Vorderösterreich
Aus Historisches Lexikon Bayerns
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"Vorlande" oder "Vorderösterreich" bezeichnet alle habsburgischen Besitzungen nordwestlich von Tirol. Dazu zählten Erwerbungen aus über fünf Jahrhunderten: Vorderösterreich im engeren Sinne ("Alt-Vorderösterreich"), Schwäbisch-Österreich und die vorarlbergischen Herrschaften "im Walgäu". Geopolitisch-militärisch diente Vorderösterreich den Habsburgern als Rekrutierungs- und Operationsbasis sowie als Rückzugsraum und Puffer, zuletzt insbesondere für Auseinandersetzungen mit Frankreich. Seine "Semiterritorialität" und wiederholte Verpfändungen von Gebietsteilen durch die Habsburger bildeten einerseits ein Hindernis für die intensive herrschaftliche Durchdringung Vorderösterreichs. Andererseits begünstigten sie eine hohe Gewerbedichte, Entfaltungsmöglichkeiten jüdischer Gemeinden in den schwäbischen Dörfern und einen integrativen Verlauf der katholischen Konfessionalisierung. Den Untertanen eröffneten sie besondere Handlungsspielräume. Im Frieden von Pressburg 1805 gingen die vorderösterreichischen Gebiete größtenteils an die süddeutschen Verbündeten Napoleons (reg. 1799-1814/15, ab 1804 Kaiser), Bayern, Württemberg und Baden. Bei Bayern verblieb als wichtigste Erwerbung die frühere Markgrafschaft Burgau.
Begriff
"Vorderösterreich" oder "Vorlande" bezeichnete alle habsburgischen Besitzungen nordwestlich von Tirol. "Vorderösterreich" hieß die Gesamtheit dieser Gebiete jedoch erst seit den Verwaltungsreformen von Kaiserin Maria Theresia (1717-1780, reg. 1740-1780) ab 1752. Der ältere Begriff "Vordere Lande" für alle schwäbisch-alemannischen Besitzungen Habsburgs ist dagegen erstmals 1444 belegt. 1415 war der für sie zuvor zentrale habsburgische Herrschaftssitz Baden im Aargau (Schweiz) an die Eidgenossen verloren gegangen. Die Verwaltung erfolgte fortan von Innsbruck aus, das jedoch gleichzeitig für das 1363 erworbene Tirol zuständig war.
Zu den Vorlanden zählten Vorderösterreich im engeren Sinne (in der Forschung der Unterscheidung wegen gelegentlich auch "Alt-Vorderösterreich" genannt), Schwäbisch Österreich und die vorarlbergischen Herrschaften "im Walgäu". Dabei handelte es sich um drei Gebietskomplexe im deutschen Südwesten zwischen Elsass und Lech, Oberem Neckar und Hochrhein bzw. Alpenrheintal. Sie umfassten Erwerbungen aus über fünf Jahrhunderten, die, von vorangehenden Gebietsabtretungen abgesehen, schließlich im österreichisch-französischen Frieden von Pressburg (26. Dezember 1805) an die süddeutschen Verbündeten Napoleon Bonapartes (1769-1821), an Bayern, Württemberg und Baden, fielen.
Für die Zeit vor 1780 wird die Größe Vorderösterreichs auf ca. 160 Quadratmeilen mit etwa 400.000 Einwohnern berechnet (zum Vergleich: Württemberg umfasste etwa 150 Quadratmeilen mit ca. 650.000 Einwohnern). Damit waren die vorländischen Besitzungen in der Frühen Neuzeit in ihrem Gesamtumfang zwar das größte Territorium in Südwestdeutschland. Allerdings zählten dazu nur wenige geschlossene Herrschaften mit der Fülle von Besitz- und Rechtstiteln ausschließlich in habsburgischen Händen. Die meisten vorderösterreichischen Herrschaften waren territoria non clausa, in denen die Habsburger nicht selten nur über die Hochgerichtsbarkeit verfügten, während daneben Adelige, Klöster oder Reichsstädte weitere Herrschafts- und Besitzrechte ausübten: "Semiterritorialität" kennzeichnet zumeist sowohl die einzelnen Herrschaften wie auch Vorderösterreich insgesamt.
