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Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, 1922

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, hg. von Pius Dirr, München/Berlin 1922, Titelblatt.
Hans von Schoen, 1910-1918 Mitarbeiter der bayerischen Gesandtschaft in Berlin. (Abb. aus: Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. 2. Band, Berlin 1931, 1688)
Pius Dirr (Abb. aus: Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. 1. Band, Berlin 1931, 329)

von Bernhard Grau

In der Debatte um die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielten Dokumente der bayerischen Gesandtschaften eine zentrale Rolle. Bereits im November 1918 ließ Ministerpräsident Kurt Eisner (USPD, 1867-1919) Unterlagen der auswärtigen Vertretung in Berlin veröffentlichen, die die Spitzen von Staat und Militär in Deutschland massiv belasteten. Nach seinem Tod gelangte durch Vermittlung Felix Fechenbachs (1894-1933) das sog. Ritter-Telegramm in die ausländische Presse, wodurch auch das Papsttum in Misskredit geriet. Diese Veröffentlichungen zogen Publikationen des bürgerlichen Lagers nach sich. 1922 erschien im Auftrag des Bayerischen Landtags eine umfangreiche Zusammenstellung, die Eisner eine Verfälschung der Dokumente nachweisen und so die Unschuld Deutschlands unter Beweis stellen sollte.

Die Veröffentlichung von Dokumenten der bayerischen Gesandtschaft

Schon am 21. November 1918 hatte Kurt Eisner (USPD, 1867-1919) von der neuen Regierung in Berlin eine Veröffentlichung der amtlichen Urkunden über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gefordert. Drei Tage später erschienen auf seine Initiative hin zuerst im Berliner Tagblatt, im Anschluss daran in der Mehrzahl der großen Tageszeitungen Dokumente aus den Akten der bayerischen Gesandtschaft in Berlin. Sie sollten belegen, dass das Deutsche Reich den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu verantworten hatte. Im Mittelpunkt stand dabei ein Bericht des bayerischen Geschäftsträgers in Berlin, Hans von Schoen (1876-1969), an den bayrischen Ministerratsvorsitzenden, Georg Graf von Hertling (1843-1919), vom 18. Juli 1914. Wegen des großen Umfangs gab Eisner den Schriftsatz stark verkürzt an die Presse. Mangelnde Sorgfalt belegte die Tatsache, dass als Urheber zunächst der Berliner Gesandte Hugo Graf von Lerchenfeld-Koefering (1843-1925) genannt wurde. Unstrittig ist, dass es Eisner weniger um eine philologisch genaue Quellenveröffentlichung als um den politischen Effekt ging.

Erzberger-Denkschrift und Ritter-Telegramm

Felix Fechenbach. Propagandapostkarte, die wohl im Zusammenhang mit dem Prozess um die "Eisnerschen Fälschungen" entstand. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-989)

Nach dem Tod Eisners (21. Februar 1919) verfolgten seine Anhänger das Ziel weiter, die Öffentlichkeit über die wahren Ursachen des Krieges aufzuklären und dadurch einen inneren Reinigungsprozess einzuleiten. Um den Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission, Matthias Erzberger (Zentrum, 1875-1921), zu treffen, gab die Münchner Räteregierung im April 1919 kompromittierende Auszüge einer von diesem verfassten Denkschrift über deutsche Annexionsforderungen an die Münchner Presse.

Weitere Aufregung verursachte die Bekanntgabe eines Telegramms des bayerischen Gesandten beim Vatikan, Otto Freiherr von Ritter zu Grünstein (1864-1940), vom 24. Juli 1914, da dieses die Unterstützung des Papstes für ein scharfes Vorgehen Österreichs gegen Serbien publik machte. Eine Abschrift dieses Dokuments hatte Eisners früherer Sekretär, Felix Fechenbach (1894-1933), in der zweiten Aprilhälfte des Jahres 1919 dem Genfer Publizisten René Payot (1894-1970) zusammen mit der Denkschrift Erzbergers zugespielt. Ein Bericht über diese Dokumente erschien am 29. April in der Pariser Tageszeitung "Le Journal".

Die Quellensammlung von Pius Dirr

Die Publikationen der revolutionären Linken provozierten heftige Gegenangriffe des bürgerlichen Lagers und zogen eine Reihe offiziöser Quellenveröffentlichungen nach sich. So veröffentlichte der USPD-Abgeordnete Karl Kautsky (1854-1938) im Auftrag der Berliner Regierung eine Sammlung von Quellen zum Kriegsausbruch, in der er auch die Dokumente der bayerischen Gesandtschaft berücksichtigte.

