Geschlechterbücher
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Handschriften, die im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, v.a. im oberdeutschen Raum, die Materialien zur Geschichte einer oder mehrerer vernetzter Familien der mittleren und oberen Schichten über mehrere Generationen darlegen. In Bayern entstand in Spätmittelalter und Früher Neuzeit eine beträchtliche Zahl an Geschlechterbüchern, die insbesondere aus Augsburg und Nürnberg stammen. Sie informieren uns über die lokalen Eliten und deren Beziehungen. Sie leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Vereinbarkeit von kommunaler und adliger Kultur in den Reichsstädten und somit zur zunehmenden Angleichung von Stadt- und Landeliten.
Definition
Geschlechterbücher ist die Selbstbezeichnung für handgefertigte Codices, die im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit überwiegend im oberdeutschen Raum die Geschichte einer oder mehrerer vernetzter Familien der mittleren und oberen, urbanen und ländlichen Schichten über mehrere Generationen darlegen. Zuweilen geschah dies in der Ich-Form. Diese Quellen erheben einen deskriptiven und nicht selten auch explizit performativen Anspruch, die in ihnen vergegenwärtigten Verwandtschaftsgruppen zeitlich und räumlich zu erfassen bzw. darzustellen.
Historiker verwenden den Quellenbegriff in Zusammenhang mit einer Reihe weiterer schriftlicher Zeugnisse, mit denen sie Geschlechterbücher in historischer, vergleichender oder systematischer, besonders memorieller Hinsicht in Verbindung bringen. Geschlechterbücher bezeichnen daher keine Gattung, sondern sie werden von der Forschung immer auf eine besondere Entwicklung bzw. eine disziplinäre oder zunehmend auch interdisziplinäre Fragestellung bezogen. Entsprechend vielfältig ist ihr Inhalt.
Die Überlieferung auf dem Gebiet des heutigen Bayern: allgemeine Entwicklung
Eine beträchtliche Zahl spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Geschlechterbücher stammt aus dem Gebiet des heutigen Bayern, vornehmlich aus den ehemaligen Reichsstädten Augsburg und Nürnberg. Bedeutend ist die regionale Überlieferung für die Erforschung dieser Quellengruppe jedoch nicht nur in quantitativer Hinsicht. Ihre Signifikanz gründet vor allem darin, dass ihre Verfasser mustergültig versucht haben und es ihnen nicht selten auch vorbildlich gelungen ist, ihre partikularen Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart ihrer jeweiligen Umgebung zu vergemeinschaften. Dadurch haben diese Geschlechterbücher einen zweifellos wichtigen Beitrag zur Identifizierung der lokalen Eliten mit den von ihnen dominierten Gemeinschaften geleistet.
Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch eine früh einsetzende, relativ verbreitete und sehr flexible Überlieferung. Sie nahm institutionell, sozial und kulturell äußerst verschiedene, teils praktisch geleitete, teils theoretisch fundierte und nur zu einem gewissen Umfang verschriftlichte Normen des Haushaltens, Regierens und Gedenkens in sich auf. Gleichzeitig vermittelten die Geschlechterbücher diese Normen politisch und symbolisch, nicht selten auch bildlich und religiös. So stellten die Reformation und die anschließende Konfessionalisierung auch keine Zäsur in der Anlage von Geschlechterbüchern dar, wenngleich inhaltliche und funktionale Unterschiede infolge dieser Entwicklungen nicht ausblieben.
Die Nürnberger und fränkischen Geschlechterbücher
Der Titel von Ulman Stromers (1329-1407) Nürnberger "Puechel von meim geslechet und von abentewr" (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Hs 6146) von etwa 1360 bis 1403 umreißt mit großer Klarheit die beiden Dimensionen späterer Geschlechterbücher: nämlich die vertikale bzw. historische des Geschlechts und die horizontale bzw. räumliche der Beziehungen. Während der Begriff "abentewr" noch auf den geschäftlichen Zusammenhang solcher Beziehungen hinweist, deutet bereits vieles beim Kaufmann und Unternehmer Ulman Stromer auf jene ständischen Merkmale hin, die ein Jahrhundert später gerade durch die für Augsburg und Nürnberg typische Bebilderung der Überlieferung eine aristokratische Kultur suggerieren sollten. So räumt Ulman Stromer neben der Aufzeichnung seiner Vorfahren und Verwandten dem Konnubium zwischen ihnen und anderen "ehrbaren" Familien einen besonderen Platz ein.
1487 bzw. 1488 legte Hans II. Haller (ca. 1443-1493) sodann zwei Geschlechterbücher an, die seine Vorfahren in agnatische bzw. kognatische Verwandte aufteilte (Archiv des Freiherren Haller von Hallerstein, Nürnberg). Letztere umfassten mehr als 350 Personen meistens aus Nürnberg und Umgebung. Hans Hallers Geschlechterbücher beinhalten zahlreiche Dokumente und sind mit den Wappen der erwähnten Personen verziert.
