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Lochamer Liederbuch

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Doppelseite 36/37 aus dem Lochamer Liederbuch. Links das Liebeslied "All mein gedencken dy ich hab", rechts Tenorlied "Unmut hat mir beladen", darunter der Besitzvermerk des Wolflein von Lochamer. (Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Mus. 40.613)

von Johannes Kandler

Mitte des 15. Jahrhunderts in Nürnberg entstandene Liederhandschrift, die 45 weltliche Lieder mit einer großen stilistischen und inhaltlichen Bandbreite enthält. Ihren Namen trägt die Handschrift von der Nürnberger Kaufmannsfamilie Lochamer, in deren Besitz sie sich zeitweise befand. Der zweite Teil der Handschrift enthält das "Fundamentum organisandi" des Conrad Paumann (ca. 1415-1473).

Bedeutung und Name

Das "Lochamer-Liederbuch" (Ms. Mus. 40.613) zählt neben anderen Liederbüchern des Spätmittelalters (z. B. "Liederbuch der Clara Hätzlerin", "Königsteiner Liederbuch") zu den bedeutendsten und umfangreichsten Liedersammlungen im deutschsprachigen Raum. Bis 1931 im Bestand der Bibliothek der Fürsten zu Stolberg-Wernigerode befindet es sich seither im Besitz der Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz.

Die Bezeichnung "Lochamer"(-Liederbuch) leitet sich von dem gleichlautenden Namen Locham (auch: Locheim oder Lochaim) einer seit dem 14. Jahrhundert in Nürnberg nachweisbaren Kaufmannsfamilie ab, in deren Besitz sich das Buch zeitweise befand. Daneben lässt sich aufgrund einzelner Vermerke innerhalb des Manuskripts (Seite 37-41) auf Besitzer im oberbayerischen Raum schließen, die wahrscheinlich der Sammlung auch einzelne Lieder beigefügt haben dürften.

Entstehungszeitraum

Das Liederbuch ist Mitte des 15. Jahrhunderts in Nürnberg entstanden. Auch wenn mit Jodok von Windsheim der erste Besitzer und Hauptschreiber des Liederbuchs namentlich greifbar ist, so wird die Datierung der Sammlung nach wie vor kontrovers diskutiert. Konrad Ameln (1899-1994) spricht sich in seiner Faksimile-Ausgabe für die Jahre 1454 und 1455 aus. Wesentlicher Anhaltspunkt für Ameln ist dabei die Datierung der Schreiberhände sowie die zeitliche Einordnung des "Fundamentum organisandi", einer Orgeltabulatur des Conrad Paumann (ca. 1415-1473), die wenig später mit dem Liederbuch vereinigt und wohl in den Jahren zwischen 1451 und 1455 zum größten Teil niedergeschrieben wurde (Ameln, Liederbuch und Fundamentum). Christoph Petzsch hingegen plädiert für die Jahre 1451 bis 1453 (Petzsch, Lochamer-Liederbuch). In jedem Fall kristallisieren sich somit die Jahre 1451 bis 1455 als Entstehungszeitraum der Handschrift heraus.

Äußere Form

Die Maße des Liederbuchs fallen mit 212 x 155 mm verhältnismäßig gering aus. Die Handschrift umfasst insgesamt vier Heftlagen, von denen die ersten beiden das "Lochamer-Liederbuch" enthalten. Auf den Lagen III und IV findet sich das bereits erwähnte "Fundamentum organisandi". Die Einrichtung der Seite im "Lochamer-Liederbuch" koordiniert Musik und Text nacheinander, wobei der Text in der Regel dem Melodiesystem folgt. In nur wenigen Fällen ist der Text der ersten Strophe unmittelbar der Melodie beigeordnet.

Für die Melodien wurde die Mensuralnotation verwendet; somit sind auch rhythmische Deutungen der Lieder möglich. Die Texte der Lieder wurden in der für das 15. Jahrhundert typischen Schriftart Bastarda aufgezeichnet. Sie sind zudem graphisch deutlich in einzelne Strophen gegliedert, da jeweils das erste Wort zu Beginn einer jeden Strophe eine markant ausgeführte Majuskel aufweist. Die übrigen Verse sind darüber hinaus leicht eingerückt. Als Autor der Sammlung ist in der Mehrzahl der Lieder und neben Jodok von Windsheim ein nicht näher zu identifizierender Schreiber anzusetzen.

Inhalt

Das "Lochamer-Liederbuch" weist als Grundbestand 45 Lieder auf; darunter befinden sich 44 deutschsprachige Gesänge und ein mittelniederländisches Chanson. Auch wenn sich Lieder nachweisen lassen, denen ein neuer Text unterlegt wurde (Kontrafakturen), so handelt es sich doch bei etwa der Hälfte aller Lieder um anonym verfasste Unica, wobei bereits Besseler in zahlreichen Fällen (ohne diese jedoch im Detail anzuführen) eine Konkordanz zwischen dem "Lochamer-Liederbuch" und dem "Buxheimer Orgelbuch" wahrscheinlich macht.

