Heilig Blut (Gisela Elsner, 2007)
Aus Historisches Lexikon Bayerns
"Heilig Blut" ist ein Roman der lange Zeit nur wenig wahrgenommenen Autorin Gisela Elsner (1937-1992). Der Titel des Romans verweist auf den Ort der Handlung, bei dem der Marienwallfahrtsort Neukirchen beim Heiligen Blut in der Oberpfalz als Vorbild diente. Dort macht sich eine vierköpfige Herrenrunde auf, um ausgebrochene Wölfe zu jagen, wobei sich ein Unfall ereignet, bei dem ein Beteiligter zu Tode kommt.
Autorin
Gisela Elsner (1937-1992) wurde am 2. Mai 1937 in Nürnberg geboren. Sie studierte Germanistik und Theaterwissenschaft und veröffentlichte 1964 ihr Romandebüt "Die Riesenzwerge", das zu einem der aufsehenerregendsten Werke der bundesdeutschen Literatur der 1960er Jahre avancierte. Gisela Elsner lebte u. a. in Rom, London, Paris und New York. Neben der Veröffentlichung von zahlreichen literarischen Texten, der Teilnahme an Tagungen der Gruppe 47 und der Mitarbeit in der Dortmunder Gruppe 61 engagierte sie sich auch lange Zeit politisch in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Für ihr Werk erhielt sie u. a. den Prix Formentor, den Gerrit-Engelke-Literaturpreis und den Preis der Stadt Nürnberg. Am 13. Mai 1992 nahm sich Gisela Elsner in München das Leben. Ihre Lebensgeschichte brachte ihr Sohn Oskar Roehler (geb. 1959) im Jahr 2000 unter dem Titel "Die Unberührbare" und mit der nicht verwandten Schauspielerin Hannelore Elsner (geb. 1942) in der Hauptrolle in die Kinos.
Entstehungsgeschichte
Gisela Elsners Roman "Heilig Blut" erschien erstmals 1987 in russischer Übersetzung im Moskauer Raduga-Verlag. Vorangegangen waren eine Ablehnung des deutschsprachigen Manuskripts durch den Rowohlt Verlag, der alle Rechte an seine einstige Haus-Autorin zurückgab, und gescheiterte Verhandlungen mit dem Damnitz Verlag. Da sich auch der Zsolnay Verlag 1991 nicht zu einer Publikation durchringen wollte, kam es erst 2007 im Rahmen der Werkausgabe des Verbrecher Verlags zur deutschsprachigen Erstausgabe. Als Herausgeberin fungierte dabei die Germanistin Christine Künzel; Textgrundlage bildete das Manuskript letzter Hand. Ein kürzerer Ausschnitt des Romans erschien hingegen schon 1983 in der Literaturzeitschrift "Schreibheft" sowie 1991 in dem von Julia Bachstein herausgegebenen Band "Das Buch der geheimen Leidenschaften".
