Nauheimer Kreis
Aus Historisches Lexikon Bayerns
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Bestand von Juli/August 1948 bis Anfang 1952. Er war nach dem Ort seiner Gründung benannt. Als überparteilicher Gesprächskreis blieb er ohne Satzung, registrierte Mitgliedschaft und organisatorische Strukturen. Er war offen für möglichst namhafte Persönlichkeiten, welche sich für eine Neutralisierung Deutschlands als Alternative zur doppelten Staatsgründung 1948/49 und dann zur beginnenden Westintegration der Bundesrepublik Deutschland einsetzen wollten. Ideologischer Kopf und rastlose Antriebskraft war der umstrittene Würzburger Historiker Ulrich Noack (1899-1974).
Gründung
Am 24. Mai 1948 hielt Ulrich Noack (1899-1974) im Kerckhoff-Institut Bad Nauheims einen Vortrag über "Das Werk Friedrichs des Großen und Bismarcks als Problem der deutschen Geschichte". Er nutzte die Gelegenheit, auf seine seit dem Vorjahr schon mehrfach dargelegte Idee eines entmilitarisierten und neutralisierten Deutschlands zwischen den sich ausbildenden Blöcken, geführt von der Sowjetunion (UdSSR) einerseits, den Vereinigten Staaten (USA) andererseits, erneut einzugehen. Im Anschluss bot ihm der Direktor des Instituts eine Fortsetzung der Diskussion in interessiertem Kreis an. Am nächsten Tag ergingen Einladungen zu einem ersten Treffen am 31. Juli/1. August 1948. Dem folgten zwei weitere Treffen (am 18./19. September und 4./5. Dezember 1948). Die Teilnehmerzahl lag bei 20, zuletzt bei 30 Anwesenden. Darunter waren einige Wirtschaftsmanager, Dozenten, Publizisten, Kurgäste zumeist, teils in Begleitung der Ehefrauen, dazu Mediziner der Kurstadt, zuletzt auch Würzburger Studenten Noacks, beispielsweise sein Schüler Heinrich Euler (1925-2005). Es kamen nur wenige Politiker, so Heinrich von Brentano (1904-1964), aber lediglich einen Tag und dann nicht wieder, und zum Dezembertreffen August Haußleiter (1905-1989, 1948/49 stellvertretender CSU-Vorsitzender, 1979/1980 Gründungsmitglied der Bundespartei Die Grünen). Neben Noack als Sprecher des Kreises waren auch Reinhard Strecker (SPD, 1876-1951, 1919-1921 Kultusminister in Hessen) und Marianne Buschette (geb. 1923), ständige Begleiterin Noacks und seit 1952 seine zweite Ehefrau, regelmäßig anwesend. Buschette protokollierte die Diskussionen, Noack sorgte mit ihr im Selbstverlag für deren schnelle Veröffentlichung.
Ulrich Noack
Der 1899 in Darmstadt geborene Sohn eines Professors für Archäologie hatte nach seiner Schweizer Gymnasialzeit in Berlin studiert und 1925 mit einer von Friedrich Meinecke (1862-1954) betreuten Dissertation zur Kritik an Bismarcks Sicherheits- und Bündnispolitik promoviert. Danach wandte sich der Protestant der Ideenwelt des liberalen Katholizismus zu, manifest in seiner Habilitationsschrift über den Historiker John Acton (1834-1902) und weiteren Studien. In den 1930er Jahren beschäftigte er sich auch mit der nordeuropäischen Geschichte, was ihm, seit 1927 mit einer Norwegerin verheiratet, erst eine Dozentur, dann eine apl. Professur seit Dezember 1942 in Greifswald und einen Forschungsaufenthalt in Oslo (Norwegen) einbrachte. Er war wahrscheinlich kein Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Der Versuch, sich gleichwohl zu arrangieren, so Anfang 1939 durch einen zu seinem späteren Glück wohl doch abgelehnten Antrag auf Aufnahme in die NSDAP, und sein Hang zur Wichtigtuerei haben seine norwegische Zeit 1939/41 allerdings in einiges Zwielicht getaucht, welches seine Gegner nur ein Jahrzehnt später weidlich nutzten. 1945 wirkte er am Aufbau einer christlich-demokratischen Partei in Greifswald, wegen eines Zufalls gegen Jahresende in Godesberg sogar an dem einer gesamtdeutschen Christlich Demokratischen Union (CDU) mit. Nach einer kurzen beratenden Tätigkeit beim hessischen Ministerpräsidenten wurde er im Wintersemester 1946/47 in Nachfolge des als ehemaliges NSDAP-Mitglied entlassenen Eugen Franz (1892-1946) auf den Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Würzburg (emeritierte 1964) berufen. Hier trat er in die Christlich-Soziale Union (CSU) ein und wirkte alsbald auch im Stadtrat.