Vorderösterreich im engeren Sinne
Zu Vorderösterreich im engeren Sinne zählten auch älteste habsburgische Besitzungen im Elsass und im Aargau, zu denen als wichtigste im 14. Jahrhundert Villingen (heute Villingen-Schwenningen; falls nicht anders angegeben, befinden sich alle im Folgenden genannten Orte heute in Baden-Württemberg) und Bräunlingen, Freiburg (1368) und der Breisgau, die "Vier Waldstädte" Waldshut, Laufenburg, Säckingen und Rheinfelden (12.-14. Jahrhundert) sowie Mitte des 16. Jahrhunderts die Landvogtei Hagenau im Unterelsass und die Landvogtei Ortenau kamen. Verwaltungsmittelpunkt dafür war seit 1510 Ensisheim (Frankreich) bei Mühlhausen (2. Hälfte 13. Jahrhundert), nach dem Verlust des Elsass an Frankreich dann Breisach (1632) und schließlich Freiburg (1651).
Schwäbisch-Österreich
Schwäbisch-Österreich erstreckte sich von der Oberen und Niederen Grafschaft Hohenberg mit deren Hauptort Rottenburg (1381) und der Landgrafschaft Nellenburg mit Stockach (1465) im Westen über die "Fünf Donaustädte" Munderkingen, Riedlingen, Mengen, Saulgau (letztes Drittel des 13. Jahrhunderts) und Waldsee (1331) sowie die Stadt Ehingen mit den Herrschaften Schelklingen und Berg (1343) und die Landvogtei Schwaben (1379/86, endgültig 1486) mit Sitz in Altdorf bei Weingarten bis zur Markgrafschaft Burgau (1301) im Nordosten.
Vorarlberg
Im Vorarlbergischen kamen zuerst die Grafschaft Feldkirch (1375) und ein Teil der montfortischen Herrschaft Bregenz mit der Herrschaft Hohenegg (1451) an Habsburg. Ein weiterer Teil der Bregenzer Herrschaft mit den Gerichten Grünenbach und Simmerberg (1521) sowie Weiler (Gde. Weiler-Simmerberg) und Scheidegg (beide Lkr. Lindau) und die Herrschaft Altenburg (1570/71) erweiterten diesen Komplex im 16. Jahrhundert. Die jüngsten Erwerbungen waren die Herrschaften Hohenems (1765), die Herrschaft Wasserburg am Bodensee, die Reichsgrafschaft Tettnang mit der Herrschaft Argen (1779/80) sowie schließlich noch 1804 Lindau und die Herrschaft Rothenfels.
Historische Genese
Das territoriale Konglomerat der Vorlande ergab sich aus unterschiedlich motivierten und unterschiedlich planvoll herbeigeführten Erwerbungen. Die Ausgangslage wird markiert durch ältesten habsburgischen Besitz im Oberelsass und - soweit nicht durch die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Eidgenossen bereits verloren - am Hochrhein, also Bestandteile des habsburgischen Patrimoniums. Eine erste Phase von Erwerbungen war seit König Rudolf I. (reg. 1273-1291) von der Vision geleitet, das mit den Staufern untergegangene (1268) schwäbische Herzogtum wieder zu errichten. Insbesondere durch den Erwerb Tirols (1363) kam das Ziel hinzu, von dort aus eine Landbrücke zu den westlichen Herrschaftskomplexen Habsburgs zu schlagen.
