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Kriegszielpolitik Bayerns (Erster Weltkrieg)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

von Dieter J. Weiß

Aus seiner teilsouveränen Stellung und dem Recht der Mitwirkung am Abschluss von Friedensverträgen nach einem Bundeskrieg leitete Bayern die Möglichkeit ab, sich während des Ersten Weltkriegs an der Kriegszieldebatte zu beteiligen. Besonders König Ludwig III. (1845-1921, reg. 1912/13-1918) ging mit weitreichenden Forderungen in die Öffentlichkeit, während sich seine Regierung um eine diplomatischere Sprache bemühte. Sein Sohn Kronprinz Rupprecht (1869-1955) teilte die Annexionspläne, bis er sich ab Herbst 1915 zum Vertreter eines Verständigungsfriedens wandelte. Die Diskussion im Königshaus war von der Vorstellung einer Stärkung Bayerns und der Angst vor einer wachsenden preußischen Übermacht geprägt. Völlig unabhängig von diesen war der auch in Bayern vertretene 'Alldeutsche Verband' mit seinen weitgreifenden Annexionsabsichten, die besonders in Intellektuellenkreisen Resonanz fanden.

Bayerns Stellung im Reich im Ersten Weltkrieg

Das Königreich Bayern verfügte als teilsouveräner Gliedstaat über gewisse verfassungsmäßige Mitwirkungsmöglichkeiten an der Außenpolitik des Deutschen Reiches, nämlich den Vorsitz im Bundesratsausschuss für die Auswärtigen Angelegenheiten und ein eigenes Gesandtschaftswesen. Allerdings konnte es auf die Entscheidungen des Kaisers, der Reichsregierung und der im Verlauf des Ersten Weltkrieges immer mächtiger werdenden Obersten Heeresleitung (OHL) kaum Einfluss nehmen. Der Auswärtige Ausschuss des Bundesrates blieb weitgehend ohne praktische Bedeutung. Immerhin tagte er wegen der Bemühungen Bayerns und Württembergs seit 1908 einmal jährlich, während des Weltkrieges wurde er fünfzehnmal einberufen. Weitere Möglichkeiten zur Einflussnahme bildeten die Kontakte König Ludwigs III. (1845-1921, reg. 1912/13-1918) zu Kaiser Wilhelm II. (1859-1941, reg. 1888-1918) und die Beziehungen der Vorsitzenden im Ministerrat und Außenminister Georg Graf von Hertling (1843-1919) und Otto Ritter von Dandl (1868-1942), sowie ihres Berliner Gesandten, Hugo Graf von Lerchenfeld (1843-1925), zur Reichsregierung. Außerdem war Bayern berechtigt, zu Friedensverhandlungen nach einem Bundeskrieg einen Vertreter zu entsenden.

In den entscheidenden Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges verzichtete Bayern weitgehend auf eigenständige außenpolitische Aktivitäten. König Ludwig III. erklärte am 1. August 1914 den Kriegszustand für Bayern, denn auch dieses Vorrecht gehörte zu den Reservatrechten. Für einen Friedensschluss, der Gegenstände der Reichsgesetzgebung berührte, war aber die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Deshalb fühlten sich die Bundesstaaten legitimiert, ihre Wünsche dafür rechtzeitig gegenüber der Reichsleitung zu artikulieren, um nicht durch vollendete Tatsachen überrumpelt zu werden. Hier ist die Diskussion von Kriegszielen im Königshaus wie in der Politik in Bayern einzuordnen, für deren unmittelbare Umsetzung freilich keine Chance bestand.

Die bayerischen Überlegungen sind vor dem Hintergrund der preußisch-deutschen Kriegsziele zu sehen, die Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921) am 9. September 1914 in seinem Septemberprogramm formulierte. Im Zentrum der wohl von Kurt Riezler (1882-1955) ausgearbeiteten Forderungen stand die Sicherung des Reiches gegen Ost und West. Dazu sollten die Abtretung des Erzbeckens von Briey (Lothringen) von Frankreich, die Angliederung von wesentlichen Teilen Belgiens an Preußen, die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbands mit deutscher Dominanz, der Ausbau der Kolonien und eine engere Bindung der Niederlande an das Reich beitragen. Die Neuregelungen im Osten sollten nach diesem Programm erst später geplant werden. Derartige Kriegsziele wurden auch im Reichstag parteiübergreifend vertreten, während von verschiedenen Kreisen wie den Alldeutschen noch viel weitgehendere Annexionsforderungen in Europa, dem Nahen Osten und Afrika erhoben wurden.

