Trümmerliteratur
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Ulrich Dittmann (†)
Der Begriff "Trümmerliteratur" (auch Kriegs-/Heimkehrerliteratur, "Kahlschlagliteratur" bzw. "Literatur der Stunde Null") bezeichnet eine deutsche literarische Epoche. Die Autoren sind von den Erfahrungen der Rückkehr aus dem Krieg bzw. der direkten Nachkriegsgesellschaft geprägt. In ihren Werken schildern sie ein möglichst realistisches Bild der Nachkriegs-Welt und ihrer Kriegserlebnisse.
Einführung
Der Begriff "Trümmerliteratur" (auch Kriegs-/Heimkehrerliteratur, "Kahlschlagliteratur" bzw. "Literatur der Stunde Null") bezeichnet eine deutsche literarische Epoche, die sich über eine relativ kurze Zeitspanne (1945 bis zum Beginn der 1950er Jahre) erstreckte und die nicht mit dem Begriff "Nachkriegsliteratur" gleichzusetzen ist (Zeit bis Mitte der 1960er Jahre). Die Autoren der "Trümmerliteratur" waren oft selbst aus dem Krieg heimgekehrt oder aber Beobachter dieses Prozesses. Der Begriff spiegelt dabei wider, was sie bei ihrer Rückkehr in die Heimat vorfanden, nämlich Trümmer - sowohl äußerlich (Ruinen) als auch innerlich (seelische Verfassung, zerstörte Ideale und Werte). Die Kritiker dieser literarischen Schöpfung verwendeten den Begriff "Trümmerliteratur" in abwertendem Sinne. Die Autoren der "Trümmerliteratur" waren bestrebt, ein möglichst realistisches Bild der Nachkriegs-Welt zu zeichnen und ihre Kriegserlebnisse zu schildern. Dies schlug sich auch in ihrer Sprache nieder, die schlicht gehalten und von der ideologischen Prägung der NS-Zeit befreit wurde. Da die Sprache der Prosa vielen als durch die NS-Zeit verunglimpft galt, entstanden zahlreiche lyrische und epische Werke, insbesondere Kurzgeschichten, Sonette und Satiren. Man grenzte sich demnach bewusst von vorigen literarischen Epochen ab. Zu den Autoren zählen u. a. Heinrich Böll (1917-1985), Wolfgang Borchert (1921-1947), Wolfgang Koeppen (eigentlich Wolfgang Köppen, 1906-1996) und Günter Eich (1907-1972). Wesentlich für das literarische Schaffen ist die Gruppe 47. Mit fortschreitendem Wiederaufbau der Städte und zunehmender Distanz zum Kriegsgeschehen, auch mit der Distanzierung einiger Autoren der "Trümmerliteratur" von ihren eigenen Werken, trat diese in den 1950er Jahren zunehmend in den Hintergrund.
Begriff
Unter den literarischen Gattungsbegriffen, die Texte nach poetischen Motiven sortieren (z. B. Mondgedichte, Kriegsromane etc.), hat Trümmerliteratur eine Sonderstellung: Historisch ist der Begriff auf eine sehr kurze Phase beschränkt. Er besitzt eher einen polemisch-programmatischen als deskriptiven Charakter und fehlt wohl deswegen in einschlägigen Literatur-Lexika. Doch belegen Parallelbegriffe wie Trümmerfilm, Trümmerästhetik, Trümmerzeit (ihr galt 1984 eine große Ausstellung in München!) und Trümmerlyrik seine Relevanz. Außerliterarisch findet sich der Begriff der sogenannten Trümmerfrauen.
Vertreter und inhaltliche Ausrichtung
Die Texte der Trümmerliteraten richten sich gegen Sprache und Literatur der vor 1945 geschriebenen Bücher, einschließlich der Literatur der 1920er Jahre: Sie wurde als "Kalligraphie" – "eine rein ästhetische Wortformkunst" – von Gustav Rene Hocke (1908-1985) in der in München erscheinenden Zeitschrift "Der Ruf" (Novemberausgabe 1946) angeprangert. "Man sieht die Dinge, wie sie sind, und bezeichnet offen und ohne Arabesken, was man am Rande der Wege und Ruinen findet", formuliert Hocke. Im Rückblick des Philologen ist die neue Sprache "eine idealisierte Umgangs- und Alltagssprache, die durch die stilistischen Merkmale: Parataxe, Sprechstil, Ellipsen, Inversion, sukzessive Präzisierung und Anakoluth gekennzeichnet ist" (t + k –Band zur Gruppe 47, S. 81).
