Vita des Hl. Rupert
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Die Lebensbeschreibung des Hl. Rupert von Salzburg (gest. nach 716), im 8. Jahrhundert entstanden und ab dem 9. Jahrhundert überliefert, stellt eine der Hauptquellen für die um 700 in enger Verbindung mit den bayerischen Herzögen Theodo (gest. um 717) und Theodebert (gest. um 717/18) erfolgte Neubegründung der Salzburger Kirche dar, die 798 zum Mittelpunkt der bayerischen Kirchenprovinz werden sollte. Mit Hinweisen zur herzoglichen Politik, aber auch zu Bevölkerungsverhältnissen und Raumorganisation trägt sie wesentlich zum Bild des agilolfingischen Herzogtums des frühen 8. Jahrhunderts bei. Verschiedene Redaktionen der Vita bis ins 15. Jahrhundert stilisierten den Hl. Rupert nach den Bedürfnissen der Zeit vom Bistumspatron des Frühmittelalters zur Identifikationsfigur der hochmittelalterlichen Kanonikerreform bis zum Slawenmissionar und Nothelfer gegen die Türkengefahr am Ende des Mittelalters.
Der Hl. Rupert (gest. nach 716) gilt neben dem Hl. Emmeram (spätes 7./frühes 8. Jahrhundert?) und dem Hl. Korbinian (gest. ca. 729/730) als einer der "Gründerheiligen" der frühen bayerischen Kirche. Er kam auf Einladung Herzog Theodos (gest. um 717) um 696 nach Bayern und Salzburg, erhielt dort von diesem umfangreichen Besitz und begründete das kirchliche Leben in der ehemaligen Römerstadt neu. Davon berichtet die Lebensbeschreibung des Heiligen, die "Vita Ruperti", die in insgesamt sechs Redaktionen überliefert ist. Von ihrer heute verlorenen Urfassung im 8. Jahrhundert bis zum 15. Jahrhundert wurde die Vita des Hl. Rupert mit verschiedenen kirchenpolitischen und hagiographischen Zielsetzungen wiederholt um- und neugeschrieben.
Die Redaktionen der Vita Ruperti
Die Vita des Hl. Rupert ist in sechs Redaktionen überliefert. Die "Gesta sancti Hrodberti confessoris" ("Die Taten des heiligen Bekenners Rupert" – Red. A) aus dem frühen 9. Jahrhundert und das erste Kapitel der 870 verfassten "Conversio Bagoariorum et Carantanorum" ("Bekehrungsgeschichte der Bayern und Karantanen" – Red. B) beruhen auf einer gemeinsamen, heute verlorenen Vorlage (Redaktion X). Mitte des 12. Jahrhunderts kombinierte und redigierte ein Unbekannter alle schriftlichen Nachrichten über das Leben des Hl. Rupert und schuf die "Communis legenda sancti Rodberti episcopi" ("Allgemeine Legende des heiligen Bischofs Rupert" – Red. C). Im 15. Jahrhundert wurde die Vita des Hl. Rupert mit der seiner Nichte, der Hl. Erentrud zu einer hagiographischen Erzählung verbunden und legendenhaft ausgebaut ("Vita Ruperti et Erentrudis" – Red. D, E & Legendar des Hermann Greven). Am Ausgang des Mittelalters entstand schließlich mit der "Historia sancti Rudberti episcopi Salisburgensis" ("Geschichte des heiligen Salzburger Bischofs Rupert“ – Redaktion F) die längste und fabulöseste "Vita Ruperti" (W. Levison).
Der Archetyp
Wie bei vielen mittelalterlichen Heiligenlegenden ist es auch im Falle der Vita des Hl. Rupert schwierig, zur Urform der Legende vorzudringen. Durch den genauen textkritischen Vergleich der "Gesta sancti Hrodberti confessoris" (Red. A) mit dem ersten Kapitel der 870 verfassten "Conversio Bagoariorum et Carantanorum" (Red. B) konnte erschlossen werden, dass es sich bei beiden Texten um voneinander unabhängige Redaktionen eines Archetyps handelt (H. Beumann, H. Wolfram). Diese Ur-Vita (Red. X) wurde höchstwahrscheinlich noch im 8. Jahrhundert zu Pergament gebracht.
