Schwabinger Boheme: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 20. November 2023, 15:46 Uhr
Die Schwabinger Boheme war eine künstlerisch-intellektuelle Bewegung in München um 1900, deren Künstler und Literaten mit neuen Formen experimentierten und gegen die bürgerliche Kultur des wilhelminischen Deutschland eingestellt waren. Diese Bewegung hatte ihre Ursprünge im Paris der 1830er Jahre und verbreitete sich von dort aus in ganz Europa. In München siedelten sich die jungen Künstler vor allem in den damals preiswerteren Stadtvierteln Schwabing und Maxvorstadt an, deren Gasthöfe und Cafés auch die bevorzugten Treffpunkte der Boheme wurden. In einer Vielzahl von literarischen Werken, wie den Romanen von Franziska „Fanny“ Gräfin zu Reventlow (1871-1918) und Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934), wurde dieser Lebensstil in dieser Zeit verarbeitet. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges ging die Hochphase der Boheme zu Ende.
Zum Begriff Boheme
Mit dem kultursoziologischen Begriff „Boheme“ (franz. Schreibweise „Bohème“) wird eine künstlerisch-intellektuelle Subkultur bezeichnet, in der das Verhältnis von Individuen zur Gesellschaft problematisiert und die kreative Individualität in den Vordergrund gerückt wird. Der Begriff erweist seine Wirksamkeit vor allem in historischer Perspektive, nicht jede Subkultur gehört zwangsläufig der Boheme an. Es handelt sich um ein Phänomen, das seinen Ausgang im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm, bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts reichte und nur in europäischen Metropolen zu beobachten war. Zu den wichtigsten Merkmalen zählen, so der Literaturwissenschaftler Helmut Kreuzer (1927-2004), informelle Gruppen- bzw. Cliquenbildungen, die symbolische Aggression gegen bürgerliche Werte wie Geld oder Zeitökonomie, der Bruch mit den Lebenskonzepten der Väterwelt sowie die Ablehnung des bürgerlichen Arbeitsbegriffs und ein dadurch bedingtes Außenseitertum. Der Historiker Peter Gay (1923-2015) hat von einer wahren Bürgerphobie innerhalb der Boheme-Bewegung gesprochen, in der ein eigener Künstlergeschmack und eine eigene Künstlermoral entwickelt wurden. Weitere Besonderheiten sind neben Vagabondage und Libertinage oft ein besonderer Habitus und ein eigener Jargon.
Zur Geschichte der Boheme
Die Anfänge der Boheme-Kultur lassen sich zwischen Romantik (hier insbesondere Ernst Theodor Amadeus „E.T.A.“ Hoffmann [1776-1822]) und der Romantikrezeption in Frankreich verorten. Spätestens um 1830 bildet sich in Paris ein junges Künstlermilieu heraus, das sich vom Philistertum (kleinbürgerliche Engstirnigkeit) der Elterngeneration absetzt. Um 1840 finden sich im deutschsprachigen Raum erste Ausprägungen dieser Boheme-Kultur in der Gruppe der sog. „Freien“ um den Theologen und Philosophen Bruno Bauer (1809–1882). Zur Gruppe gehörte auch der Philosoph Max Stirner (eigtl. Johann Caspar Schmidt, 1806–1856), der in seiner Hauptschrift „Der Einzige und sein Eigentum“ (1844, auf 1845 vordatiert) Grundzüge eines anarchistischen Selbstverständnisses darlegte. Prägend für das Bild der Boheme in der Gesellschaft war Henri Murgers (1822–1861) Roman „Scènes de la vie de bohème“ (1847–49), der zugleich die Textgrundlage für Giacomo Puccinis (1858–1924) Libretto zur Oper „La Bohème“ (1896) bildete. Historische Vorlage war die Gesellschaft der Wassertrinker, eine Gruppe aus der zweiten Boheme-Bewegung in Paris, die sich 1841 als informelle Gruppe konstituierte. Die Boheme-Bewegungen in Europa sind jedoch vielfältiger als in Roman und Oper dargestellt. Helmut Kreuzer hat in einer grundlegenden Studie 1968 drei Auffassungen voneinander unterschieden:
- die Boheme als sozialer Ort des Glanzes der Jugend, Freiheit, Heiterkeit (grüne B.),
- des Elends, der Armut, des Lasters und der Verzweiflung (schwarze B.) sowie
- des Trotzes und Kampfes (rote B.).
