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Sturz Herzog Tassilos

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Version vom 15. Dezember 2022, 16:57 Uhr von imported>Heitmeieri
Gedenkstein für Herzog Tassilo III. aus dem 15. Jahrhundert an der Stiftskirche von Mattsee (Österreich) mit der Inschrift: Anno Domini DCCLXXVII. Tassilo dux primum post rex monachus sed ad ymum. idibus in ternis discesserat iste decembris. "... Tassilo, zuerst Herzog, dann König, schließlich aber Mönch. Er starb am 11. Dezember". Die Inschrift soll vom Grab Herzog Tassilos in Lorsch stammen und ist dort bis ins 12./13. Jahrhundert zurückzuverfolgen (Foto: Irmtraut Heitmeier)

von Matthias Becher

Die Herrschaft Herzog Tassilos III. über Bayern endete im Jahr 788. Im Sommer war er nach Ingelheim (Rheinland-Pfalz) aufgebrochen, um an einer Reichsversammlung seines Vetters, des Frankenkönigs Karls des Großen, teilzunehmen. Während dieser Zusammenkunft kam es zu einem Prozess gegen den Herzog, der wegen Untreue abgesetzt und in Klosterhaft genommen wurde. Wie ein Vergleich der Überlieferung deutlich macht, handelte es sich um einen Schauprozess, dessen Ausgang von vornherein feststand; die Vorwürfe dienten allein dem Ziel, die königsgleiche Herrschaft Tassilos in Bayern zu beenden. Damit war für Karl den Großen der Weg frei, um Bayern seinem Reich einzugliedern.

Vorgeschichte

Tassilos königsgleiche Stellung

Wie war es zu dem Prozess gekommen und warum wählte Karl (748-814, reg. 768-814, ab 800 Kaiser) ein juristisches Verfahren, um den Herzog auszuschalten? Bis 788 hatte Tassilo (ca. 741-ca. 796, reg. 748-788) völlig autonom über Bayern geherrscht, obwohl das Land formal zum Frankenreich gehörte. Er übte etwa die Hoheit über die bayerische Kirche aus, förderte das Christentum durch die Gründung neuer Klöster und sorgte für die Ausbreitung des Glaubens, indem er die benachbarten Karantanen unterwarf und missionieren ließ. Weiter pflegte Tassilo gute Beziehungen zu den benachbarten Mächten. Seine Gemahlin Liutbirg (vor 750-nach 788) war eine Tochter des Langobardenkönigs Desiderius (gest. nach 786, reg. 757-774) und Arichis, der Fürst von Benevent (ca. 743-787, reg. 758-787), war sein Schwager. Seine Kusine väterlicherseits, Hildegard (ca. 758-783), war seit 771 mit Karl dem Großen vermählt und garantierte daher die guten Beziehungen des Herzogs zum Frankenkönig. Mit diesem war Tassilo überdies selbst eng verwandt, da seine Mutter Hiltrud eine Tante Karls war. Tassilo erreichte sogar, dass der Papst im Jahr 772 seinen Sohn und künftigen Erben Theodo (ca. 770-793) taufte. Damit erkannte die höchste Autorität der Christenheit Tassilos Stellung als nahezu königsgleicher Herzog an.

Das Verhältnis zu Karl dem Großen und die Rolle des Papstes

Seitdem Karl der Große allerdings ab 774 auch König der Langobarden war und damit Nord- und Mittelitalien beherrschte, war der Papst politisch allein von ihm abhängig. Während Karls zweitem Romaufenthalt 781 erreichte der Frankenkönig, dass Papst Hadrian (reg. 772-795) und er eine gemeinsame Gesandtschaft nach Bayern schickten, die Tassilo dazu aufforderte, zur (angeblich gebrochenen) Treue gegenüber dem Frankenkönig zurückzukehren. Der Bayernherzog bestand indes auf persönlichen Verhandlungen mit seinem königlichen Vetter und setzte zudem durch, dass dieser ihm Geiseln stellte. Erst dann reiste er nach Worms und versicherte Karl seiner Loyalität, konnte aber allem Anschein nach seine autonome Stellung wahren. Als Königin Hildegard 783 verstarb, verschlechterten sich die Beziehungen der beiden Vettern zusehends. Bereits ein Jahr später kam es zu ersten militärischen Auseinandersetzungen im Alpenraum. Als Karl 787 erneut nach Rom gezogen war, bemühte sich Tassilo um eine Vermittlung des Papstes und entsandte Bischof Arn von Salzburg (reg. 785-821) und Abt Hunrich von Mondsee (784-ca. 800) an den Tiber. Karl verlangte jedoch einen sofortigen Friedensschluss, weil er vermutlich wusste, dass Arn und Hunrich dafür keine Vollmacht besaßen. Ihre Weigerung nahm Papst Hadrian als Beweis für die Unaufrichtigkeit von Tassilos Absichten und forderte nun unter Androhung des Anathems, das heißt des Kirchenbanns, dieser solle einlenken. Sollte Tassilo sich weigern, sei Karl im Kriegsfall von jeder Sünde frei, der Bayernherzog aber habe die Verantwortung für die Folgen einer bewaffneten Auseinandersetzung zu tragen.