Die "Translatio Ruperti" könnte als Anlass gedient haben, das Leben Ruperts zu verschriftlichen. Am 24. September 774 ließ Abtbischof Virgil (Abt 746-784, ab 749 Abtbischof) die Gebeine des Hl. Rupert in den neuen Salzburger Dom überführen. Die Translation der Reliquien eines bzw. einer Heiligen war das äußere Zeichen für die Rechtmäßigkeit seiner bzw. ihrer Verehrung, bevor die Heiligsprechung durch den Papst ab dem 12. Jahrhundert zur Regel wurde.
Allerdings spricht das Schweigen der erhaltenen Redaktionen A und B über die "Translatio Ruperti“ für eine Abfassung der Ur-Vita vor 774. Inwieweit Virgil in die Entstehung der Urfassung der "Vita Ruperti“ involviert war, lässt sich nur schwer feststellen, jedoch sprechen einige Indizien dafür. So beklagte er sich am Beginn seines Wirkens in Salzburg, wie wenig er über den Hl. Rupert in Erfahrung bringen konnte, als dessen Gründungstätigkeit im Zentrum eines Rechtsstreits mit dem bayerischen Herzog Odilo (reg. 736/737-748) stand. Darüber hinaus zeigte Virgil sein Interesse an der Frühzeit der bayerischen Kirche, als er seinen Freund Bischof Arbeo von Freising (Bischof 764-783) aufforderte, die Vita des Hl. Korbinian zu verfassen.
Der historische Kern der "Vita Ruperti"
Die Taten der historischen Person Rupert sind vor allem durch den Vergleich der beiden ältesten Redaktionen des verlorenen Archetyps rekonstruierbar. Auffällig ist sowohl bei den "Gesta Hrodberti" als auch bei der "Conversio" der nüchterne wenig mirakulöse Stil, der sie etwa von den Viten des Hl. Korbinian und des Hl. Emmeram stark unterscheidet; sie sind im Gegensatz zu diesen mehr Tatenberichte als Wundererzählungen. Weitere Informationen über Ruperts Wirken liefern die beiden ältesten Salzburger Güterverzeichnisse, die "Notitia Arnonis" (ca. 788) und die "Breves Notitiae" (ca. 798). Allerdings haben alle genannten Texte eine jüngere handschriftliche Überlieferung. Die "Gesta Hrodberti" haben sich in vier Handschriften erhalten, wobei die älteste aus dem 9. Jahrhundert stammt (Graz UB Cod. 790). Die "Conversio" ist in insgesamt vierzehn Handschriften überliefert. Ihre älteste Abschrift wurde von zwei Händen, eine aus dem 10. und eine aus dem 12. Jahrhundert, angefertigt (ÖNB Cod. lat. 596). Auch die ältesten Abschriften der "Notitia Arnonis" und der "Breves Notitiae" stammen aus dem 12. Jahrhundert (F. Lošek). Allein die kurze namentliche Nennung Ruperts im Verbrüderungsbuch des Klosters St. Peter in Salzburg wurde im 8. Jahrhundert niedergeschrieben.