Die erste Auffassung versteht die Boheme als transitorischen Zustand zum Ende der Primärsozialisation und zum Beginn der Sekundärsozialisation. Die Armuts- oder Elendsboheme wird einerseits auf schlechte Arbeitsbedingungen für ausgebildete Künstler und Akademiker zurückgeführt, andererseits auf die Verachtung des bürgerlichen (Kunst-)Marktes. Ein gutes Beispiel für die sog. rote Boheme gibt der Schriftsteller Erich Mühsam (1878-1934). In einem 1906 in Karl Kraus’ Zeitschrift „Die Fackel“ erschienenen Beitrag betont er, die Boheme sei „eine Eigenschaft, die tief im Wesen des Menschen wurzelt, die weder erworben oder anerzogen werden, noch durch die Veränderung der äußeren Lebenskonstellation verloren gehen kann“. Wesentlich sei für die Boheme das „anarchistische Prinzip der sozialen Selbsthilfe“, woraus sich für ihn „das innige Solidaritätsgefühl zum sogenannten fünften Stande, zum Lumpenproletariat“ ergibt: „Es ist dieselbe Sehnsucht, die die Ausgestoßenen der Gesellschaft verbindet […] Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Bohême, die einer neuen Kultur die Wege weist.“ Die unterschiedlichen Ausprägungen der Boheme-Kultur eröffnen sich gegenseitig Verhaltensräume in der Gesellschaft, ohne ineinander aufzugehen.
Die Boheme ist ein Sammelbecken, in dem sich im deutschsprachigen Raum um 1900 Verächter bürgerlicher Lebensauffassungen und -formen begegnen. Als Oppositionsbewegung sammelt sie unterschiedliche Einsprüche gegen das wilhelminische Deutschland auf, die nicht zwingend einen gemeinsamen Nenner haben müssen. Unterschiede kann man beispielsweise zu anderen Sozialtypen erkennen: Ein Bohemien verhält sich im sozialen Raum anders als ein Dandy oder ein Vagabund. Eine solche Art der informellen Gruppenbildung findet man auch in Berlin, München und Wien ausgeprägt.
Die Cliquen werden teilweise nach Namen und teilweise nach den Orten ihrer Treffpunkte benannt: der Friedrichshagener Dichterkreis nach dem Ort Friedrichshagen am Müggelsee, der heute zu Berlin gehört, die Gruppen am Monte Verità nach einer der Anhöhen oberhalb von Ascona am Lago Maggiore. Sie neigen wie die Boheme zu alternativen Lebensformen, sind aber hinsichtlich ihres Habitus deutlich von dieser zu unterscheiden. Die Boheme konstituiert sich im Stadtraum, während die erwähnten Cliquen den ländlichen Raum bevorzugen. Aus dem Friedrichshagener Kreis heraus entwickelt sich die Neue Gemeinschaft (1900-1904), die von genossenschaftlichen und anarchistischen Lebensvorstellungen geprägt wird: Aus einer Künstlergemeinschaft wird eine Kommune. Am Monte Verità zielt man ebenfalls auf Ausstiegsmöglichkeiten aus dem modernen, bürgerlichen und industriellen Leben, konzentriert sich jedoch zunächst auf ökologische Aspekte wie Selbstversorgung (Vegetarismus, Leben in der Natur) und neue gemeinschaftliche, mitunter anarchische Formen der Selbstorganisation. Es entsteht ein naturheilkundliches Sanatorium, um das herum sich alternative Lebensweisen versammeln.