Angefüllt mit den Kriegserfahrungen, verstand man den Mai 1945 als sogenannte Stunde Null und glaubte zusätzlich an die Möglichkeit eines totalen Neuanfangs nach den Jahren der "Sklavensprache". Man setzte auf eine "wahre, realistisch lapidare Ausdrucksweise", eine Schreibweise des bloßen Benennens. Obwohl "das 'nackte Sprechen' sich durchaus als Antithese zur Lyrik" versteht (Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, hg. v. W. Barner, 77), gilt ein viel zitiertes Gedicht, das in seiner Lakonik, seiner einfachen Wortwahl und den Wortwiederholungen als d e r kanonische Text der Trümmerliteratur: Günter Eichs "Inventur", erstmals in der von Hans Werner Richter (1908-1993) 1947 herausgegebenen Anthologie "Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener". War in entsprechenden Werken vor 1945 immer wieder auch der militärische Rang von Verfassern angegeben, so hier das jeweilige Gefangenenlager quer durch Europa und die USA. Eichs Gedicht konstatiert den Rest an Eigentum als Gefangener in sieben ungereimt rhythmisierten Vierzeilern. Die Anfangsstrophen lauten:
"Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt."
Die wichtigste programmatische Erklärung des Begriffs lieferte, nur scheinbar zu spät, Heinrich Böll (1917-1985) in seinem "Bekenntnis zur Trümmerliteratur" (erschien Mai 1952 in "Die Literatur"). Böll stellt den Begriff synonym neben Kriegs- und Heimkehrerliteratur und wehrt Einwände gegen Trümmer als literarisches Motiv ab, indem er auf die Epen Homers verweist, die auch schon "Kriegs–, Trümmer–, und Heimkehrerliteratur" gewesen seien. Zugleich argumentiert er:
- gegen einen eskapistischen Literaturgeschmack: Literatur soll den Leser nicht in die Idylle entführen, sie soll sich, in Worten von Hans Werner Richter, "dem äußeren Bild jener Landschaft" widmen, "deren Profil von den Ruinen und Trümmern der großen Städte gezeichnet ist".
- gegen die Frage nach der Aktualität: Aufgrund der schon 1952 mit Beginn des Wirtschaftswunders wiederentstehenden Bauten verlieren die Trümmer nur scheinbar an Bedeutung; in den Neubauten erkennt Böll vor allem Verwaltungen, die kaum der Not der Menschen abhelfen. Die "Zerstörungen in unserer Welt [sind] nicht nur äußerer Art und nicht so geringfügiger Natur, dass man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen." Dazu noch einmal Hans Werner Richter: "Der moralische, geistige und sittliche Trümmerhaufen, den ihr [der neuen Generation] eine wahrhaft <verlorene> Generation zurückgelassen hat, wächst ins Unermeßliche und erscheint größer als jener real sichtbare."
Das heißt, die Trümmerliteratur strahlte weit in die 1950er Jahre hinein, wenn auch nicht mehr in geübter Strenge; Bölls "Irisches Tagebuch", das zur Reiseliteratur als einer wichtigen Trümmer-Literaturform gehört, erschien 1957.
Im Nachhinein hat Wolfgang Frühwald (geb. 1935) mit der von ihm zitierten Publikumsstatistik sowie einer kritischen Autorität die literarische Geltung und Qualität der "Gattung" in Frage gestellt (in: Friedrich Prinz [Hg.], Trümmerzeit in München, München 1984). Eine derartige Abwertung verfehlt jedoch nicht nur den zeitgeschichtlichen Zeugniswert dieser kurzlebigen Gattung, sondern auch das anhaltende Interesse dafür: Eichs Gedichte und Bölls "Trümmererzählungen" bleiben im literarischen Kanon. Böll wurde laut der repräsentativen Literaturgeschichte von Ludwig Fischer zum "klassischen Erzähler und Schulbuchautor". Die Werke der Trümmerliteraten haben sich gegen anfänglichen Überdruss an Kriegserinnerungen und die wandelnden Geschmäcker als Dokumente einer engagierten Literatur behauptet.