Bedeutung für das Haus Habsburg
Geopolitisch-militärische Bedeutung
Große strategische Bedeutung behielten die Vorlande bis zu ihrem Untergang: Sie dienten als Rekrutierungs- und Operationsbasen, Rückzugsräume oder Puffer für die Auseinandersetzungen Habsburgs mit den Eidgenossen, im Dreißigjährigen Krieg, mit Frankreich, aber auch Bayern. Dabei gingen bis 1499 die ältesten habsburgischen Besitzungen vollständig an die Eidgenossen verloren (1802 zuletzt noch das Fricktal), im Westfälischen Frieden 1648 und in den nachfolgenden Kriegen Ludwigs XIV. (reg. 1643-1715) die elsässischen Teile an Frankreich. Speziell die Geschicke der Markgrafschaft Burgau sind mit der Zurückweisung der bayerischen Expansionsabsichten unter Herzog Georg dem Reichen von Bayern-Landshut (reg. 1479-1503) eng verknüpft. Nicht zuletzt um sie in die Schranken zu weisen, war 1488 auch der Schwäbische Bund gegründet worden.
Politische und fiskalische Bedeutung
Eine eigenständige, alle Herrschaftskomplexe übergreifende vorländische Territorialpolitik bzw. eine intensivere Verklammerung und herrschaftliche Durchdringung der Gebiete lässt sich dagegen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beobachten. Zuvor war dies nur in Ansätzen der Fall. Die aufgeklärt-absolutistischen Reformen der theresianisch-josephinischen Ära erstreckten sich dabei von der Neuordnung der Spitzenbehörden bis in die kommunalen Verfassungen hinein und machten auch nicht Halt vor den kirchlichen Strukturen und religiösen Mentalitäten ("Josephinismus"; benannt nach Joseph II. [reg. 1765-1790 als röm.-dt. Kaiser]).
Nicht zu unterschätzen sind die positiven Effekte, die mit der habsburgischen Verankerung im Südwesten über Jahrhunderte hinweg für die kaiserliche Klientelpolitik einhergingen. (Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Vorlande als personelles Reservoir für den Wiener Hof und die Aufgaben des Reiches, für die zahlreiche schwäbische Adelsfamilien Verwendung fanden.) Denn die gerade hier so zahlreich vertretenen mindermächtigen Reichsstände und Reichsunmittelbaren, die Reichsstädte, Reichsabteien und -stifte sowie die in den schwäbischen Kantonen Donau, Hegau-Allgäu-Bodensee, Neckar-Schwarzwald, Kocher und Kraichgau organisierten Reichsritter fanden einerseits am Reichsoberhaupt eine wichtige Stütze, um sich gegen die Mediatisierungsbestrebungen mächtiger Nachbarn zu behaupten. Andererseits waren sie deshalb immer wieder auch zu finanziellen Hilfen an das Reich bereit. So hatte die Verschuldung zahlreicher Klöster und Stifte der Region am Vorabend der Säkularisation ihre Ursache in der Finanzierung der gegen Napoléon (1769-1821) geführten Kriege des Kaisers, im allgemeinen jedoch nicht in einer von den Aufklärern allerdings stereotyp behaupteten Misswirtschaft.
Verpfändungen
Die stark fiskalische Perspektive Habsburgs auf den vorländischen Besitz wird auch deutlich aus den häufigen, teils geradezu seriellen Verpfändungen, die der verfassungsmäßig-politischen Durchdringung, vor allem aber einer am Landesherrn orientierten (gemeinsamen) politischen Identität abträglich sein mussten. Für einzelne Städte wie Munderkingen oder Ehingen, die im 17. Jahrhundert an diese selbst verpfändet wurden, ging damit allerdings eine reichsstadtähnliche Autonomie einher.