„Heimat der Schlawiner“: Die Schwabinger Boheme als soziales Phänomen
Zu den Besonderheiten der Boheme in München gehört, dass sie in Teilen des liberalen Bürgertums Anerkennung fand, während die Boheme in Berlin in manchen Ausprägungen deutlich politischer, in anderen deutlich dekadenter ausgerichtet war. In München versteht man die Orte der Boheme als eine Art Erweiterung des damals legendär gewordenen Münchner Faschings, in dem Libertinage und Feier der Jugend zu den Haupteigenschaften gehörten.
Julius Bab (1880-1955) beschreibt in seinem 1904 erschienen Buch „Die Berliner Boheme“ die Reaktionen des Bürgertums auf die Bohemiens so: „von dem behaglichen Kleinbürgertum der Bier- und Bauernhauptstadt gönnerhaft beschmunzelt und trotz gelegentlicher Ärgernisse doch heimlich als vornehme Rarität und Zierde der Stadt verehrt, führt die Münchener Bohème ein gewissermaßen legalisiertes Dasein, und obwohl natürlich auch ihr die ernsten Seiten – ernst durch den Kampf vieler junger Geister um individuelle Entwicklungsmöglichkeiten – nicht fehlen, so kommt sie doch in ihrer beinah permanenten Karnevalsstimmung, in der süddeutschen Gemütlichkeit und Gutmütigkeit ihres geselligen Lebens dem phantastischen Bilde des Spießbürgers vom immer heiteren Schlaraffenland noch am nächsten.“ (Bab, Die Berliner Bohème, 6). Zudem wirkte die Boheme in München in eine ausdifferenzierte Medienlandschaft hinein, in der sie sich nicht nur öffentlich artikulieren, sondern auch ihr Einkommen beziehen konnte. Am Beginn stand die Gesellschaft für modernes Leben, die 1890 in München u. a. von den Schriftstellern Michael Georg Conrad (1846–1927) und Otto Julius Bierbaum (1865–1910), vom Bildhauer Rudolf Maison (1854–1904) und vom Dichter Hanns von Gumppenberg (1866–1928) gegründet wurde. Ihre naturalistisch geprägte Zeitschrift Die Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben bot sich als Forum für junge Autorinnen und Autoren an. Später ergänzten Zeitschriften wie Simplicissimus, Jugend und andere die Möglichkeiten des freiberuflichen Gelderwerbs.
Die Boheme pflegte in ihrem antibürgerlichen Habitus eine Geselligkeit, die in vielen Zügen den bürgerlichen Salon karikierte. Öffentliche Räume wurden umgedeutet, zumindest teilwiese verschwammen die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Leben. Die nördlich der Altstadt gelegenen Münchner Stadtteile Schwabing und Maxvorstadt eigneten sich für die neue Lebensform aufgrund der Nähe zur Kunstakademie bzw. zur Universität und der günstigeren Lebensverhältnisse besonders gut, wobei sich nur Schwabing als Teil der Namensgebung durchgesetzt hat, man könnte ebenso von der Maxvorstädter Boheme sprechen. „Schwabinger Boheme“ hat sich als Bezeichnung eingebürgert, weil Schwabing als Ort galt, an dem man besonders günstig leben konnte und die Boheme mit Armut assoziiert wurde.