Sowohl die "Gesta Hrodberti" als auch die "Conversio" berichten, dass der Hl. Rupert im zweiten Regierungsjahr des Frankenkönigs Childebert III. (reg. 694-711) in Worms (Rheinland-Pfalz) weilte, von königlichem Blute war und den Rang eines Bischofs bekleidete. Unklar ist, ob Rupert Bischof der Stadt Worms war, oder ob er ein Wanderbischof ohne festen Bistumssprengel war, wie es sie um 700 noch gab. Für Letzteres spricht die Tatsache, dass bis dato keine Spur einer eigenständigen Wormser Rupert-Tradition aufgefunden werden konnte. Die "Gesta Hrodberti" und die "Conversio" berichten weiter analog, dass der bayerische Herzog Theodo (gest. nach 716) den Hl. Rupert zu sich einlud. Der Heilige nahm die herzogliche Einladung an, doch über seine Beweggründe schweigen die Redaktionen A und B. Möglicherweise waren es politische Gründe, die Rupert bewogen, das fränkische Herrschaftsgebiet zu verlassen und nach Bayern zu den Agilolfingern zu gehen. (H. Wolfram).
Dass Rupert nach seiner Ankunft in Regensburg Herzog und Volk taufte, wie es die "Conversio" und die "Breves Notitiae" berichten, ist als späterer Zusatz zu bewerten, schließlich waren die Bayern um 700 bereits Christen. Hier ist den "Gesta Hrodberti" zu vertrauen, die berichten, dass Rupert Herzog Theodo im richtigen Glauben unterrichtete. Einig sind sich die Redaktionen A und B darüber, dass Rupert um die Erlaubnis bat, weiter die Donau abwärts reisen zu dürfen. Womöglich plante er eine Missionsreise zu den Awaren. In den "Gesta Hrodberti" endet Ruperts Reise in "Lauriacum" (Lorch, Stadtteil von Enns, Oberösterreich), während der Autor der "Conversio" Rupert bis nach Unterpannonien reisen lässt, um den Anspruch des Erzbistums Salzburg auf sein östliches Missionsgebiet im Gerichtsprozess gegen den griechischen Slawen-"Apostel“ Methodios (gest. 885) zu untermauern.
Laut den "Gesta" kehrte der Hl. Rupert in Lorch um. Sein Weg führte ihn über den Wallersee, wo er eine Peterskirche errichtete (Seekirchen am Wallersee, Salzburg), zur verfallenen römischen Stadt "Iuvavum" (Salzburg) am Fluss "Ivarus" (Salzach). Neben römischen Ruinen fand er dort auch eine romanische Restbevölkerung vor, die die Wirren des 5. und 6. Jahrhunderts in den höher gelegenen und gut zu verteidigenden Teilen der Stadt, etwa dem Nonnberg, überdauert hatte. Mit herzoglicher Erlaubnis begann Rupert seine Gründungstätigkeit in Salzburg. Zuallererst stiftete er, wahrscheinlich aufbauend auf eine bereits bestehende romanische Gemeinschaft, das Kloster St. Peter; nachdem er noch einmal nach Worms zurückgekehrt war, ließ er für seine mitgereiste Nichte Erentrud das Stift Nonnberg errichten.
Die beiden ältesten Salzburger Güterverzeichnisse berichten ergänzend zur Vita, dass Rupert in Bischofshofen (Österreich) die Maximilianszelle gründete, womit er wahrscheinlich an einen in dieser Gegend praktizierten Kult des Hl. Maximilian von Celeia (gest. um 284) anknüpfte. Zusätzlich zu den großzügigen Schenkungen des Herzogssohnes Theodebert (gest. nach 716) sicherte Rupert sein Missionswerk auch aus eigenen Mitteln finanziell ab. So erwarb er die Ortschaft Piding und kaufte in Bad Reichenhall (beide Lkr. Berchtesgadener Land) eine Saline. Als Herzog Theodo 716 beim Papst in Rom um eine Bistumsorganisation für Bayern ansuchte, fand der Hl. Rupert keine Erwähnung mehr. Entweder war er zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben oder nach Worms zurückgekehrt, wobei die Interpretation der Phrase "ad propriam remeavit sedem" am Ende der "Conversio" entscheidend ist. Jedenfalls genießt Ruperts Rückkehr nach Worms in der Geschichtswissenschaft größere Glaubwürdigkeit.