Pazifistischer Neutralismus
Im Nauheimer Kreis folgten nicht alle Gesprächsteilnehmer den Ideen Noacks. Wie protokolliert, hat Brentano mehr als skeptisch auf den Gedanken eines neutralisierten Deutschlands reagiert. Haußleiter dagegen folgte einem anderen, deutlich nationalistischer akzentuierten Neutralitätskonzept. Die Präsentation für die Öffentlichkeit aber leistete Noack, und seine Ideen galten und gelten mit Recht als die des Nauheimer Kreises. Ihnen lagen geohistorische bzw. geophilosophische sowie kulturgeschichtliche Überzeugungen zugrunde, allesamt wenig empiriebezogen, auch deshalb in der Geschichtswissenschaft kaum beachtet und keinesfalls akzeptiert. Noack ging davon aus, dass die UdSSR und die USA infolge der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges entscheidende Faktoren der europäischen Geschichte geworden waren. Die von ihnen geführten Blockbildungen bedeuteten neue kriegsgefährliche globale Konfrontationen. Deutschland sollte diesen Blockbildungen entzogen bleiben und so seine Einheit wiedergewinnen können. Angesichts der sowjetischen wie amerikanischen Interessen in Mitteleuropa war in diesem Konzept ein vereintes Deutschland nur als ein neutralisierter und entmilitarisierter Staat unter internationaler Garantie beider Blöcke vorstellbar. Ein solches Deutschland sollte als Barriere zwischen den Blöcken friedensstiftend wirken und dies aufgrund seiner Bevölkerungsgröße, Wirtschaftskraft und Infrastruktur auch durch seine vermittelnde weltwirtschaftliche Funktion bekräftigen. Die USA hielt Noack nach 1949 für viel friedensgefährdender als die UdSSR.
Politische Schlussfolgerungen
Das Deutschland Noacks war das Potsdamer Vier-Zonen-Deutschland. Der Verzicht auf die Gebiete östlich von Oder und Neiße sollte - wie besondere wirtschaftliche Angebote - die Zustimmung der UdSSR auch insofern erbringen, als es nicht sozialistisch, sondern liberal-parlamentarisch und föderalistisch-freiheitlich verfasst sein müsste. Deshalb war 1949 gegen die doppelte Staatsgründung zu kämpfen, nachdem sie vollzogen war, für eine schnelle Wiedervereinigung aufgrund freier gesamtdeutscher Wahlen, zugleich gegen alles, was westdeutscherseits die Spaltung vertiefen musste: gegen die westliche wirtschaftspolitische und erst recht gegen die remilitarisierende sicherheitspolitische Integration der Bundesrepublik, 1950 also gegen die "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" wie gegen eine "Europäische Verteidigungsgemeinschaft". Dabei steigerten sich die Angriffe Noacks auf die erste Regierung 1949 bis 1953 Konrad Adenauers (CDU, 1876-1967) und zumal auf den Kanzler selbst bis hin zum Vorwurf einer autoritären Politik gegen den Willen des Volkes.
