaftsorganisation umstritten: Aufgrund des in frühmittelalterlichen Güterverzeichnissen unüblichen Verhältnisses von 72 hofansässigen Arbeitskräften zu lediglich 42 Hufen hat die Forschung wiederholt auf eine archaische Struktur der karolingerzeitlichen Grundherrschaft in Bayern geschlossen, in welcher der spätrömische, von hofansässigen Sklaven bewirtschaftete Gutshof nachwirke. Dabei wird allerdings nicht berücksichtigt, dass die erste Zahl Personen betrifft, möglicherweise mehrere pro Familie, während die zweite Hofstellen nennt, was die Personenzahl im Vergleich zu den genannten Hofstellen zweifellos multipliziert, werden doch im Zusammenhang mit den Unfreienhufen explizit auch Frauen erwähnt. Im Übrigen scheint auch der Begriff provendarii ‚Pfründner‘, schlecht zu einem Verband von rechtlosen Ackersklaven im spätrömischen Sinn zu passen – sofern der in anderen bayerischen Quellen auch als praebendarii auftretende Begriff von der Forschung überhaupt richtig gedeutet wird.
Die Leistungskataloge der abhängigen Hofstellen weisen eindeutig Parallelen zum sogenannten Kolonenstatut der Lex Baiwariorum (cap. I,13) aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts auf. Hier wird zwar nicht wie in Staffelsee zwischen mansi ingenuiles und mansi serviles unterschieden, dafür zwischen coloni und servi ecclesiastici. Auch hier wird zwischen jährlich begrenzten Stückdiensten der coloni, also der persönlich freien bäuerlichen Abhängigen und der harten Dreitagefron der unfreien servi unterschieden. Während die Fronarbeiten auf dem Feld und auf dem Herrenhof in der Lex diversifizierter beschrieben sind, tauchen auch hier Transportdienste und der paraveredus auf, anders als im Urbar allerdings nur auf coloni bezogen.
Die Tatsache, dass die Abgaben der Freienhufen im Inventar/Urbar – und nur diese – als annona bezeichnet werden, diejenigen der coloni in der Lex – und wiederum nur diese – als agrarium und pascuarium, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich hinter diesen grundherrschaftlichen Abgaben ehemals öffentliche Leistungen verbergen, die in kirchlich-grundherrlichen Kontext übertragen wurden. Abgesehen davon, dass bereits die Bezeichnungen curtis et casa indominicata, terra dominica und pratum dominicum möglicherweise nicht einfach auf Herrenhof und herrschaftliches Salland verweisen, sondern auf deren Rechtsstatus als oder zumindest deren Herkunft aus Fiskalgut, hat Stefan Esders vor allem anhand der genannten Transportdienste und des paraveredus plausibel eine funktionale Kontinuität spätrömischer Verhältnisse in die frühmittelalterliche Klosterherrschaft aufzeigen können. Konkret denkt er an die Übertragung von öffentlichen Leistungen im Zusammenhang mit dem Militärwesen und der Straßenorganisation rund um die am Staffelsee bzw. an der spätrömischen Straßenstation auf dem nahen Moosberg vorbeiziehende Via Raetica. Nicht nur die Klostergründung, sondern auch deren Ausstattung mit Fiskalgut und öffentlichen Herrschaftsrechten hätten zum Erhalt dieser Organisation beigetragen. Dass es im Zusammenhang dieser funktionalen Kontinuität auch zu Neuorganisation und dynamischer Anpassung im Rahmen der Klostergrundherrschaft gekommen sei, könnte gemäß Esders etwa die Ausweitung des paraveredus auf die Unfreien bzw. deren Hufen im Inventar/Urbar vermuten lassen.