Unabhängig von seinem Todesort kann festgehalten werden, dass der historische Rupert die materiellen und institutionellen Voraussetzungen für die Gründung des Bistums Salzburg schuf. Aber erst der unbekannte Autor der ersten "Vita Ruperti" im 8. Jahrhundert und die seinen Text überarbeitenden Redaktoren erklärten den Hl. Rupert zum Salzburger Bistumspatron.
Die Salzburger Bistumsreform und die "Allgemeine Legende des heiligen Bischofs Rupert"
Nach mehreren Jahrhunderten der Verehrung des Hl. Rupert machte sich ein anonymer Redaktor an die Neufassung von dessen Vita. Seine Rupertlegende ist unter dem Titel "Communis legenda sancti Rodberti episcopi" ("Allgemeine Legende des heiligen Bischofs Rupert" – Red. C) bekannt. Die handschriftliche Überlieferung dieser "Vita Ruperti" stellt mit momentan 57 bekannten Textzeugen alle anderen Redaktionen in den Schatten. Grundlegend für ihre große Popularität war einerseits ihre Verlesung am Fest der "Depositio Ruperti" am 27. März und andererseits ihre Aufnahme in das "Magnum Legendarium Austriacum" und in das Sondergut der "Legenda Aurea". Die ältesten Textzeugen der "Communis legenda" stammen aus der Mitte des 12. Jahrhunderts und befinden sich heute in österreichischen Kloster- und Landesbibliotheken, der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, der Bayerischen Staatsbibliothek in München und der Staatsbibliothek in Berlin.
Verfasst wurde die "Communis legenda" in der Regierungszeit von Erzbischof Konrad I. (Erzb. 1106-1147), was nicht nur ihre handschriftliche Überlieferung nahelegt, sondern auch ihr Inhalt begründet. Ihr anonymer Redaktor hat einerseits versucht, alle Informationen über den Hl. Rupert in einem Text harmonisch zu vereinen, andererseits war er bestrebt, die historische Gestalt des Bistumspatrons für die kirchenpolitischen Bedürfnisse seiner Gegenwart nutzbar zu machen. Diese war sowohl durch den Investiturstreit, in dem die Salzburger Erzbischöfe seit Gebhard I. (Erzb. 1060-1088) auf päpstlicher Seite standen, als auch durch Erzbischof Konrads I. große Bistumsreform geprägt. Im Zentrum der sog. Salzburger Bistumsreform stand die Förderung der Regularkanoniker, allen voran des regulierten Salzburger Domkapitels. Dabei wurde der Hl. Rupert zur zentralen Identifikationsfigur. Sein Andenken wurde in Form von Reliquien, bildlichen Darstellungen, neuen Rupert-Offizien und nicht zuletzt durch die "Communis legenda" neu belebt.
Hierfür wurde das Leben des Hl. Rupert an die geistlichen Normen des 12. Jahrhunderts angepasst, unter anderem durch die Angleichung seines Tugendkatalogs an die Lebensweise der Regularkanoniker. Neben weiteren Anspielungen auf die eigene Gegenwart, wie der Vertreibung Ruperts aus Worms durch Ungläubige – die auf die im Investiturstreit exilierten Salzburger Erzbischöfe (Gebhard I., Thiemo [Erzb. 1090-1098], Konrad I.) anspielt – ist der Inhalt der "Communis legenda" von der Integration von bisher nicht in der Vita des Hl. Rupert enthaltenen historischen und hagiographischen Informationen geprägt. Unter anderem wird der Bericht der "Breves Notitiae" über die Gründung der Maximilianszelle inkludiert und auch das damit verbundene Lichtwunder. Die Beschreibung eines in diesem Zusammenhang von Rupert gestifteten Holzkreuzes erfuhr eine Veränderung, um eine Identifikation mit dem berühmten Rupertuskreuz zu ermöglichen. Weiters wurden die beiden, schon im Verbrüderungsbuch von St. Peter erwähnten Gefährten Ruperts, der Hl. Gisilar und der Hl. Chuniald, in der Redaktion C erstmals namentlich in die Vita des Hl. Rupert aufgenommen.