Hinzu kommt, dass wenige Phänomene so ergiebig für literatursoziologisches Interesse sind wie die in Bayern gegründete und dort zumeist tagende Gruppe 47, zu der die Trümmerliteraten mehrheitlich gehörten: Sie waren, wie im Sonderband von text + kritik zur Gruppe 47 zu lesen ist, "mit wenigen Ausnahmen, literarische Novizen und mußten ihren individuellen Stil erst noch finden. Erschwert wurde der Start durch die Notwendigkeit der Sprachreinigung, durch den Glauben, voraussetzungslos beginnen zu müssen."
Die für Trümmerliteraten festgestellte "Mißachtung des erzählenden Romans" (Walter Jens), die sich in der Fülle seinerzeit erschienener Reisebeschreibungen spiegelt – Tatsachen statt Fiktion – ließen Kurzgeschichten, z. T. auch nach dem Vorbild der short story Hemingways u. a., und Gedichte zu den häufigst vertretenen Dichtarten der Trümmerliteratur werden. Eben diesen beiden Gattungen gilt auch Wolfgang Weyrauchs (1904-1980) programmatisches Nachwort zur repräsentativen Sammlung mit dem zeittypisch lakonischen Titel: "Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten" (1949), neu aufgelegt 1989 mit dem Untertitel "Ein deutsches Bekenntnis aus dem Jahr 1949" und der Aufzählung der wichtigsten Namen: "Alfred Andersch, Marieluise Fleißer, Walter Kolbenhoff, Ernst Kreuder, Luise Rinser, Gustav Schenk, Ernst Schnabel, Günther Weisenborn u. a.".
Literatur
- Georg Böhringer, Die Zeitschriften-Landschaft in München 1945-1949, in: Friedrich Prinz (Hg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945-1949, München 1984, 261-268 und 439-444. (mit Verzeichnis)
- Hansjörg Gehring, Amerikanische Literaturpolitik in Deutschland 1945-1953. Ein Aspekt des Re-Education-Programms (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32), Stuttgart 1976.
- Gerhard Hay, Literarische Positionen im München der Nachkriegszeit, in: Friedrich Prinz (Hg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945-1949, München 1984, 209-219.
- Jost Hermand (Hg.), Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945-49. 2 Bände (Literatur im historischen Prozeß), Berlin 1982/1983.
- Dieter Hoffmann, Arbeitsbuch Deutschsprachige Prosa seit 1945. 2 Bände, Tübingen/Basel 2006.
- Ingrid Laurien, Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945-1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit (Europäische Hochschulschriften 3/502), Frankfurt am Main u .a. 1991. [Diss, Grebing, Göttingen]
- Anke-Marie Lohmeier, Zeitschriftenkultur in den Westzonen zwischen Kriegsende und Währungsreform, in: Günter Häntzschel (Hg.), Neue Perspektiven der deutschen Buchkultur in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein Symposion, Wiesbaden 2003, 13-28.
- Irmela von der Lühe, Verdrängung und Konfrontation - die Nachkriegsliteratur, in: Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hg.), Der Nationalsozialismus - Die zweite Geschichte. Überwindung - Deutung - Erinnerung, München 2009, 243-260.
- Ernestine Schlant, Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust, München 2001.
- Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart/Weimar 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2003.
- Alfons Schweiggert/Hannes S. Macher (Hg.), Autoren und Autorinnen in Bayern. 20. Jahrhundert, Dachau 2004.
- Volker Wehdeking, Anfänge westeutscher Nachkriegsliteratur. Aufsätze, Interviews, Materialien (Rader Publikationen), Aachen 1989.
- Reinhard Wittmann, Auf geflickten Straßen. Literarischer Neubeginn in München 1945 bis 1949 (Monakzente 2), München 1995.
Externe Links
Weiterführende Recherche
Kahlschlagliteratur Kriegsliteratur Heimkehrerliteratur Literatur der Stunde Null
Empfohlene Zitierweise
Ulrich Dittmann, Trümmerliteratur, publiziert am 03.05.2016; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Trümmerliteratur> (18.09.2024)