Tassilos Unterwerfung und die Inszenierung seines Sturzes

Auf dieses Ultimatum folgte der eigentliche Sturz des Herzogs. Über die Vorgänge erfahren wir ausschließlich aus mehreren zeitgenössischen Geschichtswerken, deren Berichte allerdings teilweise sehr stark voneinander abweichen, was wichtige Einblicke auf die Wahrnehmung des Geschehens durch die Zeitgenossen und damit auf dieses selbst erlaubt.

Die Darstellung der Reichsannalen als Hauptquelle

Nach seiner Rückkehr aus Rom marschierte Karl noch im Jahr 787 mit drei Heeren in Bayern ein. Tassilo unterwarf sich auf dem Lechfeld bei Augsburg, leistete einen Treueid und nahm sein Herzogtum vom König zu Lehen. Als Sicherheit stellte er zwölf vornehme Geiseln und zusätzlich seinen Sohn Theodo. Als Zeichen dieser engen Bindung an das Frankenreich nahm Tassilo ein Jahr später an einer großen Reichsversammlung in Ingelheim teil, in deren Verlauf Anklage gegen ihn erhoben wurde. Die Hauptquelle für dieses Geschehen sind die sog. Reichsannalen, die um 790, also kurze Zeit nach den Ingelheimer Ereignissen, am Hof Karls des Großen abgefasst wurden. Ihre Darstellung ist sehr einseitig und gibt die Auffassung Karls und seiner Berater über den Prozess gegen den Bayernherzog wieder:

"Da versammelte König Karl einen Reichstag auf dem genannten Hofgut Ingelheim, dorthin kam Tassilo auf Weisung des Königs wie auch seine anderen Vasallen, und zuverlässige Bayern fingen an zu sagen, Tassilo halte sein Wort nicht, vielmehr erwies er sich nachher [nach seiner Unterwerfung von 787] auf Betreiben seiner Frau Liutbirg als eidbrüchig, nachdem er schon unter anderen Geiseln auch seinen Sohn gegeben und den Eid geleistet hatte. Das konnte auch Tassilo nicht bestreiten, sondern musste gestehen, dass er nachher Boten zu den Awaren geschickt, die Vasallen des genannten Königs [Karl] zu sich entboten und ihnen nach dem Leben getrachtet habe. Wenn seine Leute den Treueid ablegten, forderte er sie auf, eine andere Gesinnung festzuhalten und den Schwur arglistig zu leisten. Ja er bekannte sich sogar zu der Äußerung, auch wenn er zehn Söhne hätte, wollte er sie alle verderben lassen, ehe die Abmachungen gültig blieben und er zu dem stehe, was er beschworen habe. Nachdem all das gegen ihn erwiesen war, erinnerten sich die Franken und Bayern, Langobarden und Sachsen und die, die aus allen Provinzen auf dieser Versammlung zusammengekommen waren, an seine früheren Übeltaten und daran, wie er bei einem Heereszug den König Pippin verließ, was in der Volkssprache "harisliz" genannt wird. Daher verurteilten sie diesen Tassilo zum Tode. Während aber alle einstimmig ihm zuriefen, er solle das Todesurteil fällen, erreichte der genannte fromme König Karl voll Erbarmen aus Liebe zu Gott und weil er sein Blutsverwandter war, bei diesen Gott und ihm getreuen Männern, dass er nicht sterben musste. Und auf die Frage des genannten milden Königs, was sein Wunsch sei, bat Tassilo darum, sich scheren lassen, in ein Kloster eintreten und seine vielen Sünden bereuen zu dürfen, um seine Seele zu retten. Desgleichen wurde sein Sohn Theodo abgeurteilt, geschoren und ins Kloster gesteckt und einige Bayern, die in Feindschaft gegen König Karl verharren wollten, wurden verbannt" (Annales regni Francorum, a. 788, ed. Kurze, 80/82; siehe unten: Dokumente).