Besonders auffällig ist die enge inhaltliche Verbindung zwischen der "Communis legenda" und dem ersten Eigenoffizium (Stundengebetsgesang) für den Hl. Rupert ("Eia laude condigna"), das in einer Frühform um 1100 erstmals fassbar ist, bevor es im berühmten Antiphonar von St. Peter um 1160 ganz überliefert ist. Seine Inkorporation in den "Liber Ordinarius" zeigt zudem, dass es Teil der Salzburger Domliturgie wurde. Am auffälligsten ist die Nähe zwischen der "Communis legenda" und dem Offizium "Eia laude condigna" in Bezug auf das Ableben des Hl. Rupert. Schon die beiden ältesten Redaktionen A und B berichten, dass er am "Tag der Auferstehung unsers Herrn Jesus Christus" ("die resurrectionis domini nostri Iesu Christi") verstorben sei. Sowohl das Rupert-Offizium als auch die "Communis legenda" halten fest, dass hiermit nicht nur der Auferstehungstag, der 27. März, sondern auch ein Ostersonntag gemeint sei, indem sie den Hl. Rupert vor seiner Himmelfahrt 40 Tage fasten lassen. Diesen neuen hagiographischen Sachverhalt wiederum nutzte 1129 ein Salzburger Domherr, um die erste Berechnung des genauen Todesjahres des Hl. Rupert anzustellen, da dieses nicht von der Vita überliefert wurde. Sein aus heutiger Sicht inkorrektes Ergebnis markiert den Beginn einer Jahrhunderte andauernden Diskussion über die Lebensdaten des Hl. Rupert. Keinen Diskussionsspielraum ließ die "Communis Legenda" hingegen über den Todesort des Heiligen. Rupert fuhr ihr zu Folge, begleitet von himmlischen Chören, von Salzburg aus in den Himmel auf und bei seinem Requiem waren weißgekleidete Engelsgestalten anwesend, die an das Osterevangelium erinnern sollen.
Die "Communis legenda" stellt einen Höhepunkt in der hagiographischen Stilisierung des Hl. Rupert dar und sie hat das Bild des Heiligen nachhaltig geprägt. Dafür sorgte unter anderem ihre frühe Übersetzung ins Deutsche. Die erste bekannte deutsche Fassung der "Communis legenda" findet sich in der ältesten Übersetzung der "Legenda Aurea", der sogenannten "Elsässischen Legenda Aurea", die vor 1350 verfasst wurde. Die lateinische Vita wiederum wurde Teil der gedruckten Breviere der Salzburger Erzbischöfe und Erzbischof Paris Graf von Lodron (reg. 1619-1653) ließ Szenen aus der "Communis legenda" an die Wände des Rupert-Oratoriums im Salzburger Dom malen.