Im Gegensatz zu bürgerlichen Formen der Geselligkeit wird in der Boheme-Kultur eine nicht hierarchische Vernetzung untereinander praktiziert. Joachim Ringelnatz (d.i. Hans Bötticher, 1883–1934) spricht diesbezüglich von den „Rummelplätzen des Geistes“. Auch autodidaktische Elemente werden darin sichtbar, so bei Leonhard Frank (1882–1961) oder Oskar Maria Graf (1894–1967), die sich wie andere auch das Wissen der Zeit über Literatur, Kunst oder Philosophie in den Boheme-Netzwerken aneigneten. Treffpunkte wurden das Café Stefanie, das Leonhard Frank in "Links wo das Herz ist" als seine Universität bezeichnete, oder die Künstlerkneipe Simplicissimus, wo Stammgäste wie Erich Mühsam oder Frank Wedekind (1864–1918) eigene Texte vortrugen. Teilweise ist bei den Zusammenkünften ein ritualisiertes Verhalten mit Aufführungscharakter zu beobachten. Ringelnatz oder Ludwig Scharf (1864–1938) deklamierten eigene Texte, die wie eine Hymne funktionierten: Scharf trug sein Gedicht „Proleta Sum“ regelmäßig vor, da es das Selbstverständnis der Bohemiens ausdrückte: „Ich bin ein Prolet, vom Menschengetier / bin ich bei der untersten Klasse! / Ich bin ein Prolet! was kann ich dafür, / wenn ich keine Zier eurer Gasse?“
Als soziale Bewegung bietet sich die Boheme als Experimentier- und Auffangbecken für künstlerische und literarische Strömungen an. In München entstand die Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“, die den Weg zur Abstraktion einschlug; in der Tanzschule von Rudolf von Laban (1879-1958) wurde an einem neuen Formen des Körperausdruckes für den künstlerischen Tanz gearbeitet. In der Literatur zeigte sich nach der anfänglichen Bindung an den Naturalismus ein Interesse an der Kleinkunst und kleinen Formen, wie bei dem Kabarett der Elf Scharfrichter. Es galt die Maxime „épater le bourgois“ (dt. Erschreckt/Schockiert die Bürger). Frank Wedekinds und Oskar Panizzas (1853–1921) Infragestellung bürgerlicher Moral gehörte ebenso dazu wie Otto Groß‘ (1877–1919) psychoanalytische Erweiterung des Liebeskonzepts oder die Anfänge der Avantgarde, die sich im Schutzraum der Boheme bilden konnte. In München hielten sich in der letzten Phase der Boheme u. a. mit Hugo Ball (1886–1927), Emmy Hennings (später Ball-Hennings, 1885–1948), dem in München geborenen Johannes R. Becher (1891–1958), Franz Jung (1888–1963) Autorinnen und Autoren auf, die während und nach dem Ersten Weltkrieg den Expressionismus mitprägten und den Dadaismus entwickelten. Blickt man auf literarische Darstellungen der Boheme oder Briefe und Erinnerungen der Akteure, stellt man einen regen persönlichen und künstlerischen Austausch zwischen München, Berlin und Wien fest. Else Lasker-Schüler (1869–1945), Peter Altenberg (1859–1919) und viele andere weilten wiederholt in München, wie überhaupt die nomadische Existenzweise in der Boheme Orte als Durchgangsstationen versteht.
Oskar Maria Graf (1894–1967). (Bayerische Staatsbibliothek, port-033615)
Frank Wedekind (1864–1918). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-035265)
Die Schwabinger Boheme in der Literatur
Die literarischen Darstellungen der Boheme zeigen insgesamt ein Panorama, das die historischen Begebenheiten ebenso repräsentiert wie konstruiert. Die Darstellungen verbindet zunächst, dass die Boheme um 1912 historisch zu werden und die eigene Geschichte zu verarbeiten beginnt. Dazu gehören Romane wie Franziska „Fanny“ Gräfin zu Reventlows (1871–1918) „Der Geldkomplex“ (1916), der einerseits die neuen ökonomischen Bedingungen anspricht, unter denen das Prinzip des Geldleihens sozial nicht mehr praktikabel erscheint, andererseits einen der antibürgerlichen Lebensorte der Boheme anspricht, die Psychiatrie und das Sanatorium als Rückzugsorte. Solche Romane beruhen auf einer vielfach ironischen Distanzierung von den Ereignissen. In dem Gedichtband „Leb‘ wohl, Boheme“ kündigt 1911 Margarete Beutler (1876–1949) als eine der ersten Beteiligten das Ende der Boheme an. Erich Mühsam konzentriert sich in dem Tendenzstück „Die Freivermählten“ von 1914 auf die Darstellung Franziska zu Reventlows, Margarete Beutlers und Frieda Gross' (1876–1950) in Hinsicht auf deren Emanzipationsbestrebungen: Themen des Theaterstücks sind die freie Ehe und Frauen, die ihre Kinder ohne Vater großziehen.