Siegeszuversicht und Annexionsforderungen

Die Kriegsziele König Ludwigs III.

König Ludwig III. von Bayern (1845-1921), 1918. Reproduktion eines Gemäldes von Hermann Knopf (1870-1928). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-70589)

Erstmals artikulierte Ludwig III. seine Kriegsziele am 15. August 1914 spontan in der Antrittsaudienz für den preußischen Geschäftsträger in München, Wilhelm Freiherrn von Schoen (1851-1933). Er forderte die Aufteilung der Reichslande Elsaß-Lothringen, die Auflösung Belgiens und die Ausdehnung des Deutschen Reiches bis an die Rheinmündung. Zur Begründung führte er an, dass bei einer Vergrößerung Preußens auch Bayern berücksichtigt werden müsse, wobei er an Teile des Elsaß dachte. Neben dem Wunsch einer Machterweiterung war seine Hauptsorge dabei, dass die föderalistische Reichsverfassung durch die als unvermeidbar geglaubte preußische Machterweiterung noch weiter ausgehöhlt würde. Außenminister Hertling formulierte daraus diplomatischer die Maxime der bayerischen Politik während des Krieges, die mögliche preußische Gebietsvergrößerungen mit entsprechenden territorialen Zugewinnen der anderen deutschen Gliedstaaten kompensiert wissen wollte, um einem noch stärkeren Übergewicht Preußens im Reich entgegenzuwirken. Verschiedene Modelle für die europäische Nachkriegsordnung wurden diskutiert. Das Denken im Königshaus blieb von der Souveränität Bayerns und dem Wunsch, an die Traditionen des 1806 untergegangenen Reiches anzuknüpfen, geprägt. Am 26. August 1914 erhob der König im Großen Hauptquartier in Koblenz, beflügelt durch die anfänglichen Erfolge der bayerischen Truppen in Lothringen, die Forderung auf die Angliederung des 1871 an das Deutsche Reich angegliederte Elsaß an Bayern. Er berief sich dabei auf die teilweise pfälzische Vergangenheit dieses Gebiets und auf ähnliche volkspsychologische, konfessionelle und wirtschaftliche Verhältnisse in der Rheinpfalz und im angrenzenden Elsaß. Deshalb konzentrierten sich die Vorstellungen Ludwigs III. zunächst auf die Aufteilung der Reichslande Elsaß und Lothringen. Verschiedene Modelle mit Gebietsteilen für Bayern, Württemberg und Baden wurden diskutiert, wobei diese aus Misstrauen gegenüber Bayern aber keine territorialen Veränderungen wünschten. Baden, Hessen und Württemberg waren für den Fortbestand der Reichslande, um eine Vergrößerung Bayerns zu verhindern.

Gegenüber seinem Sohn stellte Ludwig III. noch weitreichendere Annexionsforderungen auf, wobei die im Osten an das Reich angrenzenden russischen Gebiete Preußen überlassen werden sollten. Er hatte den Verlust der für Bayern erhofften Landbrücke in die Rheinpfalz nach dem Wiener Kongress 1815 nicht verwunden. Auch schmerzte ihn, dass Bayern 1866 kleinere Gebietsverluste erlitten, aber 1870 keine Kompensation empfangen hatte. Als Ausgleich wünschte er neben dem Elsaß Gebiete aus Belgien und Frankreich für Bayern. Bei den Ansprüchen gegenüber Belgien berief er sich auf die frühneuzeitliche wittelsbachische Herrschaft von Rappoltsweiler bis Bergen op Zoom. Die deutsche Westgrenze sollte nach dem als sicher geglaubten Sieg bei Cap Gris-Nez an der Kanalküste beginnen und längs der Wasserscheide verlaufen, das ganze Flussgebiet von Schelde, Maas und Rhein erfassen und bei Belfort die Schweizer Grenze erreichen. Ludwig III. hielt dies für die natürliche Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Von der Einverleibung Belgiens versprach er sich Zugriff auf die dortigen reichen Kohlenvorkommen und die hochentwickelte Industrie.