Die Vertreibung Ruperts aus Worms, wie sie die "Communis legenda sancti Rodberti episcopi" beschreibt. Deckengemälde von Fra Arsenio Mascagni (1579-1637) um 1625/28, Öl auf Kupfer, Rupertusoratorium, Salzburger Dom. (Dommuseum Salzburg/ J. Kral)
Älteste deutschsprachige Übersetzung der "Communis legenda sancti Rodberti episcopi" in der sogenannten Elsässischen Legenda Aurea. (Bayerische Staatsbibliothek Cgm 6, fol. 162v)
Die spätmittelalterliche Legende des Slawenmissionars Rupert und seiner Schülerin Erentrud
Nur äußerst schmal überliefert ist eine wahrscheinlich im 15. Jahrhundert erdachte Doppelvita des Hl. Rupert und der Hl. Erentrud. Die älteste bekannte handschriftliche Überlieferung dieser "Vita Ruperti et Erentrudis" befand sich im zwölfbändigen Legendar des Klosters Böddeken (Nordrhein-Westfalen). Doch diese wichtige hagiographische Quelle wurde 1945 durch ein Feuer fast vollkommen vernichtet. So ist die "Vita Ruperti et Erentrudis" heute nur mehr in Form einer Abschrift überliefert, die der Kölner Kartäusermönch Hermann Greven (gest. 1479) in den 1460er Jahren anfertigte. Grevens Abschrift wiederum wurde in den 1470er Jahren vom belgischen Hagiographen Jean Gielemans (1427-1487) mit den "Gesta Hrodberti" verknüpft, womit er die Redaktion D der "Vita Ruperti" schuf. Im Jahr 1483 druckte der erste Kölner Drucker Ulrich Zell (gest. 1507) eine erweiterte Fassung der "Legenda Aurea", in die er eine große Anzahl von Viten aus Grevens Legendar einbrachte, wobei er die "Vita Ruperti et Erentrudis" mit der viel bekannteren "Communis legenda" verknüpfte. So entstand die Redaktion E der "Vita Ruperti" erst in der Druckerpresse.
Die von Hermann Greven in den 1460er Jahren kopierte Lebensgeschichte des Hl. Rupert und der Hl. Erentrud zeichnet sich vor allem durch gelehrte Zusätze und legendenhafte Ausschmückung aus. So wird die in der "Communis legenda" erwähnte Vertreibung Ruperts aus Worms mit einer arianischen Verfolgung des Heiligen erklärt. Der ruinöse Zustand Salzburgs bei der Ankunft Ruperts wird dem Hunnenherrscher Attila (gest. 453) angelastet. Diese Erklärung für den Untergang von "Iuvavum" findet sich so auch in zeitgenössischen historiographischen Werken. Die anschließende Missionsreise führt Rupert in dieser Vita bis nach Kärnten, was eine ahistorische Verknüpfung Ruperts mit der unter Abtbischof Virgil begonnen Salzburger Slawenmission darstellt. Die zweite Hälfte der Vita stellt die Hl. Erentrud in den Mittelpunkt, die in langen Lehrgesprächen mit dem Hl. Rupert als dessen Schülerin stilisiert wird.
Durch den Verlust des Legendars von Böddeken kann, solange keine weiteren Textzeugen gefunden werden, nur spekuliert werden, ob diese "Vita Erentrudis" aus dem Stift Nonnberg stammt. Ein Indiz hierfür liefert der Schlussteil dieser Vita. In diesem wird berichtet, dass nach der Himmelfahrt des Hl. Rupert und dessen Beisetzung in Salzburg das ganze Volk von Bayern und Österreich ("Noricorum et Austrasiorum") um ihn trauerte. Die darauffolgenden letzten Sätze der "Vita Ruperti et Erentrudis" sind der Himmelfahrt und dem Requiem der Hl. Erentrud gewidmet. Sie wird durch den Hl. Rupert, in Form einer nächtlichen Vision, auf ihre Himmelfahrt vorbereitet. Ihre Grablege am 30. Juni wird von wohlriechenden Düften begleitet, ein häufig gebrauchter hagiographischer Topos, womit die Verehrungswürdigkeit eines oder einer Heiligen unterstrichen wurde.
Von der "Vita Ruperti" zur "Historia Rudberti" am Ausgang des Mittelalters
Die Redaktion F der "Vita Ruperti" ist nur als Druck des Humanisten Heinrich Canisius (1557-1610) überliefert, den dieser 1604 im sechsten Band seiner "Antiquae Lectionis" publizierte. Über die Herkunft des Textes berichtet Canisius, dass er die "Historia sancti Rudberti episcopi Salisburgensis" ("Geschichte des heiligen Salzburger Bischofs Rupert“ – Redaktion F) in einer Handschrift des Klosters St. Peter entdeckt hat. Bis dieser Textzeuge wiedergefunden wird, kann die "Historia Rudberti" nur anhand inhaltlicher Kriterien datiert werden. Hierbei ist besonders ein Gebet am Ende der Vita relevant, das die Trauergemeinde bei der Beisetzung Ruperts in Salzburg spricht. Der verstorbene Bistumspatron wird darin um Hilfe gegen die drohende Türkengefahr angerufen. Folglich stellt das 15. Jahrhundert den frühestmöglichen Abfassungszeitraum der "Historia Rudberti" dar (W. Levison). Darüber hinaus finden sich viele inhaltliche Überschneidungen mit dem Bild des Hl. Rupert in der Salzburger Bistumsgeschichtsschreibung um 1500.