Zu den bekanntesten Darstellungen der Boheme in München gehört Franziska zu Reventlows Roman „Herrn Dames Aufzeichnungen. Oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil“ (1913). Schwabing wird in diesem Schlüsselroman unter dem Namen Wahnmoching eingeführt. Der Ort ist im bildlichen Sinne „eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulturen wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen“, wie es im Roman heißt, und verdeutlicht Jargon und Habitus der Selbstinszenierung vor allem des Kreises um Ludwig Klages (1872–1956), Alfred Schuler (1865–1923) und Stefan George (1868–1933).
Eine frühe Darstellung der Boheme gibt Ernst von Wolzogen (1855–1934) im Roman „Das dritte Geschlecht“ (1899). Wolzogen stellt vor allem die Emanzipationsbewegung von Frauen und deren Ausstrahlung in das bürgerliche Milieu ironisch dar. Oskar A. H. Schmitz (1873-1931), der eigentliche Dandy der Boheme in München neben dem Insel-Herausgeber Alfred von Heymel (1878-1914), setzt sich im Roman „Bürgerliche Bohème. Deutscher Sittenroman aus der Vorkriegszeit“, der 1913 zunächst unter dem Titel „Wenn wir Frauen erwachen“ erschienen ist, ebenfalls mit der Rolle von Frauen in der Gesellschaft auseinander und karikiert Franziska zu Reventlows Beziehung zu Ludwig Klages. Es gelingt ihm jedoch nicht, Emanzipationsbestrebungen und stereotypes Frauenbild voneinander zu trennen.
Der nur für ausgewählte Leserinnen und Leser verfasste „Schwabinger Beobachter“, von dem 1904 nur drei Hefte erschienen sind, wurde von Franziska zu Reventlow, Franz Hessel (1880–1941) und Oskar A.H. Schmitz anonym herausgegeben. Die Leserinnen und Leser waren ein handverlesener Kreis, ihnen wurde das Blatt anonym in den Briefkasten geworfen, vergleichbar zu den Anfängen der Blätter für die Kunst des Freundeskreises um Stefan George, die nur für einen ausgewählten Leserkreis gedacht waren. Der Schwabinger Beobachter persifliert das Cliquenwesen der Boheme („Blätter für die Katz“), insbesondere den sog. Kosmiker-Kreis, zu dem neben Stefan George auch Karl Wolfskehl (1869–1948) und Ludwig Derleth (1870–1948) gehören. Thomas Mann (1875–1955) ironisiert in der Erzählung „Beim Propheten“ topographische Aspekte des Bohemelebens und den Drang zur Selbstinszenierung. In der Erzählung stehen Ludwig Derleths „Proklamationen für den Kult des Ichs“ ein, eine ästhetische Inszenierung von Individualität, die in der Forschung auch als militanter Messianismus beschrieben worden ist. Franz Hessel, der 1899 nach München kam und mit Franziska zu Reventlow und Bohdan von Suchocki (1863–1955) eine berühmt gewordene Wohngemeinschaft in der Kaulbachstraße 63 (Gebäude später durch einen Neubau ersetzt) teilte, stellt die Glücksversprechen der Boheme in den Vordergrund seines Roman „Der Kramladen des Glücks“ (1913) und der Münchner Novellen „Laura Wunderl“ (1908).