Inhalt
Der Roman schildert den Winterurlaub einer vierköpfigen Herrenrunde, die sich in einer abgelegenen Jagdhütte in der Nähe eines Wallfahrtsorts mit Namen Heilig Blut im Bayerischen Wald einfindet. Zur Runde gehören der ehemalige Sparkassenzweigstellenleiter Hächler, der Fußmattenfabrikant Lüßl, der pensionierte Landrat Glaubrecht sowie der noch etwas jüngere Gebrauchsgraphiker Gösch, der seinen reiseunfähigen Vater vertritt. Die alten Herren sind sich durch ihre Kriegskameradschaft und eine kaum kaschierte nazistische Grundgesinnung verbunden, was sie jedoch nicht davon abhält, in wechselnden Konstellationen gegeneinander zu intrigieren und sich gegenseitig für ihre körperlichen und geistigen Gebrechen zu verachten. Weitgehend einig sind sich die drei allerdings in der Ablehnung des lethargischen Gösch, der durch seinen beruflichen Misserfolg und seine Wehrdienstverweigerung ihr tiefes Missfallen erregt. Unwillig begleitet Gösch die Gruppe auf ihren ausgedehnten Wanderungen und Jagdstreifzügen im Umland, die für die passionierten Schützen erst richtig interessant zu werden beginnen, als durch ein Versehen einige Wölfe aus einem Wildgehege in die Freiheit entrinnen und fortan die Gegend unsicher machen. Die alten Herren müssen ihr ausbrechendes Jagdfieber allerdings im Zaum halten und sich auf die Suche nach dem ortsansässigen Unternehmer Ockelmann machen, der sich in selbstmörderischer Absicht in die verschneiten Wälder aufgemacht hat. In tagelangen Gewaltmärschen folgt die Gruppe erfolglos den Spuren des lebensmüden Freundes, bis plötzlich einer der entlaufenen Wölfe Gösch anzufallen droht und Lüßl in einem überhasteten Rettungsversuch statt des wilden Tiers den jüngeren Begleiter erschießt. Aus Furcht vor den strafrechtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen überredet Lüßl seine Kameraden, Göschs Leiche heimlich verschwinden zu lassen und die Tat vor der Polizei zu vertuschen. Allein die herbeigeeilte Ehefrau Göschs schenkt ihren Aussagen keinen Glauben und macht sich in einem Akt der Verzweiflung im Alleingang auf die aussichtslose Suche nach dem verschwundenen Ehemann, während die drei alten Herren gänzlich unbehelligt die Heimreise antreten dürfen.
Heilig Blut und der Bayerische Wald
Wie Bernhard Setzwein (geb. 1960) in einem Beitrag für den Bayerischen Rundfunk aufzeigte, diente der Marienwallfahrtsort Neukirchen beim Heiligen Blut (Lkr. Cham) als Vorbild für den Ort Heilig Blut des Romans. Am Fuße des Hohenbogen und nahe der tschechischen Grenze gelegen, wurde Neukirchen beim Heiligen Blut vor allem durch eine auch im Roman geschilderte Legende bekannt, der zufolge in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts dort einer Marienfigur von einem Hussiten der Kopf gespalten wurde, worauf sich Blut aus dem zerschlagenen Haupt ergoss. Darüber hinaus werden im Text auch noch mehrere andere Orte genannt, die sich tatsächlich in der näheren Umgebung von Neukirchen beim Heiligen Blut befinden, etwa Viechtach und Zwiesel (Lkr. Regen). Nicht alle im Text erwähnten Orts- und Flurnamen besitzen jedoch ein reales Pendant im Bayerischen Wald, so beispielsweise das Dorf Hundshaupten (Gde. Egloffstein, Lkr. Forchheim), das in Oberfranken liegt (und ein großes Wildgehege aufweist), oder der Hohe Zant (Gde. Ursensollen, Lkr. Amberg-Sulzbach), der in der Oberpfalz zu finden ist. In ihrer literarischen Beschreibung zeichnet Gisela Elsner ein insgesamt wenig schmeichelhaftes Bild des Orts Heilig Blut und seiner Umgebung. Das Dorf erscheint als abgelegener und trostloser Ort in einem der hintersten Winkel Bayerns, dessen spärliche landschaftliche Reize als wenig eindrucksvoll dargestellt werden. Seine bigotten und Fremden gegenüber feindseligen Bewohner, aus denen lediglich korrupte Geistliche und entlaufene Sittlichkeitsverbrecher herausstechen, beschäftigen sich größtenteils mit der in Heimarbeit erfolgenden Produktion von Rosenkränzen, da weder Industrie noch Fremdenverkehr nennenswerte alternative Erwerbsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Der für den Bayerischen Wald so prägende Massentourismus, der historisch bereits in den 1950er Jahren einsetzte und durch die Gründung des Nationalparks im Jahr 1970 einen bedeutenden Aufschwung erlebte, hat im literarischen Heilig Blut also kaum Spuren hinterlassen.