Der Bayerische Landtag bestellte am 14. August 1919 seinerseits eine Kommission, die sich aus je einem Vertreter der sechs im Landtag vertretenen Fraktionen zusammensetzen sollte. Dieser Untersuchungsausschuss sollte das gesamte Aktenmaterial und alle mit den Eisnerschen Enthüllungen zusammenhängenden Vorgänge nachprüfen. Daraus erwuchs die von dem Initiator des Ausschusses, dem DDP-Abgeordneten Pius Dirr (1875-1943), herausgegebene Edition "Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch". Erklärter Zweck dieser Veröffentlichung war es, den Fall der Enthüllungen Eisners "in einem aktenmäßigen und zeugenschaftlichen Verfahren" aufzuklären (Dirr, Bayerische Dokumente, S. III). Dirr gab sich allerdings wenig Mühe, sein vordringliches Bestreben zu kaschieren, das Deutsche Reich von allen Vorwürfen reinzuwaschen, indem er die Veröffentlichung Eisners als plumpe Fälschung hinstellte. Die erste Auflage seiner Publikation erschien im Februar 1922 als Landtagsdrucksache, die Buchausgabe zu Ostern desselben Jahres. Verbesserte Neuauflagen kamen in den Jahren 1925 und 1928 auf den Markt.

Die Süddeutschen Monatshefte

Auf breitere Resonanz stießen die Thesen Dirrs durch die bürgerliche Presse. Insbesondere die Süddeutschen Monatshefte von Paul Nikolaus Cossmann (1869-1942) popularisierten die These von der Dokumentenfälschung und untermauerten damit die Dolchstoßthese. Um den Vorwurf der deutschen Kriegsschuld zu entkräften, brachte die Zeitschrift auch selbst einschlägige Dokumente heraus.

Die dadurch weiter angeheizte öffentliche Debatte gipfelte in zwei spektakulären Prozessen. Im Februar 1922 erhob Fechenbach vergeblich Beleidigungsklage gegen Cossmann. Im Herbst desselben Jahres wurde Fechenbach dann wegen Landesverrats angeklagt, weil er das Ritter-Telegramm publik gemacht und über verbotene Geheimorganisationen berichtet hatte, und zu insgesamt 11 Jahren Festungshaft verurteilt.

Fazit

Eisners Kritikern gelang es nicht, ihm eine gezielte Dokumentenfälschung nachzuweisen. Sie konnten jedoch belegen, dass er die Unterlagen der Berliner Gesandtschaft stark verkürzt wiedergegeben und durch drucktechnische Hervorhebungen in ihrer Aussage akzentuiert hatte. Ungeachtet dessen blieb die Bewertung dieser Schriftstücke aber auch in der Folge höchst umstritten. Unklar ist dabei nach wie vor, ob und wenn ja in welchem Umfang die Dokumentenveröffentlichungen den Gang der Verhandlungen über den Versailler Vertrag beeinflussten. Selbst die an die Veröffentlichung Eisners anschließenden offiziellen Quellenveröffentlichungen konnten nichts daran ändern, dass die Frage der deutschen Kriegsschuld je nach politischem Standpunkt unterschiedlich beurteilt wurde. Vor dem Hintergrund einer bis heute anhaltenden kontroversen Debatte wird man Eisner aber zumindest attestieren müssen, mit seinem Vorstoß den Finger in eine offene Wunde gelegt zu haben.

Literatur

  • Michael Dreyer/Oliver Lembcke, Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 70), Berlin 1993.
  • Hermann Schueler, Auf der Flucht erschossen. Felix Fechenbach 1894-1933, Köln 1981.

Quellen

  • Karl Kautsky, Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. 5 Bände, Charlottenburg 1919-1920.
  • Süddeutsche Monatshefte, 18. Jg. (1921), 19. Jg. (1922).
  • Reinhard Weber (Bearb.), Max Hirschberg, Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts 1883 bis 1939 (Biographische Quellen zur Zeitgeschichte 20), München 1998.

Weiterführende Recherche

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Empfohlene Zitierweise

Bernhard Grau, Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, 1922, publiziert am 02.11.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerische_Dokumente_zum_Kriegsausbruch_und_zum_Versailler_Schuldspruch,_1922> (19.04.2024)