Und keiner weint mir nach (Siegfried Sommer, 1953)
Aus Historisches Lexikon Bayerns
In seinem Erstlingsroman "Und keiner weint mir nach" aus dem Jahr 1953 erzählt der Münchner Journalist und Schriftsteller Siegfried "Sigi" Sommer (1914-1996) die Geschichte des Hauses Mondstraße 48 in der Münchner Au und seiner Bewohner. Das vom SPIEGEL als "Proletarier-Roman" bezeichnete Werk Sommers zählt zur Gattung des Sittenromans. Es ist das bekannteste Werk Sommers, wurde mehrfach neuaufgelegt und stieß auch international auf Resonanz. Da sein Roman die Zeit widerspiegelte, wie sie Sommer 1924 bis 1952 erlebte, und keine idealisierte Welt, löste er bei der Erstveröffentlichung als Fortsetzungsroman in der Süddeutschen Zeitung (SZ) bei zahlreichen Lesern Empörung aus. Das Werk wurde 1969 erstmals in den Kammerspielen aufgeführt und in den 1990er Jahren verfilmt (Kinopremiere 1996).
Biographischer Horizont
Siegfried "Sigi" Sommer (1914-1996) wurde am 23. August 1914 in München als Sohn eines Möbelrestaurators in das kleinbürgerliche Milieu des Münchens der Prinzregentenzeit geboren. Nach der Volkshauptschule am Gotzingerplatz in Untersendling absolvierte er eine Elektrikerlehre. Im Alter von 16 Jahren unternahm Sommer erste literarische Gehversuche und 1937 wurde seine erste literarische Veröffentlichung, die Kurzgeschichte "Der Bart", in der Zeitschrift "Jugend" publiziert ("Der Bart", in: Jugend Nr. 50, 1937). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, an dem Sommer seit 1939 als Soldat teilgenommen hatte, begann er bei der Süddeutschen Zeitung (SZ) in der Sendlinger Straße seine journalistische Karriere. Ende 1945 veröffentlichte er seinen ersten Beitrag in der SZ (Titel des Beitrags: "Das Gerücht", in: SZ, 16.11.1945).
In der Folge war Sommer in den Ressorts Lokales, Gesellschaft und Sport (besonders Boxsport) tätig. 1948 wurde er zusätzlich Mitarbeiter der neugegründeten "Tageszeitung" (Titel des Beitrags: "Ehen werden im Himmel geschlossen", in: Tageszeitung, 21.5.1948), aus der im Juni 1948 die Abendzeitung (AZ) hervorging. 1946 erschien auf Anregung Werner Friedmanns (1909-1969), damals Chefredakteur und Mitherausgeber der SZ, seine erste samstägliche "Lokalspitze" unter dem Pseudonym Blasius Blinzl für die SZ (Titel der ersten Kolumne: "Teure Eier", in: SZ, 21.11.1949). Für die AZ verfasste er zwischen 1949 und 1987 die Kolumne "Blasius, der Spaziergänger" (Titel der ersten Kolumne: "Irrwege auf dem Amtswege", in: AZ, 2.12.1949). Neben insgesamt etwa 6.000 Lokalspitzen und Blasius-Kolumnen veröffentlichte Sommer rund 40 Bücher, darunter die beiden Romane "Und keiner weint mir nach" (1953) und "Meine 99 Bräute" (1956).
Sommer heiratete 1943 Ellen Spielberger. Drei Jahre später wurde die gemeinsame Tochter Madeleine geboren. Nach der Trennung von seiner Frau lebte er fast 40 Jahre alleine in der Wurzerstraße, einer Seitenstraße der Maximilianstraße, ohne seine langjährige Lebensgefährtin Louise Pallauf.
Seit Kriegsende hielt sich Sommer konsequent an seine in den Jahren des Schreckens und der Strapazen zuvor in ihm gereifte Maxime, München jeweils nur so weit zu verlassen, dass man am selben Tag zu Fuß zurücklaufen kann. Sommer starb am 25. Januar 1996 nach Jahren der Demenz in der Rinecker-Klinik am Isarkanal. Er ist auf dem Winthirfriedhof im Münchner Stadtteil Neuhausen beerdigt.