Dieses Nahverhältnis zur Historiographie spiegelt sich in Inhalt und Form der "Historia Rudberti" wider. Sie ist ein in zwanzig Kapitel unterteilter Mischtext aus Historiographie und Hagiographie. Ihr neuntes Kapitel ist beispielsweise ganz der Erläuterung der Frage gewidmet, warum die Bayern auch als Noriker bezeichnet werden ("Quare Bauari Norici dicantur"). Die Antwort hierfür wird in Form einer kurzen Zusammenfassung der sog. bayerischen Stammessage gegeben. Weitere Quellen zur Salzburger Geschichte, wie Alkuins (gest. 804) Beschreibung des Salzburger Domes oder der "Catalogus presulum Iuvavensium", finden sich ebenfalls in der "Historia Rudberti" teils wörtlich wiedergegeben.
Gleichbedeutend neben diesen historiographischen Zusätzen stehen neue Legenden. So berichtet die "Historia Rudberti" an ihrem Beginn, dass der Hl. Rupert zwei Geschwister gehabt habe, den Hl. Trudpert (gest. 607) und die Hl. Erentrud, und gemeinsam mit diesen in Irland vom Hl. Patrick (5. Jh.) getauft worden sei. Inspiriert wurde der Redaktor der "Historia Rudberti" hierzu durch die "Passio Trudperti Brisgoviensis" aus dem 10. Jahrhundert, die den Hl. Trudpert als Bruder des Hl. Rupert identifiziert. Leonhard Tornatoris (gest. 1524), ein Mönch aus dem Kloster St. Peter in Salzburg, übernahm die neue Legende von der irischen Herkunft Ruperts in sein um 1500 verfasstes "Chronicon Salisburgense".
Die "Historia Rudberti" markiert somit einerseits den Höhepunkt der hagiographischen Legendbildung um den Hl. Rupert und andererseits den Beginn eines neuen gelehrten historiographischen Interesses an dessen Vita.
Die Vita des Hl. Rupert in der Geschichtsforschung
Am Beginn ihrer Erforschung stand die zentrale Frage nach der Datierung des Hl. Rupert. Die Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts legten durch die Veröffentlichung aller damals bekannten Redaktionen der "Vita Ruperti" den Grundstein für die Suche nach dem historischen Rupert. Es etablierte sich der Konsens, dass die "Conversio" (heute Red. B) als die ursprünglichste Version der "Vita Ruperti" anzusehen sei.
Folglich konzentrierte sich die Debatte um das wahre Zeitalter des Hl. Rupert auf die "Conversio". Im Zuge dieser etablierten sich zwei Parteien: die Traditionalisten, die an der im 12. Jahrhundert etablierten Datierung Ruperts mit einem Sterbejahr 623 festhielten und die Kritiker selbiger, die Ruperts Wirken in Bayern und Salzburg um das Jahr 700 herum ansetzten. Im Zuge dieser Debatte teilte Marcus Hansiz (1683-1766), ein Vertreter der Spätdatierung, die Überlieferung der "Vita Ruperti" erstmals in Redaktionen ein. Die Kritiker der Salzburger Tradition sollten Recht behalten und Ende des 19. Jahrhunderts war die Spätdatierung Ruperts in der Geschichtswissenschaft allgemein anerkannt.