Aktivitäten
Nach den drei Auftakttagungen fanden die weiteren Veranstaltungen der "aktiven" Nauheimer andernorts statt:
- vom 3. bis 5. Januar 1949 in Regensburg
- vom 4. bis 6. März 1950 in Würzburg
- am 18. Mai 1950 in Witzenhausen an der Werra
Noack versuchte so, größere öffentliche Kreise zu erreichen und deutschlandweiten politischen Einfluss zu gewinnen. Dazu gehörten Radiotermine und aufwendige Vortragsreisen, so im November 1948 und im Februar 1949 nach England, zum wirtschaftspolitisch bedeutenden "Rhein-Ruhrklub" im Mai 1949, in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und später in die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Darüber hinaus veröffentlichte er eine Fülle von Publikationen. Sie reichten von Aufrufen über Erklärungen bis hin zu offenen Briefen an Politiker. Zugleich galten etliche Anstrengungen der Vernetzung der westdeutschen Neutralisten und dann auch der Wiederbewaffnungsgegner. Spektakulär war die Einladung zu einem Deutschlandkongress in Rengsdorf (Rheinland-Pfalz) vom 18. bis 20. November 1949, zu dem - wie Noack behauptete - rund 700 Anmeldungen eingegangen waren. Der Kongress wurde sofort durch den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter Altmeier (CDU, 1899-1977) verboten. Ein Jahr später verhandelte Noack in Wiesbaden unter anderem mit Gustav Heinemann (bis 1952 CDU, 1899-1976) und Martin Niemöller (1892-1984) über mögliche gemeinsame Schritte und nahm wenig später für den Nauheimer Kreis am großen Frankfurter "Deutschen Kongreß für aktive Neutralität" (16.-22. März 1951) teil. Allerdings distanzierte sich Noack alsbald von dessen Resultaten - weniger deshalb, weil ihn die extreme Spannbreite von nationalistischen rechten bis hin zu SED-nahen linken Neutralisten verstört hätte, sondern mehr deshalb, weil er nicht ins Präsidium des Rates der in Frankfurt geplanten Vereinigung gewählt worden war. Indessen wählte ihn der neue "Bund der Kriegsdienstverweigerer" auf seinem ersten Kongress in Nürnberg (25./26. März 1951) zum Vorsitzenden.
Noacks Vortragsreisen in die SBZ und DDR
Im Sommer 1949 absolvierte Noack auf Einladung des SED-beherrschten ersten "Deutschen Volksrates" eine mehrwöchige Vortrags- und Informationsreise in der sowjetischen Besatzungszone. Deren erster Höhepunkt war sein Vortrag über das Neutralisierungskonzept des Nauheimer Kreises im Weimarer "Haus der Kultur" und eine anschließende Diskussion mit dem stellvertretenden SED-Vorsitzenden Walter Ulbricht (1893-1973, 1950-1971 Generalsekretär bzw. Erster Sekretär des SED-Zentralkomitees) und anderen SED-Größen am 26. August 1949. Es kam zu etlichen Begegnungen mit sowjetischen Offizieren und Journalisten, aber auch mit Otto Nuschke (1883-1957) als Vorsitzendem der SED-nahen Ost-CDU. Ein Treffen mit Wladimir S. Semjonow (1911-1992), damals politischer Berater der Sowjetischen Kontrollkommission zu Berlin, im sowjetrussischen Machtzentrum Karlshorst war der zweite Höhepunkt. Die Weimarer Diskussionsprotokolle zeigen eine fundamentale Ablehnung der Ideen Noacks durch die SED-Kontrahenten. Er hatte den instrumentellen Charakter des Interesses an ihm und am Reservoir des Nauheimer Kreises völlig verkannt. Nach einem Vortrag am 25. März 1950 an der Verwaltungsakademie in Forstzinna (Brandenburg) musste Noack allerdings wenigstens einige, jedoch nicht alle Selbsttäuschungen abstellen. Die anwesenden SED-Kader hatten ihn bis an den Rand eines Eklats als unwissenschaftlichen Pseudohistoriker und verkappten Agenten des US-Imperialismus attackiert.
Gegner
Im Herbst 1949 gerieten Noack und mit ihm der Nauheimer Kreis in der westdeutschen öffentlichen Meinung unter heftigen, anhaltenden Beschuss, teils wohl direkt angestoßen von Politikern in Adenauers Koalition, zudem in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), befördert durch Artikel in der jeweiligen Parteipresse. Die Vorwürfe reichten von höchst gefährlicher Kooperationsbereitschaft (so Brentano, Franz-Josef Strauß [1915-1988]) mit Kommunisten bis zu der Beschuldigung, Noack hätte 1939/40 eine schlimme, sehr nazikonforme Rolle in der Vorbereitung des norwegischen Kollaborationsregimes unter Vidkun Quisling (1887-1945) gespielt. Anderslautende Zeugnisse aus Norwegen halfen dem Würzburger Historiker nur wenig. Immerhin lehnten der Senat der Universität Würzburg und das Kultusministerium unter Alois Hundhammer (CSU, 1900-1974) die Einleitung dienstrechtlicher Schritte ab.