Dieser Bericht aus dem Umfeld Karls zeigt, wie sorgfältig der Sturz Tassilos in Form einer Gerichtsverhandlung inszeniert wurde, deren Ausgang von Anfang an feststand. Nicht der Frankenkönig, sondern "zuverlässige", also frankenfreundliche Bayern brachten Anklagen gegen ihren Herzog vor, deren Wahrheitsgehalt sich kaum noch überprüfen lässt. Ihr Vorgehen dürften sie mit dem König abgesprochen haben, wobei dieser während des gesamten Verfahrens weder als Ankläger noch als Richter auftritt, sondern erst ganz am Ende die Todesstrafe ablehnt und Tassilo auf dessen eigene Bitten hin in ein Kloster einweist. Karls Darstellung durch die Reichsannalen folgt also voll und ganz dem Ideal des milden Herrschers. Die Funktion des Richters übernahmen die versammelten Franken, Bayern, Langobarden und Sachsen, die ihn sogar zu einem Wiederholungstäter stempelten, indem sie einen 25 Jahre zurückliegenden Vorgang hervorholten: Tassilos Fahnenflucht in der Zeit von Karls Vater Pippin (ca. 714-768, König seit 751) während des Krieges gegen Aquitanien. Freilich war dieser Punkt äußerst konstruiert, denn weder Langobarden noch Sachsen hatten 763 zum Frankenreich gehört – sie konnten sich also eigentlich nicht an Tassilos damaliges Verhalten erinnern. Zudem hatte dieser Vorwurf, wenn er überhaupt zutraf, bisher in den Beziehungen Karls und Tassilos keine Rolle gespielt. Der König hatte in der Vergangenheit zwar stets darauf beharrt, Tassilo solle seine Treue halten, aber niemals den Vorwurf der Fahnenflucht erhoben. Wenn gerade sie jetzt zum zentralen Anklagepunkt stilisiert wurde, kann das nur bedeuten, dass dieser Vorwurf im Jahr 788 notwendig war, um Tassilo zum Tode verurteilen zu können.

Die Darstellung anderer Quellen

Vergleicht man den Bericht der Reichsannalen mit der Darstellung in anderen Quellen, so fallen weitere Ungereimtheiten auf. Auch diese Quellen sind auf fränkischer Seite entstanden, doch nicht im unmittelbaren Umfeld des Hofes.

Die Lorscher Annalen

Die Lorscher Annalen akzentuieren das Geschehen etwas anders als die Reichsannalen. Ihnen zufolge sei es erst im Verlauf der Ingelheimer Versammlung zu einer Missstimmung zwischen König und Herzog gekommen. Die Franken hätten sich der Umtriebe Tassilos und seiner Gemahlin in der vergangenen Zeit erinnert. Es waren demnach also nicht Bayern, die mit ihren Aussagen das Geschehen einleiteten, sondern die Franken selbst. Bayern kamen erst danach ins Spiel, denn nun seien Ratgeber und Vertraute Tassilos aufgetreten und hätten gegen ihren Herrn ausgesagt. Da dieser nicht habe leugnen können, hätten ihn die Franken zum Tode verurteilt. Nur der Milde des Königs verdankte Tassilo sein Leben. Auf eigene Bitten schickte ihn der König in den geistlichen Stand und wies ihn in ein Kloster ein (Annales Laureshamenses, a. 788, ed. Pertz, 33).

Die Annales Nazariani

Eine völlig andere Geschichte bieten die ebenfalls im Kloster Lorsch entstandenen Annales Nazariani: Nachdem Tassilo in Ingelheim erschienen sei, habe der König Boten nach Bayern zu Frau und Kindern des Herzogs gesandt. Die Boten brachten diese, Tassilos Schätze und die Angehörigen seines Hofes zum König. Erst danach ergriffen die Franken Tassilo, entwaffneten ihn und führten ihn vor Karl. Der König befragte seinen Vetter zu dessen Machenschaften und Anschlägen, die er zusammen mit vielen Völkern gegen ihn angestrengt habe. Tassilo konnte nicht leugnen. Karl verurteilte ihn daraufhin zum Scheren des Haares, womit die zwangsweise Einweisung in ein Kloster verbunden war. Tassilo bat den König, das Scheren möge wegen der damit verbundenen Schmach nicht öffentlich vollzogen werden. Daraufhin wurde er in St. Goar zum Mönch geschoren und anschließend in das Kloster Jumièges eingewiesen. Seine beiden Söhne Theodo und Theotpert (gest. nach 788) wurden ebenfalls geschoren und wie ihre Mutter Liutbirg ins Exil gebracht (Annales Nazariani, a. 788, ed. Pertz, 43f.).