In eine größere Öffentlichkeit gelangten die Kriegszielvorstellungen Ludwigs III., als er beim Festmahl des Bayerischen Kanalvereins zu Fürth am 6. Juni 1915 erstmals öffentlich für das Reich einen direkten Ausgang vom Rhein zum Meer forderte. Nachdem diese Rede ungefiltert in die Presse gelangt war, forderte der Reichskanzler mit Rücksicht auf die neutralen Niederlande die Veröffentlichung einer entschärften Fassung, die in der Bayerischen Staatszeitung publiziert wurde.

Der König kannte das Kriegsgeschehen nur von gelegentlichen Frontbesuchen. Er vertraute mehr den Verlautbarungen der OHL als den realistischeren Einschätzungen der Kriegslage seines Sohnes. Getrogen durch die anhaltende offizielle Siegeszuversicht und nicht frei von Altersstarrsinn, hielt Ludwig III. während des gesamten Krieges an seinen Annexionsabsichten fest. Mit nahezu identischen Formulierungen kreisen seine Briefe an Rupprecht immer wieder um diese Vorstellungen. Der Friede sollte eine Kompensation für die menschlichen und materiellen Opfer des Krieges darstellen. Der bayerischen Regierung gelang es, diese Anschauungen des Königs weitgehend vor der Öffentlichkeit verborgen zu halten, lediglich für die Aufteilung der Reichslande Elsaß-Lothringen zwischen Bayern und Preußen oder Baden und Württemberg setzte sie sich in Berlin ein.

Die Kriegsziele Kronprinz Rupprechts von Bayern

Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869-1955), 1916. Foto: Franz Grainer (1871-1948). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-143)

Zu Beginn des Krieges war auch Kronprinz Rupprecht von einem deutschen Sieg überzeugt und teilte weitgehend die Kriegsziele seines Vaters. Um den Föderalismus zu stärken, hielt er eine Erweiterung Bayerns um das untere Elsaß mit Straßburg und einen Teil Lothringens für geboten. Für das Reich erhob auch er Annexionsansprüche gegenüber Belgien, obwohl König Albert I. der Belgier (reg. 1909-1934) sein Schwager war. Um den Föderalismus zu stärken, hätte der Kronprinz den freiwilligen Anschluss der um belgische Gebiete erweiterten Niederlande an das Reich begrüßt, wobei er überzeugt war, dass auch die niederländische Bevölkerung dem zustimmen würde, wenn die angestammte Dynastie erhalten bliebe. Er entwarf bereits Modelle für die dann fällige Änderung der Bundesratsstimmen, um die bayerische und niederländische Position gegenüber Preußen zu stärken.

Im Frühjahr 1915 hing Rupprecht weiterhin der Vorstellung eines für das Deutsche Reich vorteilhaften Friedensschlusses an, der umfangreiche Gebietserweiterungen mit sich bringen sollte. Nach dem Erhalt einer Denkschrift des Generalgouverneurs des deutsch besetzten Belgien, Moritz von Bissing (1844-1917), mit weitreichenden Annexionsforderungen fasste der Kronprinz seine Vorstellungen in einem Memorandum für Graf Hertling zusammen. Den Wünschen Ludwigs III. folgend, sollte die deutsche Westgrenze so weit vorgeschoben werden, dass Luxemburg, Nordfrankreich, Belgien und die Niederlande dem Reich einverleibt werden würden. Damit fasste Rupprecht unter Anknüpfung an den alten Umfang des Heiligen Römischen Reiches Gebiete zusammen, die eine wirtschaftliche Einheit bildeten. Letztlich erstrebte er die Revision der Westfälischen Friedensschlüsse von 1648. Dabei sollten die flämischen Gebiete Belgiens und Nordfrankreichs an die Niederlande, die übrigen nordostfranzösischen Gebietsteile, Wallonien und das bisher niederländische Gebiet um Maastricht an Preußen, der südöstliche Teil der belgischen Provinz Luxemburg an das Großherzogtum Luxemburg fallen. Rupprecht ging davon aus, dass die Niederlande und Luxemburg sich unter diesen Bedingungen freiwillig dem Deutschen Reich anschließen würden. Die Niederlande hätten eine ähnliche Sonderstellung erhalten wie Bayern. Direkte bayerische Kriegsziele formulierte Rupprecht in seiner Denkschrift nicht, doch erhoffte er als Gegenleistung den Anfall des Elsaß. Dieses Projekt war ein Versuch, die Hegemonie Preußens in der Nachkriegsordnung zu begrenzen. Der Kronprinz betrachtete das Reich nicht als Bundesstaat, sondern als Staatenbund. Ein um das an die Rheinpfalz grenzende Elsaß erweitertes Königreich Bayern und die um belgische und französische Gebiete vergrößerte Niederlande hätten ein wesentliches Gegengewicht zu Preußen innerhalb des Deutschen Reiches dargestellt.