Oskar A. H. Schmitz (1873-1934). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-035058)
Die Boheme in autobiographischen Schriften
Die Autorin Franziska zu Reventlow scheint vielen exemplarisch für die ganze Bewegung einzustehen. Rolf von Hoerschelmann (1885–1947) schreibt in seinem Erinnerungsbuch „Leben ohne Alltag“ über sie: „Die Gestalt dieser einzigartigen Frau gibt Veranlassung, den Begriff der Bohème mit Schwabing in Beziehung zu setzen. In jeder großen Kunststadt gibt es eine Bohème, in Paris und in Berlin so gut wie in München. Daß in Schwabing die Luft wehte, die ihr am bekömmlichsten war, daß die kleinen Gärtchen und Häuschen, die Atelierwohnungen in den Neubauten ihr behagliches Quartier boten, darf aber nicht zum Irrtum verführen, die Schwabinger Bohèmiens für die typischen Schwabinger zu halten. Aber beide Kreise […], gleich unbürgerlich gesinnt, hatten stets Fühlung miteinander und mischten sich gerne und oft. Bohèmiens waren nach den klassischen Zeiten des Kaulbachhäuschens Erich Mühsam und Ringelnatz, Lotte Pritzel und Emmy Hennings, Klabund und Marietta [Marietta di Monaco, eigentl. Maria Kirndörfer].“
Die Erinnerungsliteratur zur Schwabinger Boheme bezieht sich auf den Glanz des Ortes, der immer stärker zu leuchten beginnt. An die Stelle ironischer Darstellungen treten vermehrt melancholische, in denen ein Verlust aufscheint. René Prevots (1880–1955) Erinnerungen zeigen die Boheme in einem illusionistischen Gewand, als eine ästhetische Experimentierstation, eine Heimat des Spleens, in der die Beteiligten kaum in Kontakt mit der sozialen Realität gelangen (Seliger Zweiklang 1946). Willy Seidel (1887–1934) schildert in „Jossa und die Junggesellen“ den Kreis um Carl Georg von Maaßen (1880–1940). Dieser war ein bibliophiler Sammler und E.T.A. Hoffmann-Forscher. Er war u. a. Teilnehmer beim „Jungen Krokodil“ (1911 von Artur Kutscher [1878–1960], Karl Henckell [1864–1929] u.a. gegründet), der „Hermetischen Gesellschaft“ (Persiflage auf geheime Logen), dem satirisch konzipierten Verein Süddeutscher Bühnenkünstler, der Gesellschaft der Münchner Bibliophilen (1907-1913; mit Franz Blei [1871–1942], Ernst Schulte-Strathaus [1881–1968] und Hans von Weber [1872–1924] gegründet, Mitglieder waren Karl Wolfskehl, Georg Müller [1877–1917] u. a.), bei Max Halbes (1865–1944) Kegelbahn und als Herausgeber bei der Zeitschrift „Der Grundgescheute Antiquarius“ (1920–23). Das Beispiel zeigt, wie hoch der Vernetzungsgrad war und welchen Verlust es für das kulturelle Leben der Stadt bedeutete, dass viele der Menschen, die sich in der Boheme bewegten, im Ersten Weltkrieg fielen oder nach der gescheiterten Revolution 1918/19 die Stadt verließen.
Nachwirkungen: Boheme und Subkultur im 20. Jahrhundert
Das Ende der Boheme lässt sich nicht genau datieren. Die Zunahme von Selbstdarstellungen von Bohemiens zwischen 1910 und 1914 in Erzählungen und Romanen zeigt, dass die Akteure im Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis handeln und sich selbst historisch werden. Dafür geben sie verschiedene Gründe an: das Versagen des anti-ökonomischen Prinzips, die Skepsis gegenüber neuen Rollenmodellen oder die zunehmende Politisierung der Bewegung. In dieser Übergansphase setzt einerseits die Mythisierung des Phänomens „Boheme“ als „goldenes Zeitalter“ Münchens ein, andererseits werden in Künstlerkreisen weiterhin bestimmte Haltungen wie Libertinage gelebt und der Alltag jenseits von Routinen als Lebenskunst verstanden.
Nachwirkungen der Boheme-Kultur lassen sich bis in die Anfänge der 1920er Jahre feststellen. Folgt man den Erinnerungen von Hans Brandenburg (1885–1968), Marta Feuchtwanger (1891–1987), Wilhelm von Schramm (1898–1983), Oskar Maria Graf u. a., so blühte das Bohemeleben in den frühen 1920er Jahren nochmals auf, es konnte sich jedoch aufgrund der Politisierung des Alltagslebens nicht mehr als Alternative zum bürgerlichen Leben behaupten. Bestehen konnte ein Nebenzweig, die Lebensreformbewegung, die zur Boheme in einem Spannungsverhältnis stand, sich mit ihr jedoch in der Opposition gegen das Bürgertum trifft. Der Historiker Ulrich Linse (geb. 1939) nennt die dazugehörigen Sozialtypen „Inflationsheilige“. Die Bewegung ist geprägt von dem Gedanken der Komplexitätsreduktion und einer natürlichen Lebensweise, in der sich der einzelne authentisch als er selbst erfahren kann. Die Boheme hingegen benötigt das großstädtische Leben.