Im Jahr 1882 wurden die "Gesta Hrodberti" in einer Handschrift der Grazer Universitätsbibliothek entdeckt (Graz UB Cod. 790). Nach einer kurzen aber heftigen Forschungsdebatte stand fest, dass die "Gesta Hrodberti" die älteste bekannte Redaktion der "Vita Ruperti" darstellen. Wilhelm Levison (1876-1947) edierte 1913 die "Gesta Hrodberti" und schuf basierend auf der Arbeit von Hansiz eine Einteilung der "Vitae Ruperti" in sechs Redaktionen. Hierauf aufbauend konnten im 20. Jahrhundert aus dem Vergleich der "Gesta Hrodberti" mit der "Conversio" Rückschlüsse auf den Inhalt der verlorene Ur-Vita gezogen werden und schließlich im 21. Jahrhundert auch die hoch- und spätmittelalterlichen Redaktionen der "Vita Ruperti" erforscht werden.
Literatur
- Helmut Beumann, Zur Textgeschichte der Vita Ruperti, in: Max Planck-Institut für Geschichte (Hg.), Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag (Veröffentlichungen des Max Planck-Instituts für Geschichte 36/3), Göttingen 1972, 166–196.
- Heinz Dopsch/Roswitha Juffinger (Hg.), St. Peter in Salzburg: das älteste Kloster im deutschen Sprachraum, Salzburg 2. Auflage 1982.
- Petrus Eder/Johann Kronbichler (Hg.), Hl. Rupert von Salzburg, Salzburg 1996.
- Christoph Haack, Rupert von Salzburg, in: Germanische Altertumskunde Online (2017).
- Joachim Jahn, Ducatus Baiuvariorum. Das bairische Herzogtum der Agilolfinger (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35), Stuttgart 1991.
- Johannes Lang, Heiligkeit und Politik. Zur Instrumentalisierung des Hl. Rupertus in: Johannes Lang (Hg.), Salz-Sole-Heilbad in den Alpen. Beiträge zur Salinen- und Kurgeschichte Bad Reichenhalls, Bad Reichenhall 2017, 11–31.
- Christian Rohr, Hagiographie als Spiegel der Machtverhältnisse? Arbeo von Freising und die Gesta Hrodberti, in: Lothar Kolmer/Christian Rohr (Hg.), Tassilo III. von Bayern. Großmacht und Ohnmacht im 8. Jahrhundert, Regensburg 2005, 89–101.
- Herwig Wolfram, Die Zeit der Agilolfinger: Rupert und Virgil, in: Heinz Dopsch (Hg.), Geschichte Salzburgs. 1. Band: Vorgeschichte, Altertum, Mittelalter, Salzburg 1981, 121–156.
- Herwig Wolfram, Rupert. Bischof von Salzburg, in: Lexikon des Mittelalters. 7. Band, München 1995, 1106.
- Herwig Wolfram, Vier Fragen zur Geschichte des heiligen Rupert. Eine Nachlese, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 93 (1982) 2–25.
- Ian Wood, The Missionary Life. Saints and the evangelisation of Europe, 400–1050, New York 2001.
- Erich Zöllner, Woher stammte der heilige Rupert?, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 57 (1949) 1–22.
- Eberhard Zwink (Hg.), Frühes Mönchtum in Salzburg (Salzburger Diskussionen 4), Salzburg 1983.
Quellen
- Conversio Bagoariorum et Carantanorum, ed. Fritz Lošek (MGH Studien und Texte 15), München 1997, 90–135.
- Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien. Ed., übersetzt, kommentiert und um die Epistola Theotmari wie um gesammelte Schriften zum Thema ergänzt von Herwig Wolfram, zweite und dritte gründlich überarbeitete Auflage Ljubljana/Laibach 2012/13.
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Empfohlene Zitierweise
Peter Fraundorfer, Vita des Hl. Rupert, publiziert am 8.6.2021; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Vita_des_Hl._Rupert (3.11.2024)