Auf eine innovative frühmittelalterliche Entwicklung verweist vielleicht auch die Beobachtung von Joachim Henning (geb. 1951), dass die Anzahl der hufenbäuerlichen Tagespflugleistungen (iurnales) auf dem Salland immer ein Mehrfaches von drei ergeben: sechs mansi à drei Tagwerke leisten insgesamt 18 Tagwerke; sechs weitere leisten je zwei, also insgesamt 12 Tagwerke; fünf weitere leisten je 9 Tagwerke, also 45. Henning sieht in dieser Teilbarkeit durch drei ein Indiz für die Existenz der Dreifelderwirtschaft bereits im beginnenden 9. Jahrhundert, zumindest auf dem Salland des Herrenhofes. Sollte dies tatsächlich zutreffen, so wäre die Staffelseer Villikation trotz der funktionalen Kontinuität spätrömischer Leistungsstrukturen alles andere als eine archaische Agrarorganisation.
Literatur
- Rolf Bergmann, Zur Herkunft der Handschrift des 'Capitulare de villis' und der 'Brevium Exempla', in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 96/3 (1967), 213-217.
- Konrad Elmshäuser, Untersuchungen zum Staffelseer Urbar, in: Werner Rösener (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 92), Göttingen 1989, 335-369.
- Stefan Esders, "Öffentliche" Abgaben und Leistungen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter: Konzeptionen und Befunde, in: Theo Kölzer/Rudolf Schieffer (Hg.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde (Vorträge und Forschungen 70), Ostfildern 2009, 189-224.
- Stefan Esders, Das Inventar von Staffelsee. Karolingische «Grundherrschaft», bäuerliche Mobilität und das Problem der «funktionalen Kontinuität» zwischen Antike und Mittelalter, in: Christian Vogel u.a. (Hg.), Frankenreich – Testamente – Landesgeschichte. Festschrift für Brigitte Kasten zum 65. Geburtstag, Saarbrücken 2020, 103-139.
- Sebastian Grüninger, Die Suche nach dem Herrenhof. Zur Entwicklung der Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Baiern, in: Jochen Haberstroh/Irmtraut Heitmeier (Hg.), Gründerzeit. Siedlung in Bayern zwischen Spätantike und frühem Mittelalter (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 3), St. Ottilien 2019, 659-686.
- Brigitte Haas-Gebhard, Archäologische Ausgrabungen auf der Insel Wörth im Staffelsee, in: Dedicatio. Hermann Dannheimer zum 70. Geburtstag, Kallmünz 1999, 140-161.
- Joachim Henning, Did the “agricultural revolution” go east with Carolingian conquest? Some reflections on early medieval rural economics of the Baiuvarii and Thuringi, in: Janine Fries-Knoblauch, Heiko Steuer und John Hines (Hg.), Baiuvarii and Thuringi: An Ethnographic Perspective, Woodbridge 2012, 331-359.
- Christof Paulus, Ein karolingisches Güterverzeichnis. Zeugnis für die Bedeutung des Klosters Staffelsee, in: Schönere Heimat 79 (2008), 16-20.
- Wilhelm Störmer, Frühmittelalterliche Grundherrschaft bayerischer Kirchen (8.-10. Jahrhundert), in: Werner Rösener (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 92), Göttingen 1989, 370-410.
- Adriaan Verhulst, Die Grundherrschaftsentwicklung im ostfränkischen Raum vom 8. bis 10. Jahrhundert, in: Werner Rösener (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 92), Göttingen 1989, 29-46.
Quellen
- Edition mit Übersetzung des Staffelseer Inventars/Urbars, in: Ludolf Kuchenbuch, Grundherrschaft im früheren Mittelalter (Historisches Seminar, Neue Folge 1), Idstein 1991, 111-114.
Weiterführende Recherche
- Schlagwortsuche im Online-Katalog des Bibliotheksverbundes Bayern
- Suche in der Bayerischen Bibliographie
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Empfohlene Zitierweise
Sebastian Grüninger, Staffelsee-Inventar/Urbar, publiziert am 02.10.2024; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Staffelsee-Inventar/Urbar> (5.12.2024)