Der Leiter der bayerischen Politik Graf Hertling hatte sich im Sommer 1915 zur Erkenntnis durchgerungen, dass wegen der verschlechterten Kriegslage Gebietserweiterungen nach allen Seiten nicht mehr möglich seien. Er dachte an bescheidene Gebietserweiterungen im Osten und an einen Sonderfrieden mit Russland. Reichskanzler von Bethmann Hollweg verhielt sich gegenüber den von der bayerischen Regierung vorgebrachten Annexionswünschen äußert reserviert. Er wollte von dem nach Kriegsende zu restituierenden Königreich Belgien allenfalls das strategisch wichtige Lüttich abtrennen. Um seine Vorstellungen dennoch gegen den Reichskanzler durchzusetzen, ließ Kronprinz Rupprecht seine Denkschrift am 29. Juli 1915 unmittelbar Wilhelm II. überreichen. Der Kaiser missbilligte aber das Projekt und betonte den Zusammenhang zwischen Kriegszielen und militärischer Lage.

Um den preußischen Widerstand gegen eine Ausweitung Bayerns zu brechen, legte Rupprecht seinem Vater im Juli 1915 einen neuen Plan vor. Weil die konservative Partei in Preußen aus konfessionellen Gründen die Angliederung des Elsaß ablehne, um den Katholikenanteil in Preußen nicht zu erhöhen, solle der König das ganze Elsaß für Bayern fordern. Diese Überlegungen waren noch von Vorstellungen des beginnenden 19. Jahrhunderts geprägt. Rupprecht entwarf eine Fülle unterschiedlicher Projekte für mehrere denkbare Eventualitäten. Ein belgischer Bundesstaat oder eine Hochzeit mit der Großherzogin von Luxemburg wurde den Wettinern zugedacht, Württemberg sollte Hohenzollern-Sigmaringen erhalten, Luxemburg erweitert werden. Ein Friede, der das Volk vermeintlich für seine Opfer entschädigte, würde das Ansehen der Monarchie steigern.

Annexionsforderungen in der bayerischen Öffentlichkeit

König Ludwig III. stand mit seinen Annexionswünschen keineswegs allein im Reich wie in Bayern. Die Träger annexionistischer Bestrebungen innerhalb Bayerns konzentrierten sich auf das protestantische Großbürgertum, waren in den neubayerischen Gebieten und in München stärker vertreten als im übrigen Altbayern. Die imperialistisch gesinnten Annexionisten waren als 'Bayerischer Gauverband' im Alldeutschen Verband organisiert, der seit 1916 unter der Leitung des Generals Konstantin Freiherr von Gebsattel (1854-1932) stand. In dieses Umfeld gehört die Bildung des 'Volksausschusses für die rasche Niederwerfung Englands'. Als im Frühjahr 1916 die OHL versuchte, Großbritannien durch einen erneuten Angriff auf Verdun und durch den unbeschränkten U-Boot-Krieg niederzuringen, vertrat Reichskanzler von Bethmann Hollweg, den der bayerische König und seine Regierung nach anfänglichem Zögern unterstützten, eine Gegenposition. Trotzdem empfing Ludwig III. am 5. August 1916 eine Delegation dieses 'Volksausschusses' unter der Leitung der Münchner Universitätsprofessoren Geheimrat Max von Gruber (1853-1927) und Hofrat Emil Kraepelin (1856-1926). Sie drängten ihn, über den Auswärtigen Bundesratsausschuss für eine kompromisslose Kriegsführung und weitreichende Annexionsforderungen zu agieren. Die Regierung Hertling versuchte aber unter Anwendung der Zensur erfolgreich, der von alldeutschen Kreisen um Großadmiral Alfred von Tirpitz (1849-1930) gesteuerten 'Kanzlersturzbewegung' entgegenzutreten, als deren Zentrum sich München ausbildete.

