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Musica viva

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Drei Mitarbeiter des Veranstaltungsdienstes München beim siebten "musica viva"-Konzert von Franz André (1893-1975) und Arthur Grumiaux (1921-1986) am 17. April 1951 in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-008824)
Probe zur Oper "Raub der Lukrezia" von Benjamin Britten (1913-1976) in der Residenz, November 1951. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-009726)
Wolfgang Fortner beim ersten Konzert von Ferdinand Leitner (1912-1996) am 24. Oktober 1952. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-011837)
Dirigent Ferenc Fricsay (rechts, 1914-1963) bei seinem zweiten Konzert am 21. November 1952, mit dem Komponisten Werner Egk (1901-1983). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-011099)
Karl Amadeus Hartmann und Hans Werner Henze beim neunten "musica viva"-Konzert von Rudolf Alberth (1918-1992) und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 12. Juni 1953 in der Münchner Residenz. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-012061)
Probe zu "Les malheurs d'Orphée" von Darius Milhaud (1892-1974) unter der Leitung von Ernest Bour (1913-2001) und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 20. November 1953. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-012643)
Unbekannter Tänzer im Rollenkostüm bei der Probe zu "Renard" von Igor Strawinsky unter Leitung von Ernest Bour und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 20. November 1953 im Herkulessaal der Residenz. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-013002)
Wolfgang Fortner beim vierten "musica viva"-Konzert von Rudolf Alberth und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 19. März 1954. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-013024)
Dirigent Hermann Scherchen, Komponist Luigi Nono und Violonist Rudolf Kolisch (1896-1978) am 24.1.1958. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv, Fotoarchiv Timpe)
Dirigent Dean Dixon (1915-1976) und Pianist Claudio Arrau (1903-1991) beim Blick in die Partitur der "Burleske" in d-Moll von Richard Strauss (1864-1949). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-007355)
Hans Werner Henze, Ingeborg Bachmann (1926-1973), Gloria Davy (1931-2012) und Karl Amadeus Hartmann beim sechsten "musica viva"-Konzert im Mai 1958. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv timp-000632)
Lorin Maazel am 27. Januar 1961. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv, Fotoarchiv Timpe)
Geiger Yehudi Menuhin (1916-1999) und Dirigent Fritz Rieger (1910-1978) am 24. Februar 1961. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv, Fotoarchiv Timpe)

von Julia Zupancic

"Musica viva" ist die Bezeichnung einer Konzertreihe für zeitgenössische Musik in München, die 1945 von Karl Amadeus Hartmann (1905-1963) gegründet wurde. Die Veranstaltungsreihe umfasst Symphoniekonzerte (mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks), Kammerkonzerte sowie Konzerte mit ungewöhnlichen Besetzungen, Live-Elektronik oder multimedialen Projekten. Die Schirmherrschaft trägt seit 1948 der Bayerische Rundfunk.

Entstehung der "musica viva" unter Karl Amadeus Hartmann 1945-1963

In ihren Anfangsjahren war die Konzertreihe "musica viva" untrennbar mit dem Namen des Komponisten Karl Amadeus Hartmann (1905-1963) verbunden. Hartmann war 1933 in die innere Emigration gegangen und lebte von Gelegenheitsarbeiten sowie der finanziellen Unterstützung der Familie seiner Frau Elisabeth Reußmann, die er 1934 heiratete. Durch Aufführungen seiner Werke im Ausland gewann er zunehmend internationales Ansehen; die Zusammenarbeit mit deutschen Behörden wie der Reichsmusikkammer versuchte er zu umgehen. Schon bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs unterzeichnete er mit Unterstützung der US-Militärregierung einen Vertrag mit den Bayerischen Staatstheatern, der ihm eine Anstellung als Musikdramaturg der Münchner Staatsoper sicherte. In dieser Position war er für die Organisation einer Reihe von Konzerten mit zeitgenössischer Musik zuständig, die zunächst als Matineen angelegt waren, später aber auf den Abend verlegt wurden. Der Nachholbedarf an Neuer Musik war groß: Während des NS-Regimes war das deutsche Musikleben von der internationalen Entwicklung der Musik isoliert; darüber hinaus wurde die Musik vieler Komponisten innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie als "entartet" diffamiert und mit einem Aufführungsverbot belegt. Der Begriff der Neuen Musik (auch: neue Musik) wird meist als Sammelbegriff für die Musik seit etwa 1910 verwendet; hervorgehoben wird hier das "Neue" der Musik in Abgrenzung zu der klassisch-romantischen Musiktradition und -praxis des 18. und 19. Jahrhunderts.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Programmwahl des ersten Konzerts am 7. Oktober 1945 - also nur fünf Monate nach Kriegsende - demonstrativen Charakter: Neben "Ibéria" (aus: "Images pour orchestre") des Franzosen Claude Debussy (1862-1918) und der "Lustspiel-Ouvertüre" Ferrucio Busonis (1866-1924) wurde die Vierte Symphonie des aus einer jüdischen Familie stammenden Komponisten Gustav Mahler (1860-1911) aufgeführt – im noch unbeheizten Prinzregententheater vor etwa 20 Besuchern.