Integriert sind die vertikale und horizontale Dimension im Geschlechterbuch des Bürgermeisters Konrad IV. Haller (1464-1545), einem Vetter Hans' II. Es wurde 1533 angelegt und 1536 dem Rat der Stadt Nürnberg überreicht (Archiv des Freiherrn Haller von Hallerstein, Nürnberg). Dieses Buch beinhaltet neben Wappen und Ahnenportraits auch Abbildungen von Epitaphien der Mitglieder der ratsfähigen Familien, die im Tanzstatus von 1521 festgelegt worden waren, und anderer "ehrbarer Geschlechter", die zu diesem Zeitpunkt in der Stadt wohnhaft waren. Bildlich lehnt sich dieses prächtige Geschlechterbuch indes an Vorbilder aus dem Hochadel wie der Genealogie Kaiser Maximilians I. (reg. 1486-1519, Kaiser seit 1508) des Augsburger Malers und Zeichners Hans Burgkmair d. Ä. (1473-1531) von 1509-1512 an.
Neben dem umfassenden Geschlechterbuch des Konrad Haller, das in der Losungsstube des Nürnberger Rathauses aufbewahrt wurde, sind für Nürnberg zahlreiche, teilweise bebilderte Geschlechterbücher einzelner Familien aus der Führungsschicht erhalten. Zu nennen ist beispielsweise das in mehreren Handschriften, weit über die Reichsstadt einflussreiche, ebenfalls 1533 angelegte Geschlechterbuch des Bartholomäus Haller (1468-1551) sowie Aufzeichnungen aus weiteren Kreisen der gesellschaftlichen Oberschicht wie diejenigen des Lienhart II. Hirschvogel (1440-1525). Vergleichbare Quellen werden zur gleichen Zeit für den fränkischen Niederadel bezeugt. Als Beispiel sei hier das 1491 begonnene Geschlechterbuch der von Rossau erwähnt (Württembergische Landesbibliothek, Handschrift Cod. hist. qt. 420).
Auch in anderen fränkischen Reichsstädten wurden Geschlechterbücher angelegt, so etwa in Rothenburg o.d.T. (Lkr. Ansbach) (z. B. Geschlechterbuch des Johann Friedrich Christoph Schrag [1703-1780], Stadtarchiv Rothenburg).
Die Augsburger Ehrenbücher
In Augsburg indes setzte die Überlieferung später als in Nürnberg ein, sie konzentrierte sich auf Familien, die neu in die Führungsschicht aufgenommen worden waren, womit der gesellschaftlich legitimatorische Charakter deutlich wird. Dieser tritt besonders in der Bezeichnung "Ehrenbuch" zutage sowie in dem sich an der städtischen Geschichtsschreibung und der humanistischen Hausvaterliteratur orientierenden begleitenden Diskurs und den teilweise von lokalen Künstlern gefertigten Bildern. So wurde das von 1545 bis 1549 von Johann Jakob Fugger (1516-1575) in Auftrag gegebene Ehrenbuch der Fugger von dem Augsburger Historiker und Archivar Clemens Jaeger (ca. 1500-1561) verfasst und von Joerg Breu d. J. (nach 1510-1547) und seiner Schule ausgeschmückt (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 9460).
Jaeger zeichnete auch für weitere Ehrenbücher verantwortlich, teilweise in Zusammenarbeit mit Breus Werkstätte. Besonders prächtig bebildert war neben dem erwähnten Ehrenbuch der katholischen Fugger das Ehrenbuch der Herwart (Stadtarchiv Augsburg), das wiederum als Vorbild für die Geschlechterbücher einer Reihe anderer protestantischer Familien wie der aus Frankfurt am Main zugewanderten Stetten wurde.
Das von Christoph von Stetten (1506-1556) angelegte Geschlechterbuch stand in engem Verhältnis mit seiner Nobilitierung im Jahre 1548 durch den Kaiser und dem von Karl V. (reg. 1519-1556) im gleichen Jahr erlassenen Augsburger Interim. Im Zuge dessen wurde die Zunftverfassung zugunsten einer patrizischen Verfassung nach dem Vorbild Nürnbergs ersetzt und die konfessionelle Parität zwischen Katholiken und Protestanten hergestellt. Die Stetten führten die Tradition der Ehrenbücher im 18. Jahrhundert bis zur Eingliederung Augsburgs und anderer Reichsstädte in das neu gegründete Königreich Bayern im Jahre 1806 fort.
Gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Hintergründe der Entwicklung der Geschlechterbücher
Unstrittig hat in Bayern und darüber hinaus die "gesamtstaatliche" Entwicklung eine entscheidende Rolle in der Anlage der Geschlechterbücher gespielt: Sie förderte die funktionale Konkurrenz zwischen Adel und Bürgertum; gleichzeitig glichen sich die Lebensweisen der ländlichen und städtischen Eliten einander an. Dies trifft insbesondere auf ihren repräsentativen Charakter zu.