Die Einsicht zu einem Verständigungsfrieden – Kronprinz Rupprecht

Mit der Einsicht zur Notwendigkeit eines Verständigungsfriedens verabschiedete sich Kronprinz Rupprecht ab dem Herbst 1915 von seinen Annexionsplänen. Seine Vorstellungen wurden mit zunehmender Kriegsdauer durch die realistische Sicht der politischen und militärischen Lage geprägt.

Im Oktober 1915 wies der bayerische Kronprinz die OHL auf die Notwendigkeit eines baldigen Friedensschlusses nach dem Ende des Balkanunternehmens im nächsten Frühjahr hin, weil es unmöglich sei, aus dem Stellungskrieg herauszukommen. Dies erfordere die Herausgabe der besetzten Gebiete in Frankreich und Belgien, ohne eine nennenswerte, ins Gewicht fallende Kriegsentschädigung zu erhalten. Militärische, föderalistische und innenpolitische Argumente ließen bei ihm immer stärker die Überzeugung wachsen, dass ein Friedensschluss dringend geboten sei.

Ende Mai 1916 eröffnete Reichskanzler von Bethmann Hollweg der bayerischen Regierung seine Vorstellungen für die Zeit nach einem siegreichen Kriegsende. Im Baltikum wollte sich Preußen Kurland angliedern, Polen sollte unter deutscher Oberhoheit ein Königreich mit Erzherzog Karl Stephan von Österreich (1860-1933) als Monarchen werden und Belgien als selbständiger Staat mit deutschem Einfluss auf die Militär-, Bahn- und Zollpolitik erhalten werden. Der bayerische Kronprinz kritisierte diese Anschauungen scharf, weil die angestrebten Änderungen einem wirklichen Frieden im Wege stünden. Gemeinsam mit seinem Bruder Prinz Franz (1875-1957) ließ er im bayerischen Außenministerium erklären, dass ihnen die im Reichstag veröffentlichten Kriegsziele des Reichskanzlers gegenüber Russland zu weit gingen. Deutschland sei wirtschaftlich auf Russland angewiesen, auch lehnten sie Annexionen in den Ostseeprovinzen und Polen ab, weil diese dem Reich nur Schwierigkeiten bereiten würden. Die Prinzen pochten stattdessen auf eine Verständigung mit Russland. Im Juni 1916 teilte Kronprinz Rupprecht dem bayerischen Außenministerium mit, dass er die Hoffnung auf durchschlagende Erfolge und einen Durchbruch an der Westfront aufgegeben habe. Die Anerkennung der völligen Unabhängigkeit Belgiens hielt er nunmehr für eine notwendige Friedensbedingung. Seinem Vater gegenüber brachte er deutlich zum Ausdruck, dass die angestrebten Kriegsziele angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse herabgeschraubt werden müssten.

Auch im Reichstag wurde mittlerweile die Einsicht von der Notwendigkeit eines baldigen Friedensschlusses vertreten. Wenige Tage nach dem Sturz Bethmann Hollwegs erließ die Mehrheit aus Zentrum, Fortschrittlicher Volkspartei und Sozialdemokraten am 19. Juli 1917 eine Friedensresolution, in der ein Verständigungsfriede unter Verzicht auf Eroberungen gefordert wurde. Der bayerische Kronprinz war mit ihrem Inhalt einverstanden, hielt aber den Zeitpunkt für verfehlt, um den Krieg nicht durch ein vermeintliches Zeichen der Schwäche zu verlängern.