Waren die Verpfändungen aus vorderösterreichischen Rechten und Besitzungen während des 16. und teilweise 17. Jahrhunderts notorisch, wurde im 18. Jahrhundert der Versuch unternommen, die Pfandschaften auszulösen und der österreichischen Regierung und Verwaltung direkt zu unterstellen. In den Friedenszeiten zwischen 1714 und 1740 bzw. 1763 und 1789 eröffneten sich dafür am ehesten die Spielräume. Es ist aber ein Symptom für die Zwänge, denen die habsburgische Politik ausgesetzt war, bzw. für die beständige Geldnot, wenn solche Anläufe nicht selten nach kurzer Zeit wieder scheiterten. So gelangte beispielsweise die in ihrem Rechtsstatus zwischen Pfandschaft und Lehen schwebende Grafschaft Kirchberg-Weißenhorn (seit 1507 im Besitz der Fugger) 1724 wieder an Habsburg, das sich jedoch bereits elf Jahre später erneut zum Verkauf an die Fugger genötigt sah.
Stellung im Reich, Herrschaft und Verwaltung
Stellung im Reich
Der Großteil der vorländischen Besitzungen zählte zum Österreichischen, ein geringer Teil (Sigmaringen und Veringen) zum Schwäbischen bzw. Oberrheinischen (Reichslandvogteien Hagenau und Ortenau) Reichskreis. Das 1547 mediatisierte Konstanz wechselte vom Schwäbischen in den Österreichischen Reichskreis. Im Reichstag war Vorderösterreich durch den Erzherzog von Tirol im Reichsfürstenrat vertreten.
Herrschaft
Die Vorlande insgesamt wurden teils vom habsburgischen Kaiser als Tiroler Landesherrn (1490-1564, 1665-1803), teils von einer eigenen Tiroler Nebenlinie des Hauses (1415-1490, 1564-1665) regiert. Auch in den letzten Monaten vor seiner Auflösung (Oktober 1803 - Dezember 1805) unterstand Vorderösterreich einer Nebenlinie unter Ferdinand Karl von Österreich-Este (1754–1806). In kurzen Phasen wurden einzelne Herrschaften von morganatischen Abkömmlingen des Hauses regiert, so 1609-1618 die Markgrafschaft Burgau zusammen mit weiteren schwäbisch-österreichischen Gebieten von dem aus der Verbindung von Erzherzog Ferdinand II. (reg. 1564-1595) und Philippine Welser (1527-1580) hervorgegangenen Markgrafen Karl von Burgau (1560-1618).
Verwaltung
Bis 1752 unterstanden die Vorlande insgesamt der "Oberösterreichischen Regierung und Kammer" in Innsbruck. Für Schwäbisch-Österreich gab es keine gemeinsame zentrale Verwaltungsbehörde innerhalb der Vorlande. Die einzelnen Herrschaften mit ihren Verwaltungssitzen z. B. in Günzburg (Lkr. Günzburg), Altdorf oder Rottenburg (sie wurden nach 1752 zu Oberämtern) unterstanden jeweils für sich Innsbruck. Die vorarlbergischen Landesteile (die sogenannten "Herrschaften im Walgäu") dagegen wurden von Feldkirch bzw. Bregenz (seit 1753 Oberamt) aus verwaltet. Diese Verwaltungen, aber auch die für Alt-Vorderösterreich insgesamt zuständige, erst in Ensisheim, dann, von kriegsbedingten Verlagerungen abgesehen, in Freiburg ansässige Regierung waren Innsbruck unterstellt. In Freiburg war auch die einzige Universität der Vorlande 1457 durch Erzherzog Albrecht VI. (reg. 1453-1463) gegründet worden. Nach 1752 bzw. 1753 wurde Freiburg für die jetzt allgemein "Vorderösterreich" genannten Vorlande zuständig; die vorarlbergischen Herrschaften wurden 1782 dagegen erneut Innsbruck unterstellt.