Es waren gleichzeitig aber andere bedeutende gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Veränderungen am Werk, die teilweise auf die Nähe des südostdeutschen Raums mit Norditalien und die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen beiden Regionen zurückzuführen sind. Hinzuweisen ist diesbezüglich zunächst auf die bis ins 13. Jahrhundert zurückgehende Tradition der "ricordanze" der nord- und mittelitalienischen Kaufleute. Ebenfalls anzuführen ist das gleichfalls pragmatische, jedoch stärker an die klassische und christliche Tugendlehre angelehnte, ab dem 15. Jahrhundert stark vom Humanismus geprägte Genre der Haushaltsbücher. Auch die "ökonomische" Literatur eines Konrad von Megenberg(1309-1374) oder die eher ländliche Hausväterliteratur ist noch zu nennen.
Der Zusammenhang mit Entwicklungen im autobiographischen Schrifttum sollte hingegen nicht überzeichnet werden, auch wenn dieses seit den Confessiones des hl. Augustinus (354-430) traditionell eng mit Überlegungen über die individuelle und kollektive Erinnerung verbunden war. Der memorielle Kontext, in den die Geschlechterbücher eingebettet waren, war indes sehr breit gefasst und schloss formal, medial und gesellschaftlich sehr unterschiedliche Gedächtniskulturen mit ein. Auf religiösem Gebiet spielte der in Nürnberg und anderen Orten ab etwa der Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzende Wandel von einer kirchlich zu einer zunehmend zivil geprägten Erinnerung eine entscheidende Rolle, an den die Reformation und die anschließende Konfessionalisierung anknüpften. Teilweise geschah dies unter italienischem Einfluss.
Die Geschlechterbücher als Quellen zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit
Diese Entwicklung äußerte sich insbesondere in einer auch vom Humanismus getragenen Monumentalisierung des Gedenkens, die zu einer größeren Integration von Formen der Erinnerung in der Frühen Neuzeit führte. Diese förderte wiederum die Identifizierung von lokalen Eliten mit dem von ihnen dominierten Gemeinwesen. Die Geschlechterbücher leisteten dabei einen wesentlichen Beitrag zur Vereinbarkeit von kommunaler und adliger Kultur in den Reichsstädten und somit auch zur zunehmenden Angleichung von Stadt- und Landeliten im frühneuzeitlichen Staat. Sie sind dadurch zugleich Träger und Zeugnisse der Entwicklung von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Gesellschaft.
Literatur
- Christoph Emmendörffer/Helmut Zäh (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht. Augsburger Ehren- und Familienbücher der Renaissance. Katalogband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg vom 18. März bis 19. Juni 2011, Luzern 2011.
- Matthias Kirchhoff, Gedächtnis in Nürnberger Texten des 15. Jahrhunderts. Gedenkbücher, Brüderbücher, Städtelob, Chroniken (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 68), Nürnberg 2009.
- Christian Kuhn, Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert, Göttingen 2010.
- Georg Misch, Geschichte der Autobiographie. 4. Band, 2. Teil: Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1969.
- Pierre Monnet, La monographie familiale entre histoire urbaine et histoire culturelle : l’exemple des pays germaniques de l’Empire à la fin du Moyen Âge, in: Martin Aurell (Hg.), Le médiéviste et la monographie familiale: sources, méthodes et problématiques, Turnhout 2004, 37-52.
- Gregor Rohmann, "Eines Ehrbaren Rathts gehorsamer amptmann". Clemens Jäger und die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts, Augsburg 2001.
- Barbara Schmid, Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2006.
- Kerstin Seidel, Freunde und Verwandte. Soziale Beziehungen in einer spätmittelalterlichen Stadt, Frankfurt am Main 2009.
- Martial Staub, Zwischen Denkmal und Dokument. Nürnberger Geschlechterbücher und das Wissen von der Vergangenheit, in: Ders./Klaus A. Vogel (Hg.), Wissen und Gesellschaft in Nürnberg um 1500 (Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 14), Wiesbaden 1999, 83-102.
- Birgit Studt (Hg.), Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Städteforschung A 69), Köln 2007.
- Urs-Martin Zahnd, Einige Bemerkungen zu spätmittelalterlichen Familienbüchern aus Nürnberg und Bern, in: Rudolf Endres (Hg.), Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihre Landgebiete, Erlangen 1990, 7-37.
- Thomas Zotz, Adel in der Stadt des Spätmittelalters. Erscheinungsformen und Verhaltensweisen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 141 (1993), 22-50.
Quellen
- Lotte Kurras (Bearb.), Ulman Stromer. Püchel von mein geslecht und von abentewr. Teilfaksimile der Handschrift Hs 6146 des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. 2 Bände, Bonn 1990.
- Gregor Rohmann, Das Ehrenbuch der Fugger. 2 Bände, Augsburg 2004.
Weiterführende Recherche
Externe Links
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Familienbücher, Hausbücher
Empfohlene Zitierweise
Martial Staub, Geschlechterbücher, publiziert am 05.06.2015; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Geschlechterbücher> (31.10.2024)