Rezeption
Die deutschsprachige Erstveröffentlichung von "Heilig Blut", die erst 15 Jahre nach dem Tod der Autorin zustande kam, wurde von der Literaturkritik überaus interessiert und mit vorwiegend positiven Urteilen aufgenommen. Auf "Spiegel Online" ("Kot-Geburt und Männermeute", 30. April 2007) las Gabriele Meierding den Roman als eine "Abrechnung mit der unbelehrbaren Vätergeneration", die Gisela Elsner jene Anerkennung einbringen werde, die ihr in den vergangenen Jahrzehnten oftmals verwehrt wurde. Annika Nickenigs Rezension für "literaturkritik.de" ("Homo homini lupus", 25. April 2007) rückte ebenfalls das Fortleben des nationalsozialistischen Erbes in den Mittelpunkt, verweise doch das Verschwindenlassen von Göschs Leiche "en miniature, in grotesker Verschiebung, auf die planmäßig ausgeführten großen Verbrechen der nahen Vergangenheit". In ihrer Kritik für das "Deutschlandradio" ("Ritual mit 'Neigung zur Unmenschlichkeit'", 2. Mai 2007) bezeichnete Carola Wiemers die Autorin als "Meisterin grotesken Stils", die mit "Heilig Blut" in grandioser Weise den Anschluss an ihr Romandebüt "Die Riesenzwerge" geliefert habe. Willi Winkler zog in der "Süddeutschen Zeitung" ("Höhe des Deutschlandekels", 2. Mai 2007) eine Parallele zum Frühwerk Thomas Bernhards (1931-1989) und mutmaßte sogar, dieser "wäre neidisch gewesen auf dieses bösartige kleine Buch". Die Veröffentlichung von "Heilig Blut" im Jahr 2007 stellt insgesamt ein Indiz für ein auflebendes Interesse am Gesamtwerk Gisela Elsners dar, wovon etwa auch das im selben Jahr im Literaturhaus München veranstaltete literaturwissenschaftliche Symposium mit dem Titel "'Ich war die erste Frau, die eine Satire schrieb': Das Werk der Autorin Gisela Elsner im Kontext einer literarischen Kultur der Satire zwischen 1960 und 1989" zeugt.
Literatur
- Gerhard Armanski, Fränkische Literaturlese. Essays über Poeten zwischen Main und Donau, Würzburg 1998.
- Elsner, Gisela, in: Kurt Böttcher u. a. (Hg.), Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller. 2. Band, Hildesheim/Zürich/New York 1993, 166.
- Elsner, Gisela, in: Manfred Brauneck (Hg.), Autorenlexikon deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben unter Mitarbeit von Wolfgang Beck, Reinbek bei Hamburg 1988, 157-158.
- Christine Künzel (Hg.), Die letzte Kommunistin. Texte zu Gisela Elsner (Konkret Texte 49), Hamburg 2009.
- Christine Künzel, Gisela Elsner: Die Riesenzwerge (1964), in: Claudia Benthien/Inge Stephan (Hg.), Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2005, 93-109.
- Toni Meissner, Gisela Elsner (2.5.1937-13.5.1992). Die Riesen-Zwergin, in: Alfons Schweiggert/Hannes S. Macher (Hg.), Autoren und Autorinnen in Bayern. 20. Jahrhundert, Dachau 2004, 306.
- Carola Opitz-Wiemers, "Vom Heulen der Wölfe und des Windes". Gisela Elsners postum erschienener Roman "Heilig Blut", in: Martin Hellström/Edgar Platen (Hg.), Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur (V), München 2008, 166-176.
Quellen
- Christine Künzel, Editorische Notiz, in: Christine Künzel (Hg.), Gisela Elsner, Heilig Blut, Berlin 2007, 233-237.
- Christine Künzel, Jagdszenen im Bayerischen Wald. Ein Nachwort, in: Christine Künzel (Hg.), Gisela Elsner, Heilig Blut, Berlin 2007, 239-250.
Weiterführende Recherche
Externe Links
Empfohlene Zitierweise
Markus Wiefarn, Elsner, Gisela: Heilig Blut, 2007, publiziert am 16.08.2011; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Elsner,_Gisela:_Heilig_Blut,_2007 (5.12.2024)