Der überwiegende Teil der Lieder besitzt eine einstimmige Melodie, aber auch zwei- und dreistimmige Gesänge sind in der Sammlung enthalten. Neben den bereits erwähnten anonym verfassten Liedern lassen sich auch solche von Dichterpersönlichkeiten wie Oswald von Wolkenstein (um 1377-1445) und dem Mönch von Salzburg nachweisen. Die gesamte Sammlung zeichnet sich durch eine große Bandbreite unterschiedlicher Genres aus: sie reicht von Liebesliedern im Stile des (späten) Minnesangs bis hin zu Derb-Sinnlichem. Schließlich enthält sie mit "Des klaffers neiden" - einer Minneklage über die gerüchte der "merkaere" (Öffentlichkeit), oder "Der walt hat sich entlaubet" insgesamt fünf Beispiele für mehrstimmige Lieder deutscher Sprache nördlich der Alpen. Der Bestand des "Lochamer-Liederbuchs" spiegelt somit das musikalische Interesse einer Nürnberger Familie des 15. Jahrhunderts wider, die sich durch Kenntnis älterer Gesänge ebenso auszeichnet wie durch ihren Sinn für Neues (Kontrafakturen).

Rezeption

Die Rezeption des "Lochamer-Liederbuchs" setzte insbesondere mit dem Mittelalterinteresse der Romantik im 19. Jahrhundert ein. Angeregt durch die Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" von Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) wurden zahlreiche Lieder mit Klavierbegleitung herausgegeben. Auch Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) hat 1835 Teile des "Lochamer-Liederbuchs" als Kunstlieder für Klavier und Singstimme bearbeitet.

Nach einer Phase des gesteigerten Interesses an der Sammlung, die bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts reichte und als dessen (vorläufigen) Höhepunkt die Arbeiten von Christoph Petzsch zum "Lochamer-Liederbuch" gelten können, ist hierzu aus Sicht der Forschung in jüngster Zeit nur wenig zu vernehmen, obwohl neben Einzeluntersuchungen insbesondere das Verhältnis von "Fundmanentum organisandi" zum "Lochamer-Liederbuch" selbst noch einer genaueren Betrachtung bedarf. Ameln wies bereits auf die enge Zusammengehörigkeit des Liederbuchs mit dem Fundamentum hin, die sich darin zeige, dass "zu allen Orgelsätzen mit einem deutschen Lied als Tenor dieser ein- oder (und) mehrstimmig auch im Liederbuch zu finden ist" (Ameln, Liederbuch und Fundamentum, 8). Wie man sich nun unter diesen Bedingungen die performative Seite der einzelnen Lieder (vor allem derjenigen mit einer Entsprechung im "Fundamentum organisandi") vorzustellen habe, konnte bislang noch nicht abschließend geklärt werden.

Literatur

  • Friedrich Wilhelm Arnold, Das Locheimer Liederbuch nebst der Ars Organisandi von Conrad Paumann als Dokumente des Deutschen Liedes sowie des frühesten geregelten Kontrapunktes und der ältesten Instrumentalmusik, Leipzig 1926 (ND Wiesbaden 1969).
  • Heinrich Besseler, Art. Buxheimer Orgelbuch, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Band, Kassel 1952, 544-548.
  • Heinrich Besseler, Das Lochamer Liederbuch aus Nürnberg, in: Die Musikforschung 1 (1948), 220-225.
  • Karl Gustav Fellerer, Das Lochamer Liederbuch in der Bearbeitung der Annette von Droste-Hülshoff, in: Die Musikforschung 5 (1952), 200-205.
  • Johannes Kandler, Wie klingt die Liebe? Anmerkungen zur Wechselwirkung von Musik und Text im Lochamer-Liederbuch, in: Gert Hübner (Hg.), Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert, Amsterdam 2005, 47-64.
  • Franz Krautwurst, Art. Nürnberg, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 9. Band, Kassel 1961, 1745-1762.
  • Christoph Petzsch, Bedeutung von "Stüblein" im Lochamer-Liederbuch, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 226 (1989), 85-91.
  • Christoph Petzsch, Das Lochamer-Liederbuch (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 19), München 1967.
  • Christoph Petzsch, Der Cgm 4702. Zwei frühe Kontrafakturen zum Lochamer-Liederbuch, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 92 (1963), 227-240.
  • Christoph Petzsch, Fragment mit acht dreistimmigen Chansons, darunter Lochamer Liederbuch Nr. 18, in: Die Musikforschung 27 (1974), 319-322.
  • Christoph Petzsch, Unbekannte Überlieferung von Lochamer-Liederbuch Nr. 4, in: Die Musikforschung 23 (1970), 38.
  • Christoph Petzsch, Zur hebräischen Widmung im Lochamer Liederbuch, in: Die Musikforschung 18 (1965), 25-29.

Quellen

  • Konrad Ameln (Hg.), Lochamer-Liederbuch und das Fundamentum organisandi von Conrad Paumann. Faksimile-Nachdruck (Documenta musicologica 2/3), Kassel u. a. 1972.
  • Marc Lewon (Bearb.), Das Lochamer Liederbuch in neuer Übertragung und mit kritischen Kommentaren. 2 Bände, o. O. 2007. (Auswahl von Liedern in neuer Übertragung mit dem Schwerpunkt auf der Spielbarkeit; mit wissenschaftlichem Kommentar)
  • Walter Salmen/Christoph Petzsch, Das Lochamer Liederbuch. Einführung und Bearbeitung der Melodien von Walter Salmen. Einleitung und Bearbeitung der Texte von Christoph Petzsch (Denkmäler der Tonkunst in Bayern. Neue Folge/Sonderband 2), Wiesbaden 1972.

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Johannes Kandler, Lochamer Liederbuch, publiziert am 12.10.2010; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Lochamer_Liederbuch (28.03.2024)