Inhalt
Sommers erster und wichtigster Roman spielt in den Jahren 1924 bis 1952, jener von Armut und Unsicherheit jeweils nach den beiden Weltkriegen geprägten Zeit, im Münchner Stadtteil Au. In einem Mietshaus in der Mondstraße 48 am Auer Mühlbach, "Kleinvenedig" genannt, wächst Leonhard Knie bei seiner hartherzigen Großmutter auf, die ihm eine Einperson-Ersatzfamilie ist. Obwohl Sommer den Schauplatz des Romans willkürlich gewählt haben will, ähnelt dieser doch stark dem kleinbürgerlichen Geburtshaus des Autors in der Bruderhofstraße in Untersendling.
Der Roman ist reich an Alltagsbeobachtungen und Eigenheiten aus dem Kleinbürgermillieu. Er ist geprägt von Lakonie und vermeidet es, die Kindheit als eine Idylle zu schildern. Nach dem Schulabschluss 1924 begegnet der 18-jährige Leonhard Knie immer wieder seiner Nachbarin aus dem zweiten Stock des Mietshauses und ehemaligen Klassenkameradin, Marilli Kosemund, in die er seit jeher verliebt ist. Da ihr einziges Rendevous misslingt, kommen Leo und Marilli trotz durchaus auch ihrerseits vorhandenem Interesse an einer Beziehung nicht zusammen. Leo lässt sich vereinsamt und verzweifelt mit der Prostituierten Fanny ein. Als diese ihm mitteilt, von ihm schwanger zu sein, schluckt er eine Überdosis Schlaftabletten samt Schnaps, woran er stirbt. Zuvor schreibt er an eine feuchte Fensterscheibe in der Großmutterwohnung "Und keiner weint mir nach", den romantitelgebenden Abschiedssatz.
Sterben ist ein häufiges Motiv in Sommers Schriften. Im gesamten Verlauf seines ersten Romans ist der Tod gegenwärtig, über die Jahre sterben einige Mieter im Haus, die Kinder kriegen dies zumeist ungefiltert mit, am Romanende erfährt man, dass die Söhne von Leos Nachbarn im Zweiten Weltkrieg gefallen sind.
Publikation und Verbreitung
Sommers Roman "Und keiner weint mir nach" erschien 1953 zunächst als Fortsetzungsroman bis 27. November 1953 in der SZ, allerdings in redaktionell so stark bearbeiteter Form, dass die Frankfurter Hefte, eine politische Kulturzeitschrift, von "mit der Kreissäge" zusammengeschnitten sprach (Frankfurter Hefte 1 [1954], 59). Inhalt und Form des Sommer'schen Romans empörten die Zeitungsleser, da er "unsentimental [und] realistisch" geschrieben war (Die ZEIT, 28.1.1954). In der Folge dieses Wirbels stellte die SZ die weitere Veröffentlichung des Romans ein, obwohl Sommer zu der Zeit noch Mitarbeiter der Lokalredaktion der SZ war. Schon im Dezember 1953 wurde der Roman zwar auch in veränderter Fassung, aber ganz nah am Originalmanuskript, im Münchner Kurt Desch Verlag publiziert.
Der Roman wurde in etwa ein Dutzend Sprachen übersetzt, darunter ins Russische und Tschechische. Nach der Ersterscheinung 1953 im Desch-Verlag wurde "Und keiner weint mir nach" mehrfach neu herausgegeben, u. a. im Heyne-Verlag (1970), im Deutschen Taschenbuch Verlag, (1980), im Verlag der Süddeutschen Zeitung (1977 und 1988), im List-Verlag (1996) sowie 2008 in der Bibliothek der Süddeutschen Zeitung. Sogar im Verlag Volk und Welt, einem der wichtigsten Belletristik-Verlage der DDR, wurde Sommers Erstlingsroman 1955 verlegt.
Literarische Bedeutung
Dem passionierten Chronisten Sommer gelingt ein deutlich autobiographisch geprägtes, bedrückendes und zugleich durch lakonische Schilderung zwischenmenschlicher Abgründe sehr eingängiges Zeitzeugnis, dem seinerzeit durch Besprechungen unter anderem im SPIEGEL bundesweites Aufsehen zukam. "Und keiner weint mir nach" wurde dort als "Proletarier-Roman" bezeichnet (Der SPIEGEL, 16.12.1953), und seine Erzählperspektive ist wie bei Sommers zweitem Roman "Meine 99 Bräute" (1956) stark autobiographisch geprägt.