Hartmanns Engagement und Überzeugung standen in den ersten Jahren der "musica viva" große Schwierigkeiten gegenüber: Im Nachkriegsdeutschland war das Notenmaterial für Neue Musik kaum vorhanden, es herrschten Hunger, Kälte, Krankheiten und Zerstörung in der Stadt und das Publikum hatte keinen Bezug zu diesen Formen der Musik. Außerdem fehlte nicht nur ein festes Orchester, sondern auch ein geeigneter Saal. Neben dem Prinzregententheater fanden die Konzerte im Theater am Brunnenhof, im sog. Sophiensaal, dann in der wiederhergestellten Aula der Ludwig-Maximilians-Universität und ab 1953 im Herkulessaal der Residenz statt.

Die Anfangsjahre der Konzertreihe waren gekennzeichnet durch Improvisationen (Terminverschiebungen, Programmänderungen) und eine enorme Organisationsleistung auf Seiten Hartmanns. Er konnte sich hier die Erfahrungen und persönlichen Kontakte zunutze machen, die er 1928-1933 gesammelt hatte, als er für die Künstlervereinigung "Die Juryfreien" Konzerte mit zeitgenössischer Musik veranstaltete.

In den Folgejahren (insbesondere seit 1948) stellte sich immer mehr Erfolg ein, und die "musica viva" entwickelte sich zu einer anerkannten Veranstaltungsreihe für zeitgenössische Musik. Ein wichtiger Schritt dabei war die Übernahme der Schirmherrschaft durch Radio München (ab 1948: Bayerischer Rundfunk): Nun standen der "musica viva" sowohl ein Orchester als auch ein Chor zur Verfügung, und die Konzerte fanden durch Ausstrahlung im Rundfunk eine größere Verbreitung.

Hartmanns Konzept der "musica viva"

Den Namen "musica viva" erhielt die Konzertreihe erstmals 1947. Eines der Vorbilder war die internationale Musikzeitung "musica viva", die von dem Dirigenten Hermann Scherchen (1891-1966) 1933 bis 1936 herausgegeben wurde. Die Bezeichung ist programmatisch: In den Konzerten soll lebendige Musik zu hören sein. Hartmanns Zielsetzung umfasst dabei drei Aspekte:

  • Erstens wollte er die unter den Nationalsozialisten als "entartet" geltende Musik wieder zu Gehör bringen.
  • Zweitens versuchte er, die Entwicklung der Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts dem Publikum nahezubringen. Dabei stand zunächst die Musik des frühen 20. Jahrhunderts im Vordergrund, also Wegbereiter der Neuen Musik wie Igor Strawinsky (1882-1971), Paul Hindemith (1895-1963), Sergei Prokofjew (1891-1953), Claude Debussy (1862-1918) oder Béla Bartòk (1881-1945). Jene Werke konfrontierte Hartmann oft mit denen zeitgenössischer Komponisten. In seinem pädagogischen Ansatz versuchte Hartmann stets, das Publikum nicht zu überfordern, sondern langsam an die Neue Musik heranzuführen. Zur Vermittlung der Musik bediente er sich mitunter der Verbindung mit moderner bildender Kunst: So entstanden die für die "musica viva" charakteristischen, kunstvoll gestalteten Plakate und Programmhefte. Nach und nach wurden auch Werke jüngerer Komponisten auf- beziehungsweise ur-aufgeführt.
  • Drittens wollte Hartmann zeitgenössische Musik und ihre Schöpfer fördern.

"musica viva" 1964–2010

Nachdem Hartmann 1963 überraschend in München verstorben war, übernahmen der Komponist Wolfgang Fortner (1907-1987) und Ernst Thomas als sein Mitarbeiter die künstlerische Leitung der Konzertreihe. Der gewaltige Nachholbedarf der Nachkriegszeit an Neuer Musik war gestillt, eine neue Herausforderung bestand nun darin, die geforderte Lebendigkeit der Konzerte stets neu zu gewährleisten. Ab der Saison 1975/76 wurden die Konzerte im Herkulessaal um zwei Studiokonzerte im Funkhaus erweitert, die durch einen eher experimentellen Charakter gekennzeichnet sind. Als der Pianist und Musikjournalist Jürgen Meyer-Josten (geb. 1934) 1978/79 die Leitung übernahm, erweiterte sich das Repertoire um bisher wenig bekannte Musik, zum Beispiel aus südamerikanischen Ländern und Australien. Der Komponist Udo Zimmermann (geb. 1943), der 1997 Meyer-Josten an der Spitze der Organisation ablöste, brachte weitere Neuerungen ein: Neben der Einführung von Sonderveranstaltungen multimedialer Ausprägung (in der Muffathalle oder im Marstalltheater), initiierte er den "BMW Kompositionspreis der musica viva" (gestiftet von der BMW AG und dem Bayerischen Rundfunk), der jungen Komponisten finanzielle Unterstützung und eine professionelle Aufführung ihrer Werke bietet (erstmalige Ausschreibung 1997/98, letzte Ausschreibung 2010/11). Mit der Spielzeit 2011/2012 wurde Winrich Hopp (geb. 1961) neuer künstlerischer Leiter der "musica viva" - mit einem festen Abonnentenkreis von 430 Personen.