Immer stärker schaltete sich Kronprinz Rupprecht in die politischen Abläufe ein. Seine politischen Vorstellungen zur aktuellen Kriegslage, zur Notwendigkeit eines raschen Friedensschlusses und zur Wahrung der Souveränität Bayerns angesichts immer stärkerer unitarischer Tendenzen fasste er in einem Memorandum vom 19. Juli 1917 für den Vorsitzenden im bayerischen Ministerrat, Graf Hertling, zusammen. Dringend forderte er einen raschen Friedensschluss mit Russland unter Verzicht auf Annexionen, wie sie der OHL vorschwebten. Scharf kritisierte er die deutschen Bombenangriffe auf London. In der bevorstehenden Kampfpause nach der feindlichen Sommeroffensive sollten den Gegnern auf dem westlichen Kriegsschauplatz die deutschen Kriegsziele mitgeteilt werden, die sich auf die Erreichung des status quo ante bellum beschränken sollten. Graf Hertling verstand die Dringlichkeit der Darlegungen nicht, doch wollte er sich bei der Reichsregierung dafür einsetzen, eine Verlängerung des Krieges bis in das Jahr 1918 möglichst zu vermeiden. Er sah ein, dass für den Abschluss eines Verständigungsfriedens der Verzicht auf die Annexion Belgiens nötig sein werde.

Letzte Annexionsträume und Zusammenbruch

Der am 3. März 1918 mit Sowjetrussland geschlossene Frieden von Brest-Litowsk, an dem ein bayerischer Vertreter teilgenommen hatte, und die Erfolge der deutschen Frühjahrsoffensive lösten im Deutschen Reich eine neue Siegeseuphorie aus. Wilhelm II. forderte jetzt offen die Vereinigung des gesamten Baltikums mit der Krone Preußen sowie Lothringen, wofür er nun das Elsaß Bayern zugestand. Darauf entwarf der im November 1917 zum Reichskanzler ernannte Graf Hertling einen Plan, der das Oberelsaß für Baden, das Unterelsaß für Bayern und Lothringen für Preußen vorsah. Kurland, Livland und Estland sollten ebenfalls an Preußen, Litauen an Sachsen fallen; dieses Königreich bevorzugte in dieser Phase die Herrschaft über Litauen in einer Personalunion. Am 16. April einigten sich Wilhelm II. und Graf Hertling in Spa über die elsässisch-baltisch-litauische Kombination. König Ludwig III. erachtete diese Lösung für Bayern als ungenügend. In der Folgezeit gab es Diskussionen über weitere Projekte, an denen sich auch deutsche Mittelstaaten wie Baden, Sachsen und Württemberg beteiligten.

Angesichts der sich im Frühsommer weiter verschlechternden militärischen Lage und der Ergebnislosigkeit seiner bisherigen Mahnungen richtete Kronprinz Rupprecht am 1. Juni 1918 erneut einen dringenden Friedensappell an Reichskanzler Hertling, in dem er die Vorstellung eines 'Siegfriedens' ebenso wie die Annexion Belgiens ablehnte. Am 15. August 1918 beschloß nun auch der bayerische Ministerrat auf Vorschlag des Kriegsministers Philipp von Hellingrath (1862-1939), die Reichsregierung zum raschen Abschluss eines Verständigungsfriedens aufzurufen; nicht nur wegen der sich verschlechternden militärischen Situation, sondern auch, weil sonst eine Friedensinitiative durch den Reichstag und damit eine fortschreitende Parlamentarisierung des Reiches drohte. Entsprechend versuchte der Auswärtige Bundesratsausschuss, auf einen schnellen Friedensschluss hinzuwirken, doch entzog sich Reichskanzler Hertling dem Drängen. Alle Warnungen aus München verhallten ungehört, der Zusammenbruch des Kaiserreichs, wie das Ende der Monarchie in Bayern im November 1918, waren die Folge.