Rudolf Pechels Angriff und die Folgen
1950 verschärfte der Herausgeber der "Deutschen Rundschau", Rudolf Pechel (1882-1962), einst im Umfeld des deutschen konservativen Widerstands, die kombinierte Angriffslinie unter Anführungen von Prozessaussagen Quislings aus dem Jahre 1945. Die schon ältere Warnung des SPD-Abgeordneten im Bayerischen Landtag Heinz Beck (1914-1975) zitierend, denunzierte er Noack als das "gefährlichste trojanische Pferd des Ostens in der Westzone", dem die Verantwortlichen jedenfalls die Lehrbefugnis zu entziehen hätten. Noack reagierte mit öffentlichen Beleidigungen, verlor den von Pechel deshalb angestrengten Prozess vor dem Würzburger Amtsgericht im Mai 1952, scheiterte auch im Berufungsverfahren und hatte schließlich die hohen Prozesskosten von rund 20.000 DM zu tragen. Das reduzierte offensichtlich seine bisherigen Möglichkeiten, Nauheimer Publikationen selbst zu finanzieren. Gegen Pechels Behauptung klagte er seinerseits dann nicht mehr. Zugleich amüsierten sich andere Journalisten über seine attraktive, so viele Jahre jüngere ständige Begleiterin, Sekretärin, Protokollantin Marianne Buschette (z. B. im Spiegel im Juni 1951). Katholische Würzburger Studenten fühlten sich anschließend zu einer Flugblattaktion wegen unsittlichen Lebenswandels ermuntert. Andere Würzburger Studenten klagten mit nicht ganz so großer öffentlicher Resonanz, aber größerem Recht über allzu häufige Veranstaltungsausfälle und politische Belehrung im Seminar. 1955 schließlich bescheinigte ein medizinisches Gutachten Noack psychisch-nervöse Erschöpfung. Derartige Angriffe spiegelten keineswegs allein die Provokation der von ihm verfochtenen Nauheimer Ideen, sondern wenigstens genauso die sprunghafte Umtriebigkeit und besonders auch die Selbstgefälligkeit von Noacks öffentlichem Auftritt. Wegen dieser Eigenarten galt Noack auch einer wachsenden Zahl anderer engagierter Neutralisten als zweifelhafte Größe, mit der man sich besser nicht verbinden sollte.
Parteipolitische Auseinandersetzungen
Haußleiter hatte die CSU bereits im September 1949 verlassen und eine eigene kleine neutralistische Gruppierung gegründet. Er wahrte zu den Nauheimern erst recht Distanz, als er über eine Listenverbindung mit den "Heimatvertriebenen" 1950 in den Bayerischen Landtag gewählt worden war. Dem SPD-Mitglied Reinhard Strecker drohte seit dem Frühjahr 1950 ein Parteiausschlussverfahren, nachdem er Kurt Schumacher (1895-1952) schroff angegangen war: Er hatte den Parteivorsitzenden wegen dessen Verurteilungen der Nauheimer SED-Kontakte und der Vergangenheit Noacks, schließlich wegen dessen ungeprüfter Übernahme sozialdemokratischer Angriffe in Würzburg und im Münchner Landtag auf Noack in einem offenen Brief kritisiert. Unter dem Eindruck des Pechel-Noack-Prozesses erklärte die SPD-Führung dann Anfang Mai 1952 eine Doppelmitgliedschaft in der Partei und im Nauheimer Kreis für unzulässig; Mitglieder des Nauheimer Kreises im Wortsinn hatte es allerdings nie gegeben. Außerdem war der Kreis von Noack schon im Januar 1952 gewissermaßen offiziell aufgelöst worden, indem er dessen "organisierte Fortsetzung" mit der von ihm gerade neugegründeten Wählergemeinschaft "Freie Mitte" kurz nach seinem Austritt aus der CSU verkündet hatte. Damit hatte er das Resultat eines seit dem Frühjahr 1951 eingeleiteten Parteiausschlussverfahrens vorweggenommen.