Wirkung der "musica viva"

Die "musica viva" war und ist noch immer eine der erfolgreichsten Konzertreihen für zeitgenössische Musik. Als eine der ersten Konzertreihen ihrer Art nach 1945 war sie in ihrem Konzept und ihrer Organisation Vorbild nicht nur für Veranstaltungsreihen in Deutschland, sondern auch auf internationaler Ebene. Die ersten Konzerte waren zwar nur spärlich besucht, das änderte sich jedoch in den folgenden Jahren, so dass die Presse nicht selten von überfüllten Sälen berichtete. Nach fünf Jahren war die "musica viva" in der Münchner Musikszene fest etabliert und auch außerhalb Deutschlands bekannt. In den 1950er Jahren wuchs die Zahl der Rezensionen, und es entstand ein öffentlicher Diskurs über die bei der "musica viva" dargebotene zeitgenössische Musik. Dabei wurden die Konzerte immer wieder als musikalisches "Ereignis" oder als "Abenteuer" beschrieben. Dass sie als ein Erlebnis empfunden wurden, war nicht nur auf die neuartige Musik, sondern auch auf die oft international bekannten Interpreten zurückzuführen. Namhafte Dirigenten wie Lorin Maazel (1930-2014), Wolfgang Sawallisch (1923-2013), Eugene Ormandy (1899-1985), Herbert von Karajan (1908-1989), Georg Solti (1912-1992), teilweise auch die Komponisten selbst (u. a. Strawinsky) konnten Hartmann und seine Nachfolger für die Konzerte engagieren. Werke renommierter Komponisten wie Luigi Nono (1924-1990), György Ligeti (1923-2006), Pierre Boulez (1925-2016), Olivier Messiaen (1908-1992), Hans Werner Henze (1926-2012), Karl-Heinz Stockhausen (1928-2007), auch von Hartmann selbst kamen in der "musica viva" zur Aufführung. Durch regelmäßige Rundfunkübertragungen und Fernsehberichte, CD- sowie DVD-Produktionen oder Ausstellungen ist die Konzertreihe stets in den Medien präsent.

Literatur

  • Carola Arlt, Von den Juryfreien zur musica viva. Karl Amadeus Hartmann und die Neue Musik in München (Studien zur Geschichte des Bayerischen Rundfunks 5), München 2010.
  • Norbert Götz, Musica viva. Karl Amadeus Hartmanns zweites Vermächtnis, in: Norbert Götz/Manfred Wegner (Hg.), Gegenaktion. Herausgegeben im Auftrag des Münchner Stadtmuseums, Wolfratshausen 2005, 154-185.
  • Barbara Haas, Die Musica Viva unter dem Gründer und Leiter Karl Amadeus Hartmann. Eine Chronik in Erinnerungen und Dokumenten, Eichstätt 1995.
  • Carola Häfele, Die Anfänge der musica viva unter Karl Amadeus Hartmann, München 2002. (Magisterarbeit)
  • Andreas Jaschinski; Hanns-Werner Heister, Karl Amadeus Hartmann, in: Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil. 8. Band, Sp. 749-755.
  • Franzpeter Messmer (Hg.), Karl-Amadeus-Hartmann-Jahr 2005 in Bayern, München 2004.
  • Renate Ulm (Hg.), "Eine Sprache der Gegenwart". Musica viva 1945-1995, Mainz/München 1995.
  • Renata Wagner, Karl Amadeus Hartmann und die Musica Viva. Essays. Bisher unveröffentlichte Briefe an Hartmann. Ausstellungskatalog, München 1980.

Quellen

  • Barbara Haas, Karl Amadeus Hartmann 1905-1963. Zeitzeugen und Dokumente zum 100. Geburtstag des Komponisten, Wilhelmshaven 2004.

Weiterführende Recherche

Externe Links

Empfohlene Zitierweise

Julia Zupancic, Musica viva, publiziert am 26.10.2011; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Musica_viva (3.12.2024)