Nach 1945 kam es wiederholt zu Versuchen, an Themen und Motive der Boheme anzuschließen. Zu erwähnen ist u.a. Peter Paul Althaus (1892–1965), der Schwabing literarisch zum imaginären Ort einer „Traumstadt“ ausgestaltete. Den Typus des Schwabinger Lebenskünstlers ruft die Regisseurin May Spils (geb. 1941) in dem Film "Zur Sache, Schätzchen (1968)" auf. Mit Motiven aus der Boheme aus dem Umkreis von Stefan George spielt der Regisseur Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) in dem Film Satansbraten (1975/76).
Heute werden vielfach Anleihen bei der historischen Boheme gemacht, ohne dass dies von der Grundidee her immer gegeben wäre. Aspekte der Bohemekultur werden vielfach zur Ausgestaltung eines eigenen Lebensstils eingesetzt: In Mode und Innenarchitektur wird vom Boho-Stil oder Boho-Chic gesprochen. Gesellschaftskritische Bewegungen berufen sich auf Inszenierungsformen von Individualität im sozialen Raum zur bewussten Abgrenzung von anderen sozialen Schichten. Von der Boheme spricht man, wenn man eine Form der Individualität meint, die nicht unter sozialen Verfügungsgewalten steht. Die Boheme ist in den Darstellungen ein Bild für Lebenskünstler geworden, woran Literaturverfilmungen wie jene von Truman Capotes (geb. Truman Persons, 1924-1984) Roman „Frühstück bei Tiffany“ (1958, Verfilmung 1961 von Blake Edwards [1922-2010]) beigetragen haben oder in ökonomischer Hinsicht die Rede von der „digitalen Bohème“.
Literatur
- Helmut Bauer/Elisabeth Tworek (Hg.), Schwabing – Kunst und Leben um 1900. Essays, München 1998.
- Reinhard Bauer/Thomas Jacobi/Kathrin Schirmer, Schwabing im Wandel der Zeit, München 2015.
- Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945, Frankfurt a.M. 1999.
- Richard Faber, Männerrunde mit Gräfin. Die „Kosmiker“ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow; mit einem Nachdruck des „Schwabinger Beobachters“, Frankfurt a.M. u. a. 1994.
- Walter Fähnders (Hg.), Nomadische Existenzen. Vagabondage und Bohème in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts, Essen 2007.
- Peter Gay, Bürger und Boheme. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts, München 1999.
- Jürgen-Wolfgang Goette (Hg.), Literatur und Politik vor dem 1. Weltkrieg. Erich Mühsam und die Bohème. Neunte Erich-Mühsam-Tagung in Malente, 22.–24. Mai 1998, Lübeck 1999.
- Alexis Joachimides, Bohème, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2000, 728-750.
- Elisabeth Kleemann, Zwischen symbolischer Rebellion und politischer Revolution. Studien zur deutschen Boheme zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Else Lasker-Schüler, Franziska Gräfin Reventlow, Frank Wedekind, Ludwig Derleth, Arthur Moeller van den Bruck, Hanns Johst, Erich Mühsam, Frankfurt a.M. / Bern 1985.
- Helmut Kreuzer, Die Boheme, Stuttgart 1968.
- Ulrich Linse, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1986.
- Christine Magerski, Gelebte Ambivalenz. Die Bohème als Prototyp der Moderne, Wiesbaden 2015.
- Christine Magerski, Lebenskünstler. Kleine Kulturgeschichte der Berliner Bohème, Berlin 2014.