Landstände
In allen drei Herrschaftskomplexen existierten eigene Landstände, die der Landesherr in unregelmäßigen Abständen zu "Landtagen" einberief, um außerordentliche Zahlungen bewilligt zu erhalten. Mit den ständig zunehmenden militärischen Engagements der Habsburger stieg auch deren Geldbedarf. Daneben versammelten sich die Stände auch aus eigener Initiative, bisweilen mehrmals im Jahr. In Alt-Vorderösterreich setzten sich die Stände aus den im Land ansässigen Prälaten, Rittern sowie Städten und Landschaften zusammen (Dreikurientyp); Tagungsort des "Konsess" genannten Landtages war erst Ensisheim, dann Freiburg, zeitweise auch Waldshut.
In Schwäbisch-Österreich versammelten sich die Stände seit dem 17. Jahrhundert in Ehingen, in Vorarlberg seit dem 16. Jahrhundert in Feldkirch, später auch in Bregenz. Deren landständische Vertretung bestand nur aus Bürgern und Bauern der habsburgischen Städte und Landschaften, denn Adlige und Prälaten hatten sich den Versuchen Habsburgs, sie landsässig zu machen, mit Erfolg widersetzt. Sie hatten sich in der Reichsritterschaft organisiert bzw. die Reichs- bzw. Kreisstandschaft erworben.
Die Markgrafschaft Burgau: Beispiel für ein Territorium non clausum
Instruktives Beispiel dafür wie auch für die Komplexität der verfassungsrechtlichen Situation insbesondere in Schwäbisch-Österreich ist die Markgrafschaft Burgau. Als "Eingesessene", deren gesamter Besitz in der Markgrafschaft lag, oder als "Begüterte", deren Besitz nur teilweise innerhalb, teilweise aber zusammen mit dem herrschaftlichen Sitz außerhalb der Markgrafschaft lag, verfügten die "Insassen" (nicht Habsburg) in den weitaus meisten Orten der Markgrafschaft über grundherrliche und niedergerichtliche Rechte. Ortsherren wie die Städte Augsburg oder Ulm bzw. deren Stiftungen und Bürger, die Klöster Roggenburg (Lkr. Neu-Ulm) oder Ursberg (Lkr. Günzburg) oder die Adelsfamilien Freiberg oder Schertlin besaßen dabei zugleich Reichs- bzw. Kreisstandschaft oder waren der Reichsritterschaft angegliedert. Einer Beschickung österreichischer Landtage verweigerten sie sich konsequent, um nicht in die Landsässigkeit abzusinken. Gleichwohl bemühten sie sich aber um die Bündelung und gemeinsame Vertretung ihrer Interessen und Ansprüche gegenüber der Markgrafschaft bzw. deren habsburgischen Regenten.
"Feuerstattgulden"
Erster entscheidender Schritt in diese Richtung war die Zahlung des "Feuerstattguldens" durch die Insassen: Für jedes ihrer Anwesen in der Markgrafschaft, jede Feuerstatt in ihrem Besitz, hatten sie König Maximilian I. (reg. 1486-1519, Kaiser ab 1508) im Jahre 1492 einen Gulden entrichtet, um ihm so zusammen mit Kreditgebern die Auslösung der Markgrafschaft aus bayerischer Pfandschaft bzw. deren Rückkauf zu ermöglichen. Im Gegenzug bestätigte ein "Privilegium Maximiliani", der "Freiheitsbrief" bzw. die "Feuerstattguldenfreiheit", den Insassen ihre hergebrachten Rechte. Insbesondere ging es dabei um das Recht der Niedergerichtsbarkeit auf ihren Gütern, das "Privilegium" fixierte aber auch den burgauischen Blutbann. Die Entrichtung des Feuerstattguldens sollte für die künftigen Auseinandersetzungen zwischen Österreich und den Insassen der Markgrafschaft eine ambivalente Rolle spielen. Die Insassen interpretierten die Zahlung des Guldens als freiwillige Leistung, die gewissermaßen den Verzicht Habsburgs auf landeshoheitliche Ansprüche erkauft habe. Umgekehrt sah die habsburgische Seite darin die Abgabe einer Art Landsteuer, also eine Anerkennung ihrer landeshoheitlichen Stellung.