Deutschlandpolitischer Kurs der CSU
Folglich war auch Noacks Versuch gescheitert, die CSU-Basis gegen die Politik der Westintegration Adenauers entschieden unterstützende Parteiführung um Ehard und Strauß in Stellung zu bringen und über München vielleicht doch noch die Bonner Politik aufzuhalten. Dieser Versuch wurde vermutlich durch eine zunächst relative Nachrangigkeit der bundesrepublikanischen außenpolitischen Problemstellungen in den CSU-Gremien begünstigt. Selbstverständlich spielte dabei auch die an der Parteibasis viel präsentere, noch vorherrschende außenpolitische Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung und Wählerschaft - nicht zuletzt auch durch die noch anhaltenden Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Partei überhaupt - eine Rolle. Nach etlichen Vorbereitungen in lokalen Parteigremien und in der unterfränkischen Presse hatte es der Würzburger Historiker geschafft, eine außerordentliche erweiterte Vorstandssitzung des Würzburger CSU-Kreisverbandes zum 30. August 1950 zu veranlassen, an der auch der verfassungspolitisch versierte Bundestagsabgeordnete Wilhelm Laforet (1877-1959) sowie Friedrich Wilhelm von Prittwitz und Gaffron (1884-1955) - 1933 der einzige wegen Adolf Hitlers (1889-1945) "Machtergreifung" abgetretene deutsche Botschafter und derzeit noch stellvertretender Vorsitzender der CSU-Landtagsfraktion - teilnahmen. Alleiniger Zweck war es, einen Briefentwurf Noacks an Ministerpräsident Ehard, zugleich Präsident des Außenpolitischen Ausschusses des Bundesrates, zu diskutieren und als Schreiben der Würzburger CSU abzusenden, um den Landesvorstand auf den Kurs der bekannten Neutralisierungs- und Entmilitarisierungsideen und in Opposition gegen Adenauers Ziele und Methoden zu bringen. In den ziemlich erregten Debatten erwies sich Laforet als schärfster der wohl doch überwiegenden Gegner. Von Prittwitz indessen unterstützte Noacks Ansatz sehr weitläufig. Am Ende kam Noacks Briefentwurf erstaunlicherweise lediglich geringfügig verändert durch, wurde allerdings klar als von ihm verfasst gekennzeichnet und mit dem Vermerk im Anschreiben an Ehard versehen, dass der Kreisverband sich nicht mit allen einzelnen Ausführungen identifizieren könne. Ehard antwortete erst im April 1951, aber rigoros: Noacks Opposition widerspräche völlig den von der CSU in München wie Bonn verfolgten Linien. Zu diesem Zeitpunkt lief allerdings schon das Parteiausschlussverfahren im Zeichen seiner Verständigung mit den Adenauer-Feinden Heinemann und Niemöller zur "Wiesbadener Erklärung" und der Teilnahme am "Deutschlandkongreß" mit einem ersten Bescheid Anfang Juni 1951. Gegen den hatte Noack noch Widerspruch beim Schiedsgericht eingelegt, um im Januar 1952 endlich selbst auszutreten, weil, wie er verlautbarte, die CSU mittlerweile eine Wiederaufrüstungspartei geworden sei.
Auflösung
Die Frage, ob die "Freie Mitte" wirklich eine "organisierte Fortsetzung" des Nauheimer Kreises gewesen ist, lässt sich nur in Bezug auf Noack und sein allernächstes Umfeld bejahen, sollte aber für die meisten Tagungsteilnehmer und Bezieher seiner Nauheimer Dokumentationen verneint werden. Im September 1952 fusionierte diese junge Wählervereinigung mit ihren angeblich rund 200 Mitgliedern mit der im Südwesten ansetzenden "Freisozialen Union" zum "Block der Mitte/FSU", welchen Noack vermutlich aus Enttäuschung über eine ausbleibende günstige Listenplatzierung zur zweiten Bundestagswahl im Juni 1953 verließ. Nun trat er Heinemanns "Gesamtdeutscher Volkspartei" bei, seit dem April im Wahlbündnis mit dem "Block". Einen Monat später trat er wieder aus, weil jenes neutralistische Wahlbündnis um den SED-infiltrierten "Bund der Deutschen" erweitert wurde. Noack hatte zur Wahl 1953 empfohlen, die SPD als einzige ernstzunehmende Kontrahentin Adenauers zu wählen. 1960 wiederholte er diese Empfehlung. Diesmal kostete sie ihn die seit 1956 bestehende Mitgliedschaft in der Freien Demokratischen Partei (FDP). Sein konsequentes Festhalten am Neutralismus jenseits solcher Irrungen im parteipolitischen Feld bekundete die von 1952 bis 1967 unregelmäßig herausgegebene schmale Zeitschrift "Welt ohne Krieg", in der Machart eine Art Fortsetzung der broschürenartigen "Ostersendung" des Nauheimer Kreises von 1950.