- Anne-Rose Meyer, Jenseits der Norm. Aspekte der Bohème-Darstellung in der französischen und deutschen Literatur 1830–1910, Bielefeld 2001.
- Fritz Paul, Die Bohème als subkultureller „Salon“. Strindberg, Munch und Przybyszewski im Berliner Künstlerkreis des „Schwarzen Ferkels“, in: Roberto Simanowski u. a. (Hg.), Europa – ein Salon? Göttingen 1999, 305-327.
- Werner Ross, Bohèmiens und Belle Epoque. Als München leuchtete, Berlin 1997.
- Wolfgang Ruppert, Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1998.
- Dieter Schiller, Bohème und Revolution. Erich Mühsam 1901–1911, in: Dieter Schiller (Hg.), Im Widerstreit geschrieben, Berlin 2008, 271-285.
- Enno Stahl, Bohème in München und Berlin. Literarisches Leben zwischen Expressionismus, Club Dada und Politik, in: Hugo-Ball-Almanach Nr. 1 (2010), 11-35.
- Isabelle Stauffer, Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles. Ironische Inszenierungen des Geschlechts im Fin de Siècle, Köln u.a. 2008.
- Gerd Stein, Lesebücher über Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bohemien – Tramp – Sponti. Boheme und Alternativkultur, Frankfurt a.M. 1982.
- Ulrike Voswinckel, Freie Liebe und Anarchie: Schwabing – Monte Verità. Entwürfe gegen das etablierte Leben, München 2009.
Quellen (in Auswahl)
- Julius Bab, Die Berliner Bohème, Berlin 1904.
- Margarete Beutler, Leb wohl, Boheme, München 1911.
- Hans Brandenburg, München leuchtete. Jugenderinnerungen, München 1953.
- Hans Brandenburg, Im Feuer unserer Liebe. Erlebtes Schicksal einer Stadt, München 1956.
- Leonhard Frank, Links wo das Herz ist, München 1952.
- Holm Friebe/Sascha Lobo, Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, München 2006.
- Oskar Maria Graf, Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918–1933, München 1966.
- Max Halbe, Jahrhundertwende. Erinnerungen an eine Epoche, München 1976.
- Franz Hessel, Der Kramladen des Glücks, Frankfurt a.M. 1913.
- Franz Hessel, Laura Wunderl. Münchner Novellen, Berlin 1908.
- Rolf von Hoerschelmann, Leben ohne Alltag, Berlin 1947.
- Erich Mühsam, Die Boheme, in: Die Fackel. Jg. 8, Nr. 202 (30. April 1906), 4-10, wiederabgedruckt in: Jürgen Schiewe/Hanne Maußner (Hg.): Erich Mühsam. Trotz allem Mensch sein. Gedichte und Aufsätze, Stuttgart 2009, 99-105.
- Erich Mühsam, Die Freivermählten. Polemisches Schauspiel in drei Aufzügen, München 1914.
- Henri Murger, Boheme. Szenen aus dem Pariser Leben, Göttingen 2001. (Ausgabe von 1906)
- René Prèvot, Boheme, München 1922.
- René Prevot, Seliger Zweiklang. Schwabing, Montmartre, München 1946.
- René Prevot, Kleiner Schwarm für Schwabylon, München 1954.
- Reventlow, Franziska zu: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. München 1913.
- Oskar A.H. Schmitz, Bürgerliche Bohème. Ein Sittenroman aus dem Deutschland vor dem Weltkriege, München 1918 (zunächst unter dem Titel: Wenn wir Frauen erwachen, München 1913).
- Ernst von Wolzogen, Das dritte Geschlecht, Berlin 1899. (Ausgabe von 1902)
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Weiterführende Recherche
- Schlagwortsuche im Online-Katalog des Bibliotheksverbundes Bayern
- Stichwortsuche in bavarikon
- Schlagwortsuche in der Bayerischen Bibliographie
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Waldemar Fromm, Schwabinger Boheme, publiziert am 23.12.2021; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Schwabinger_Boheme> (01.11.2024)