Insassenvertretung
Zahlung des Feuerstattguldens und Feuerstattguldenfreiheit hatten wesentlich zur Formierung einer insassischen Interessengemeinschaft beigetragen. Die Kontroversen, die sich aus den gegensätzlichen Interpretationen des Freiheitsbriefes unmittelbar ergaben, führten schließlich zur Institutionalisierung. Erstmals entsandten 1569 Domkapitel und Hochstift Augsburg, Prälatenstand, Kanton Donau der Reichsritterschaft und die Reichsstädte Augsburg und Ulm jeweils einen Vertreter zu einem "Engeren" Ausschuss der Insassen der Markgrafschaft Burgau. Das zunächst vierköpfige Gremium trat überwiegend außerhalb der Markgrafschaft in Augsburg zusammen. Vorsitzender des Engeren Ausschusses war für das Hochstift Augsburg als dem ranghöchsten und bedeutendsten Insassen der Bischof von Augsburg.
1576 wurde dem Engeren ein Großer Ausschuss zugeordnet, der theoretisch von allen Eingesessenen und Begüterten beschickt wurde, aber weniger effizient arbeitete und geringe Bedeutung entwickelte. Die Etablierung des Großen Ausschusses stand in unmittelbarem Zusammenhang mit Verhandlungen, die im selben Jahr unter Vermittlung einer kaiserlichen Kommission in Donauwörth (Lkr. Donau-Ries) stattfanden. Deren Vereinbarungen sollten nach einiger Verzögerung 1587 als "Burgauische Interimsmittel" die strittigen Rechtsauffassungen bis zu ihrer endgültigen Klärung durch das Reichskammergericht gütlich regeln. Dazu kam es nicht; vielmehr wurden die Interimsmittel 1653 "perpetuiert" – Ergänzungen und Erweiterungen folgten im "Eventualrezess" 1682 – und blieben so bis zur Auflösung der Markgrafschaft Burgau (1805) in Kraft.
Semiterritorialität und Entwicklungschancen
Vorderösterreich ist durch eine unvollständige Territorialisierung gekennzeichnet, die folgende Charakteristika aufwies:
- eine unterschiedliche Ausstattung mit Herrschaftsrechten
- zum Teil nochmals eingeschränkte Spezialrechte ohne Grundherrschaft wie in weiten Bereichen der Markgrafschaft Burgau bis zu zusammenhängenden Gebieten mit Grund und Boden, Eigenleuten und Gerichtsrechten wie im Breisgau oder in Vorarlberg
- jeweils individuelle Verfassungs-, Rechts- und Verwaltungsstrukturen
- das - sieht man von kurzen Phasen in einzelnen Herrschaften ab - Fehlen eines Residenzortes bzw. die Ferne des Landesherrn
- eine lange Reihe von Verpfändungen.
Vor diesem Hintergrund gewannen jedoch informelle Wege zur Durchsetzung politischer Ziele besondere Bedeutung und entfalteten bemerkenswerte Wirksamkeit. Dies zeigt der erfolgreiche Verlauf der katholischen Konfessionalisierung, was unter den gegebenen Verhältnissen der "Semiterritorialität" keine geringe Leistung war.
Betrachtete dabei die ältere Forschung diesen Zustand nur aus etatistischer Perspektive und beurteilte ihn als defizient, so wurden in jüngeren Arbeiten gerade die damit verknüpften Entwicklungschancen erkannt, denn ausgerechnet in der Semiterritorialität der Vorlande insgesamt und einzelner Komplexe im besonderen erkennt man seit der Jahrtausendwende Ursachen für eine außergewöhnliche wirtschaftliche Entwicklung (gekennzeichnet etwa durch eine sehr große Gewerbedichte in Ostschwaben), für die Entfaltungsmöglichkeiten jüdischer Gemeinden in den schwäbischen Dörfern oder einen betont integrativen Verlauf der katholischen Konfessionalisierung. Die Vielzahl konkurrierender Herrschaftsträger, aber auch die häufigen Verpfändungen erhöhten nicht nur den Kommunikations- bzw. "Aushandlungsbedarf" unter den Herren. Auch für die Untertanen ergaben sich auf diese Weise größere Spielräume, etwa wenn sie in Konflikten mit ihrem adeligen Ortsherrn bereitwillig Unterstützung in Innsbruck fanden oder, wie im Falle der Landstadt Ehingen, selbst die Pfandschaft über die eigene Stadt erwerben konnten.