Diese Darstellung enthält also wichtige Informationen, die in den Reichsannalen fehlen: Erst nachdem Karl die Familie und den Schatz Tassilos in seine Gewalt gebracht hatte, brach die Stellung des Herzogs zusammen. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde er verhaftet und von Karl verhört. Vermutlich wegen seiner nach der Verhaftung seiner Familie aussichtslosen Lage gestand der Herzog die ihm zur Last gelegten Vergehen. Auch tritt der König nicht hinter die Teilnehmer der Reichsversammlung zurück. Weder Bayern noch Franken klagen den Herzog an. Lediglich die Verhaftung Tassilos wird den Franken zugerechnet. Der König ist hier nicht der passive Herrscher, der schließlich nur das Begnadigungsrecht ausübt, sondern er spielt die entscheidende Rolle: Er verhört den Herzog und spricht das Urteil, das sogleich auf Tonsurierung und Einweisung in ein Kloster lautet. Ein bezeichnender Unterschied besteht auch bei dem Aspekt der Strafmilderung: Nicht etwa die Umwandlung eines Todesurteils in Klosterhaft wird erwähnt, sondern der Ausschluss der 'Öffentlichkeit' von der als entehrend empfundenen erzwungenen Haarschur.

Der Anklagepunkt "harisliz"- Fahnenflucht

Auffällig ist, dass ein Anklagepunkt weder in den Lorscher noch in den Murbacher Annalen genannt wird: der "harisliz", die Fahnenflucht, die der Herzog im Jahre 763 begangen haben soll. Tatsächlich enthalten die meisten Quellen zu diesem Jahr eine Lücke, und allein die Reichsannalen berichten über dieses Geschehen (Annales regni Francorum, a. 763, ed. Kurze, 20/22). Der Vorwurf des "harisliz" war also für den Hof und damit auch für den König besonders wichtig, während er in den anderen Geschichtswerken kaum eine Rolle spielte. Auch Karl selbst sah lange Zeit das Geschehen von 763 als nicht wirklich schwerwiegend an, denn sein Verhältnis zu Tassilo war über viele Jahre gut. Daher drängt sich die Frage auf, ob Tassilo dieser Vorwurf zu Recht gemacht wurde oder ob er während des Prozesses 788 nachträglich konstruiert oder zumindest übertrieben wurde, um seine Absetzung und sein Todesurteil rechtfertigen zu können.

Ingelheim 788: Ein Schauprozess

Kaiserpfalz Ingelheim: Digitale Rekonstruktion der Aula regia von innen, mit Blick in die Apsis. (Foto von ArchimediX GbR, Ober-Ramstadt lizensiert durch CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)
Die Aula regia in der Kaiserpfalz Ingelheim. (Unbekannter Fotograf, lizensiert durch CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Das ganze Verfahren von 788 war zweifellos ein Schauprozess. Mit ihm hatte Karl mehr Erfolg als mit dem militärischen Versuch der Einverleibung Bayerns im Jahr vorher. Tassilo hatte sich auf dem Lechfeld unterworfen und sein Herzogtum vom König zu Lehen genommen. Der stolze Herzog musste damit zwar eine ehrverletzende Erniedrigung akzeptieren, aber er hatte dem König die Grundlage für ein weiteres Vorgehen gegen ihn genommen: Die großangelegte Militäraktion, die doch wohl dem Erwerb Bayerns und nicht nur einem symbolischen Akt gedient hatte, wurde nicht fortgesetzt. Tassilo hatte sein politisches Überleben gesichert und mochte sich Hoffnungen machen, früher oder später seine autonome Stellung zurückzuerlangen.

Gerade das aber wollte Karl verhindern und inszenierte daher bei erstbester Gelegenheit den Prozess gegen seinen Vetter. Diese Gelegenheit bot sich ihm 788 in Ingelheim. Ob die gegen Tassilo vorgebrachten Anklagepunkte eines Bündnisses mit den Awaren und des Eidbruchs ganz oder teilweise zutrafen, wird man wohl nicht mehr ergründen können. Immerhin hatte Tassilo bis 787 wie ein König über Bayern geherrscht und mochte sich daher dazu berechtigt gefühlt haben, weiterhin Kontakte zu den Awaren zu pflegen. Er hätte sich auch im Recht fühlen können, einen gewaltsam erzwungenen Eid zu brechen. Doch dann wäre er wohl nicht in Ingelheim erschienen, sondern in seiner Heimat geblieben. Aus seinem subjektiven Empfinden heraus und nach allem, was wir über seine Verurteilung wissen, auch den objektiven Gegebenheiten nach war Tassilo also unschuldig.