Forschungsstand und Quellenlage

Die Auseinandersetzung um die deutsche Kriegszielpolitik und damit verbunden um die Auslösung des Ersten Weltkriegs begann in Bayern bereits mit der Veröffentlichung von Dokumenten der bayerischen Gesandtschaft in Berlin durch Kurt Eisner (USPD, 1867-1919), welche die deutsche Kriegsschuld belegen sollte. Dadurch wurden eine heftige Kontroverse und weitere Quellenpublikationen ausgelöst. Die Debatte erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt mit der Fischer-Kontroverse in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Zu diesem Komplex erschien eine Fülle von Darstellungen.

Als Quellen stehen vor allem der Briefwechsel König Ludwigs III. mit Kronprinz Rupprecht im Geheimen Hausarchiv München zur Verfügung. Außerdem können die Kriegstagebücher Kronprinz Rupprechts herangezogen werden. Die Position der bayerischen Regierung findet sich im Bestand des K.B. Staatsministeriums des Königlichen Hauses und des Äußeren im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, darunter der edierte Briefwechsel zwischen Graf Hertling und dem bayerischen Gesandten in Berlin Graf Lerchenfeld.

Literatur

  • Dieter Albrecht, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1871-1918), in: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV/1 Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart, begründet v. Max Spindler, hg. v. Alois Schmid, München Zweite Auflage 2003, 318-438.
  • Karl-Ludwig Ay, Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkrieges (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 1), Berlin 1968.
  • Willy Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918. Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912-1918, Berlin 1968.
  • Alfons Beckenbauer, Ludwig III. von Bayern 1845-1921. Ein König auf der Suche nach seinem Volke, Regensburg 1987.
  • Ernst Deuerlein, Der Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten 1870-1918, Regensburg 1955.
  • Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf Dritte Auflage 1967 [Nachdruck 1979].
  • Karl Heinz Janßen, Macht und Verblendung. Kriegszielpolitik der deutschen Bundesstaaten 1914/18, Göttingen 1963.
  • Stefan März, Das Haus Wittelsbach im Ersten Weltkrieg. Chance und Zusammenbruch monarchischer Herrschaft, Regensburg 2013.
  • Kurt Sendtner, Rupprecht von Wittelsbach Kronprinz von Bayern. Auf Anregung und unter Förderung und Mitarbeit von Dr. Otto Kolshorn. Mit Auszügen aus persönlichen Aufzeichnungen und einem Schlußkapitel von Kronprinz Rupprecht von Bayern, München 1954.
  • Dieter J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869-1955). Eine politische Biografie, Regensburg 2007.

Quellen

Archivalische Quellen

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Ministerium des Äußern [Auswahl]

  • 944, 945 (Berichte des Legationsrats Leopold Krafft von Dellmensingen)
  • 964 (Politische Reisen Graf Hertlings)
  • 975 (Aktenstücke zum Kriegsausbruch)

Geheimes Hausarchiv München (GHA) [Auswahl]

  • Nachlaß König Ludwig III. von Bayern (NL LIII) 59 (Briefe Kronprinz Rupprechts)
  • Nachlaß Kronprinz Rupprecht von Bayern (NL KPR) 427 (Briefe König Ludwigs III.), 639 (Belgische Frage), 648 (Briefwechsel mit Georg von Hertling)

Gedruckte Quellen

  • Ulrich Cartarius (Hg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg. Texte und Dokumente 1914–1918, München 1982.
  • Ernst Deuerlein (Hg.), Briefwechsel Hertling-Lerchenfeld 1912-1917 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 50/I,II), 2 Teile., Boppard am Rhein 1973.
  • Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, hg. v. Karl Bosl, Bd. 2 (Die bayerische Staatlichkeit), unter Mitwirkung von Werner K. Blessing bearb. v. Rolf Kiessling u. Anton Schmid, München 1976.
  • Münchner Neueste Nachrichten Nr. 285 vom 7.6.1915.
  • Kronprinz Rupprecht von Bayern, In Treue fest. Mein Kriegstagebuch, hg. v. Eugen von Frauenholz, 3 Bde., München 1928/29.

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Empfohlene Zitierweise

Dieter J. Weiß, Kriegszielpolitik Bayerns (Erster Weltkrieg), publiziert am 05.06.2025; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Kriegszielpolitik_Bayerns_(Erster_Weltkrieg)> (22.06.2025)

Bayerische Kriegszielpolitik