Vorderösterreich und Bayern
Für die Unterstützung Napoleons im Dritten Koalitionskrieg 1805 erhielt Kurpfalzbayern nach der Einschließung und Kapitulation der österreichischen Armee bei Ulm (17. Oktober 1805) im Vertrag von Brünn am 10. Dezember 1805 unter anderem die vorderösterreichischen Besitzungen Burgau und Vorarlberg (einschließlich Lindau) versprochen. Daneben sollten Bayern Tirol und die säkularisierten Stifte Brixen und Trient (Trento, beide Italien) zugeteilt werden. Der Pressburger Friede, geschlossen am 26. Dezember 1805 zwischen Frankreich und Österreich, anerkannte diese und weitere Vereinbarungen. Im selben Vertrag wurde aus dem vorderösterreichischen Besitz Württemberg mit den Fünf Donaustädten, der Grafschaft Hohenberg, der Landgrafschaft Nellenburg und der Präfektur Altdorf ausgestattet. Baden erhielt die Gebiete im Breisgau und in der Ortenau, Konstanz und die Insel Mainau. Bei Bayern verblieb, auch nach den Grenzregulierungen mit Württemberg von 1810 bzw. nach den Abtretungen an Österreich im Umkreis des Wiener Kongresses (1815), als wichtigste Erwerbung das Gebiet der früheren Markgrafschaft Burgau.
Archive und Überlieferung
Nicht erst die Aufteilung Vorderösterreichs auf die neuen napoleonischen Staaten im deutschen Südwesten hatte unmittelbare und folgenschwere Auswirkungen auf die Archiv- und Beständegeschichte. Bereits die theresianische Verwaltungsreform und die Schaffung neuer gesamtvorderösterreichischer Behörden (1753/1763) führte bis 1789 zur Herauslösung und Überführung umfangreicher Bestände aus der Innsbrucker Überlieferung nach Konstanz bzw. Freiburg; gleichwohl bewahrt das Tiroler Landesarchiv in Innsbruck eine überaus reiche und für die Forschung unverzichtbare Überlieferung zu Vorderösterreich. 1763 wurden daneben an Frankreich zahlreiche das Elsass und den Sundgau betreffende Archivalien abgetreten. Ab 1792 führten die Napoleonischen Kriege zu mehreren Flüchtungsaktionen des Freiburger Archivs, dessen Bestände Ende des Jahres 1805 nach Konstanz und zum größten Teil nach Günzburg gelangt waren. Von dort aus wurden sie auf die neuen Eigentümer Baden, Württemberg, Hohenzollern-Sigmaringen und Bayern, zum kleineren Teil auch Frankreich und Österreich soweit möglich nach Ortspertinenz aufteilt. Die nicht eindeutig zuzuordnende Überlieferung wurde vorwiegend von Bayern übernommen, das auch mit Günzburg die letzte vorderösterreichische Provinzhauptstadt in Besitz genommen hatte. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts führte der Aufbau neuer Archive und die Schaffung neuer Archivkörper zumeist nach dem Pertinenzprinzip zur weiteren, planmäßigen Dezimierung ("Kassation") und Zerstückelung der Bestände.