Frankfurt 794: Der Verzicht

Das Schicksal Tassilos war mit seiner Absetzung 788 noch nicht erfüllt, und die Art und Weise, in der er danach nochmals öffentlich auftrat, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Prozess gegen ihn. Erneut sind es nicht die Reichsannalen, sondern die Lorscher Annalen, die das Geschehen während des Konzils von Frankfurt 794 ansprechen: "Und auf dieser Synode erschien Tassilo, versöhnte sich mit dem Herrn König und verzichtete auf alle Macht in Bayern, die er dem Herrn König übertrug" (Annales Laureshamenses, a. 794, ed. Pertz, 36). Außerdem haben sich auch die Konzilsakten erhalten, in denen Tassilos Auftritt eingehend, aber sicherlich aus Sicht des Königs geschildert wird: Demnach bat der ehemalige Herzog für alle Verbrechen um Verzeihung, die er treuebrüchig gegenüber Pippin und dem Reich der Franken sowie später gegenüber Karl begangen hatte. Dafür verzichtete er auf alle Rechtsansprüche und jeden Eigenbesitz am bzw. im Herzogtum Bayern für sich und seine Söhne und Töchter. Der gerührte König verzieh seinem Vetter großzügig dessen Schuld, gewährte ihm seine Gnade und nahm ihn in seine Liebe auf, damit er künftig in Gottes Barmherzigkeit sicher leben könne (Concilia aevi Karolini I, ed. Werminghoff, Nr. 19, 165f.).

Welchem Zweck diente das Auftreten Tassilos in Frankfurt, falls er bereits sechs Jahre zuvor rechtskräftig abgesetzt und verurteilt worden war? Nur Karl konnte ein Interesse an dieser Klärung besitzen, nachdem er in den Jahren zuvor Bayern in Besitz genommen hatte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in Frankfurt ein Schauspiel inszeniert wurde, mit dessen Hilfe die Entmachtung Tassilos nachträglich gerechtfertigt werden sollte. Nur der ehemalige Herzog, der sich seit sechs Jahren in Klosterhaft befand, konnte die Rechtsbeugungen des Ingelheimer Verfahrens nachträglich ungeschehen machen und so die Herrschaft Karls über Bayern legitimieren. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Tassilos angebliche Verbrechen und seine Verurteilung zum Tode hatten nicht ausgereicht, um ihn und seine Familie auf rechtmäßige Weise von der Herrschaft zu entfernen. Die Macht setzte sich 794 endgültig durch, indem dem Recht wenigstens nach außen hin genüge getan wurde.

Forschungsgeschichte

Ungeachtet eines bereits früh einsetzenden Bewusstseins für die einseitige Quellenlage (z.B. Giesebrecht 1865) wurde bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus die Diskussion zur Absetzung Herzog Tassilos wesentlich aus verfassungsgeschichtlicher Sicht geführt mit dem Ziel, die Rechtsgrundlagen seiner Verurteilung zu erfassen (z.B. Mitteis 1933/1974, 65 f.). Zentral war dabei die Frage, ob bereits Tassilos Eid von 757 mit einer vasallitischen Kommendation verbunden war oder ob diese erst 787 erfolgte; nur im ersten Fall war der "harisliz" als todeswürdiges Verbrechen einzustufen. Erst Peter Classen rückte 1977 das Quellenproblem in den Mittelpunkt und betonte, dass die Angaben der Reichsannalen zu Tassilo auf den Prozessakten von 788 oder auf einer nachträglichen Rechtfertigungsschrift beruhten, die der Annalist abschnittsweise seiner Darstellung Tassilos zugrunde gelegt habe, und begründete damit die Einsicht, dass es sich im Jahr 788 um einen politischen Schauprozess mit konstruierten Vorwürfen gehandelt habe. Diesen Ansatz verfolgte Becher 1993 weiter und wies nach, dass keiner der Berichte über Tassilo von Quellen bestätigt wird, die unabhängig von den Reichsannalen entstanden sind. Zunehmend verlagerte sich die Diskussion weg von den Fragen nach objektiven Verfehlungen Tassilos hin zur Frage nach der Konstruktion von Geschichte und der nachträglichen Gestaltung von Erinnerung, wie sie in den Reichsannalen exemplarisch vorliegt (z.B. in Kolmer/Rohr 2005).

Dokumente

Literatur

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  • Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 31), Wien/München 1995.
  • Herwig Wolfram, Tassilo III. Höchster Fürst und niedrigster Mönch (Kleine bayerische Biographien), Regensburg 2016.

Quellen

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Matthias Becher, Sturz Herzog Tassilos, publiziert am 21.11.2019; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Sturz_Herzog_Tassilos> (28.03.2024)