Forschungsstand
Eine durchgreifende geschichtswissenschaftliche Darstellung des Nauheimer Kreises liegt nicht vor. Zahlreiche Erwähnungen und auch gelungene Teilbetrachtungen in der Literatur über die damaligen Neutralitätsbestrebungen fügen sich nicht zu einem klaren Gesamtbild. Manche, vermutlich wichtige faktische Zusammenhänge können weiterhin nur der zeitgenössischen Publizistik entnommen werden. Zudem fehlt insbesondere eine gründliche Biographie Noacks.
Literatur
- Rainer Dohse, Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955, Hamburg 1974.
- Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945-1990 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 127), Düsseldorf 2001.
- Ewald Kreyerhoff, Die Neutralisierungskonzeption des Nauheimer Kreises unter besonderer Berücksichtigung ihrer Realisierungschancen, Münster 1979.
- Josef Müller, Die Gesamtdeutsche Volkspartei. Entstehung und Politik unter dem Primat nationaler Wiedervereinigung 1950-1957, Düsseldorf 1990.
- Rainer F. Schmidt, Ulrich Maria Gustav Ferdinand Noack. Politisierender Wissenschaftler und Dilettant der Politik, in: Helmut Flachenecker/Franz Fuchs (Hg.), Anfänge der geschichtlichen Forschung an der Universität Würzburg. 150 Jahre Historisches Institut/100 Jahre Kunstgeschichtliches Institut (Historische Studien der Universität Würzburg 9), Würzburg 2010, 177-193.
- Klaus von Schubert, Wiederbewaffnung und Westintegration. Die innere Auseinandersetzung um die militärische und außenpolitische Orientierung der Bundesrepublik 1950-1952, Stuttgart 1970.
- Hans-Erich Volkmann, Die innenpolitische Dimension Adenauerscher Sicherheitspolitik in der EVG-Phase, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956. 2. Band: Die EVG-Phase, München 1990, 235-604.
Quellen
- Das Protokoll der Würzburger CSU-Vorstandssitzung mit anderen Materialien abgedruckt in: Walter Berberich, Die historische Entwicklung der Christlich-Sozialen Union in Bayern bis zum Eintritt in die Bundespolitik, phil. Diss. Würzburg 1965 (betreut von Noack), 223-242.
- Wilhelm Cornides, Die Neutralitätslehre des Nauheimer Kreises und der geistige Hintergrund des West-Ost-Gespräches in Deutschland, in: Europa-Archiv, 5 (Januar-Juni 1950), Politisches Archiv, 8. Folge: 5. Juni 1950, 3069-3112; 6 (Januar-Juni 1951), Politisches Archiv, 11. Folge: 20. April 1951, 3869-3892.
- Dokumente des Friedens. Mitteilungen für die Freunde der Neutralisierung Deutschlands. Nauheimer Kreis, Würzburg o. J. [1949].
- Heinrich Euler, Ulrich Noack, in: Ein Leben aus freier Mitte. Beiträge zur Geschichtsforschung. Festschrift für Prof. Dr. Ulrich Noack von seinen Kollegen, Schülern und Freunden zum 60. Geburtstag, Berlin 1961, 7-32.
- Ulrich Noack (Hg.), Die Nauheimer Protokolle. Diskussionen über die Neutralisierung Deutschlands. Die ersten drei Tagungen des Nauheimer Kreises August, September, Dezember 1948, Würzburg 1950.
- Ulrich Noack, Die Sicherung des Friedens durch Neutralisierung Deutschlands und seine ausgleichende weltwirtschaftliche Aufgabe, Köln 1948.
- Ulrich Noack (Hg.), Welt ohne Krieg. Historisch-politische Vierteljahresschrift aus freier Mitte für dauernden Frieden, soziale Gerechtigkeit und menschliche Freiheit. (16 Ausgaben erschienen von 1952 bis 1967)
- Ostersendung 1950 des Nauheimer Kreises, Würzburg o. J. [1950].
Weiterführende Recherche
Empfohlene Zitierweise
Wolfgang Altgeld, Nauheimer Kreis, publiziert am 03.08.2011; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Nauheimer_Kreis (6.10.2024)