An die Rekonstruktion oder Zusammenführung der ganz Vorderösterreich betreffenden Überlieferung ist angesichts der Zersplitterungen und Verluste nicht zu denken. Seit den 1980er Jahren jedoch haben die betroffenen Staats- und Landesarchive große Anstrengungen unternommen, die Voraussetzungen für die Erschließung der Quellen erheblich zu verbessern. So kam es durch wechselseitige Archivabgaben zu Beständebereinigungen und -zusammenführungen und zur Erstellung von Inventaren und Repertorien. Speziell in Bayern ging mit der Gründung des Augsburger Staatsarchives (1989) die Vereinigung der vorderösterreichischen Archivalien aus den Staatsarchiven in Neuburg und München an einem einzigen Standort einher.
Literatur
- Sarah Hadry, Die Fugger in Kirchberg und Weißenhorn. Herrschaftsverfassung und Leibeigenschaft, Konfessionalisierung und Residenzbildung (Materialien zur Geschichte der Fugger 5), Augsburg 2007.
- Volker Himmelein/Franz Quarthal (Hg.), Vorderösterreich, Nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? Die Habsburger im deutschen Südwesten, Stuttgart 1999.
- Historischer Atlas von Baden-Württemberg.
- Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben.
- Rolf Kießling (Hg.), Schwäbisch-Österreich. Zur Geschichte der Markgrafschaft Burgau (1301-1805), Augsburg 2007.
- Robert Kretzschmar, Vorderösterreich - historische Bedeutung und Überlieferung eines untergegangenen Territoriums. Tagungsbericht, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 60 (2001), 347-351.
- Hans Maier/Volker Press (Hg.), Vorderösterreich in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1989.
- Friedrich Metz (Hg.), Vorderösterreich. Eine geschichtliche Landeskunde, Freiburg im Breisgau 4. Auflage 2000.
- Franz Quarthal/Birgit Dürr/Georg Wieland, Die Behördenorganisation Vorderösterreichs von 1753 bis 1805 und die Beamten in Verwaltung, Justiz und Unterrichtswesen (Veroffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg im Breisgau 43), Buhl/Baden 1977.
- Franz Quarthal/Gerhard Faix, Die Habsburger im deutschen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs, Stuttgart 2000.
- Franz Quarthal, 700 Jahre vorderösterreichisches Burgau. Zur Bedeutung der Herrschaft des Hauses Habsburg fur das östliche Schwaben, in: Mitteilungen der Gesellschaft Oberschwaben 3/3 (2001), 7-29.
- Franz Quarthal, Vorderösterreich, in: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte I/2, Stuttgart 2000, 587-780.
- Dietmar Schiersner, Katholische Konfessionsbildung in den habsburgischen Vorlanden. Bedingungen, Entwicklungen, Akteure, in: Dietmar Schiersner u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. Festschrift für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, 193-219.
- Dietmar Schiersner, Politik, Konfession und Kommunikation. Studien zur katholischen Konfessionalisierung der Markgrafschaft Burgau (Colloquia Augustana 19), Berlin 2005.
- Wolfgang Wüst, Günzburg (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben I/13), München 1983.
Quellen
- Gerhart Nebinger/Norbert Schuster (Hg.), Das Burgauer Feuerstattguldenregister, in: Das Obere Schwaben vom Illertal zum Mindeltal 7 (1963), 77-124.
- Otto Stolz, Geschichtliche Beschreibung der ober- und vorderösterreichischen Lande (Quellen und Forschungen zur Siedlungs- und Volkstumsgeschichte der Oberrheinlande 34), Karlsruhe 1943.
Weiterführende Recherche
Verwandte Artikel
- Burgau, Markgrafschaft: Politische Geschichte
- Burgau, Markgrafschaft: Territorium und Verwaltung
- Burgauisches Feuerstattguldenregister, 1492
- Hohenegg, Herrschaft
- Kirchberg-Weißenhorn, Herrschaft
Oberösterreich, Vorderösterrechische Besitzungen in Schwaben, österreichische Vorlande
Empfohlene Zitierweise
Dietmar Schiersner, Vorderösterreich, publiziert am 23.07.2018, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Vorderösterreich> (10.12.2024)