Sommer bekennt sich zeitlebens zu seinen kleinbürgerlichen Wurzeln, nicht zuletzt in seiner Blasius-Kolumne: "Ein Weg ins Leben aber wird wohl jedem unvergesslich bleiben: die Straße der Kindheit nämlich. Und deshalb zieht es sicherlich nicht nur den Spaziergänger manchmal wieder zurück in jenes Stück bucklige Vorstadt, wo alles einmal begann. Sicher, sie war wohl schon immer ein bisserl verrufen gewesen, diese Glasscherbengegend draußen in Untersendling hinter den sieben Bergen. Aber auch ungemein abenteuerlich und interessant."
Rezeption von Werk und Autor
Für Sommers literarisches Vorbild Bertolt Brecht (1898-1956) ist "Und keiner weint mir nach" der beste Roman, der nach dem Krieg geschrieben wurde. Unter dem Titel "Marile Kosemund" feierte die Theateradaption von "Und keiner weint mir nach" unter der Regie von Joseph Vilsmaier (1939-2020) am 5. Dezember 1969 in den Münchner Kammerspielen Premiere.
Sommer war Vorbild für viele Nachwuchs-Schriftsteller und Journalisten wie den AZ-Boulevardreporter Michael Graeter (geb. 1941): "Er war mein Vorbild. Sommer war der letzte, der der Stadt den Schmelz erhalten hat, weil er das widerspiegelte, was in dieser Stadt passiert, heute findet das so nicht mehr statt. Er ging durch die Stadt und war ein lässiger Cowboy". Der Verleger Rolf S. Schulz stiftete 1982 den mit 10.000 DM dotierten Sigi-Sommer-Literaturpreis, der bis 1992 jährlich verliehen wurde. Sommers Schreibphilosophie sah vor, eine vielen Menschen gemeinsame Lebensessenz literarisch abzubilden, allgemeinverständlich zu schreiben: "Dann kam ich auf einmal darauf, dass vielleicht andere Leute auch so ein kleines Leben haben wie ich und dass der Mensch allgemein ist. Nicht chemisch rein. Nicht gut und böse. Sondern halt eben allgemein".
Nicht nur in Gestalt der ihm gewidmeten Statue in der Rosenstraße 8 und dem Sigi-Sommer-Platz in Untersendling um die Ecke seines Geburtshauses in der Bruderhofstraße ist Sommer im (literarischen) Gedächtnis Münchens präsent. Die Faschingsgesellschaft Narhalla verleiht seit 2001 den Kunstpreis Sigi-Sommer-Taler.
Literatur
- Franz Freisleder, Siegfried Sommer (23.8.1914-25.1.1996). Weltstadtpoet mit Herz, in: Alfons Schweiggert/Hannes S. Macher (Hg.), Autoren und Autorinnen in Bayern. 20. Jahrhundert, Dachau 2004, 218.
- Hans Gärtner, ... und viele weinen ihm nach... Sigi Sommer ..., in: Literatur in Bayern 77 (2004), 16.
- Wolfgang Grözinger, Panorama des internationalen Gegenwartsromans. Gesammelte "Hochland"-Kritiken 1952-1965, hg. von Erwin Rotermund/Heidrun Ehrke-Rotermund, Paderborn u. a. 2004.
- Helga Lauterbach-Sommer (Hg.), Sigi Sommer: Sendlinger G'schichten, München 2014.
- Ulrike Leuschner, Der loyale Rezensent. Siegfried Sommers Roman "Und keiner weint mir nach" in Koeppens Beurteilung, in: Jahrbuch der Internationalen Wolfgang-Koeppen-Gesellschaft 1 (2001), 183-209.
- Werner Meyer (Hg.), Wie rasend verfliegen die Jahr. Sigi Sommer-Chronist, Journalist, Spaziergänger, München 2004.
- Eugen Oker (Hg.), Die Metaphern des Siegfried Sommer, 777 Worte deutsch-sommerisch; 1111 Worte sommerisch-deutsch, München 4. Auflage 1989.
Quellen
- Der SPIEGEL, 16.12.1953.
- Die ZEIT, 28.1.1954.
- Frankfurter Hefte 1 (1954), 59.
Weiterführende Recherche
Externe Links
Empfohlene Zitierweise
Thomas Steierer, Sommer, Siegfried: Und keiner weint mir nach (1953), publiziert am 5.12.2016, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Sommer,_Siegfried:_Und_keiner_weint_mir_nach,_1953> (7.12.2024)