Liberalitas Bavarica
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Inschrift über dem Kirchenportal des Augustinerchorherrenstifts Polling aus dem 18. Jahrhundert. Der Begriff wurde nach Kriegsende 1945 fälschlicherweise in "Liberalitas Bavariae" umgewandelt. In dieser Form gilt er als Ausdruck für eine typische bayerische Freizügigkeit und entwickelte sich zum politischen Schlagwort und Kampfbegriff.
Bedeutung des Wortes "Liberalitas" im 18. Jahrhundert
Im Augustinerchorherrenstift Polling (Lkr. Weilheim-Schongau), einem der wichtigsten geistlichen und geistigen Zentren des 18. Jahrhunderts in Bayern, erscheint zum ersten Mal - soweit bekannt - der Begriff "Liberalitas Bavarica", und zwar an prominenter Stelle über dem Hauptportal der Kirche. Portal und Eingangshalle wurden wohl in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts errichtet.
In der klassischen Latinität bedeutet "liberalitas" soviel wie edle, freisinnige Denk- und Handlungsart, wohlwollende Gesinnung und Güte. So hat Cicero (106-43 v. Chr.) etwa das Wort gebraucht. Später, bei Tacitus (ca. 55-116/120), Apuleius (ca. 125-190) oder Cassiodor (ca. 490-583) kommt es auch im ganz konkreten Sinn des freigebigen Geschenks oder überhaupt der Schenkung vor. In einer spätantiken Inschrift z. B. ist die Rede von "liberalitates publicae" (entspricht dem Nominativ Plural und bedeutet öffentliche Ausgaben, Schenkungen) im Gegensatz zur "privata parcitas" (private Sparsamkeit). Für den Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts ist die Stelle aus einer Predigt des Joseph Ignaz Claus (1691-1775) bezeichnend, wo "liberalitas" als Tugend auftaucht, die der "avaritia", dem Geiz, entgegengesetzt ist. Lexika des 18. Jahrhunderts definierten "liberalitas" als wohlbemessene Freigebigkeit.
Bedeutung der "Liberalitas" im Augustinerchorherrenstift Polling
In der kurzen Geschichte des Stiftes Polling, die Propst Franz Töpsl (1711-1796) 1760 publizierte, findet sich folgende aufschlussreiche Stelle: "Monere hic eruditum Lectores debemus, Nobiles de Wilheim [...] Quamvis autem Nobiles isti elapso Saeculo in complura praedia nostra fuerint immissi, nec exigua Ecclesiae nostrae Damna intulerint [...] negare tamen non possumus, eos postea valde erga nos fuisse liberales, atque beneficos, usque dum nobilissima haec Familia penitus fuerint extincta" (Töpsl, Succincta, 37). Zusammen mit "beneficus" bildet "liberalis" ein Hendiadyoin (eine verstärkende Verbindung zweier synonymer Worte) und bezeichnet nichts anderes als die vorher beschriebene großzügige Stiftertätigkeit einer Adelsfamilie für die Pollinger Chorherren.
In den Memorabilia de Canonia Pollingana, erschienen 1818, berichtet der letzte Propst von Polling, Johann Nepomuk Daisenberger (1753-1820), ausführlich von der Ausstattung des Stifts mit Gütern und Rechten durch die bayerischen Herzöge und Kurfürsten, die "domus bavarica". Aus diesem Grund habe das beschenkte Stift der "pietas boica", also den ehrerbietigen Gefühlen der bayerischen Herrscher gegenüber Polling, ein Denkmal setzen wollen: "über dem Portal des Heiligtums aber glänzen zu ewigem Andenken in goldenen Lettern die Worte: Liberalitas Bavarica". Es geht also nur um die im Materiellen sich ausdrückende Stiftergesinnung. Weitergehende Deutungen führen in die Irre.
Die Inschrift steht nicht für sich allein über dem Kirchenportal, sondern bildet die Basis einer Pyramide: Über der Inschriftkartusche erhebt sich ein flammendes Herz und aus diesem wiederum wächst ein Kreuz hervor. In dieser Kombination sind die drei Elemente bezeichnet, auf denen die Existenz des Augustinerchorherrenstifts Polling beruht, nämlich:
- die "Liberalitas Bavarica", also die freigebigen Stiftungen der bayerischen Herrscher, wodurch der materielle Bestand des Klosters gesichert wird.
- die Regel des Heiligen Augustinus (354-430), dessen gängiges Attribut im 18. Jahrhundert das flammende Herz war. Die Ordensregel formt das geistliche Leben des Stiftes und weist zugleich den Weg zum überirdischen Ziel.
- das Ziel, nämlich Christus, repräsentiert im Kreuz, das im Übrigen in Polling wegen der vorhandenen berühmten Crux Pollingana, eines romanischen Kruzifixes, besondere Verehrung genoss.
Wiederentdeckung und Umdeutung in der Forschung nach 1945
1947 griff der Schriftsteller und Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein (1882–1957) das Thema innerhalb eines Vortrages auf und umschrieb die "Liberalitas Bavarica" mit den Begriffen "bayerische Freigebigkeit, bayerische Großzügigkeit", "Liberalität" und "Münchner Liberalität, in welcher auch die Humanität enthalten ist" sowie mit "Münchner Gastfreundschaft" (Hausenstein, München, 12, 14, 16). 1968 setzte sich der Kunsthistoriker Herbert Schindler (1923–2007) ausführlich mit der "Liberalitas Bavarica" auseinander. Er kannte den Begriff offensichtlich nur aus dem Werk Hausensteins und hatte sich den eigenen Augenschein erspart, schrieb er doch, die Inschrift an der Pollinger Kirche sei seltsamerweise verschwunden. Schindler fand das Wort merkwürdig, glaubte, dass es sich bündiger Erklärung entziehe und ein klassisches Beispiel bayerischer Hintersinnigkeit sei. Er bezog sich auf die Kernthese von Hausenstein und deutete die Bezeichnung "Liberalitas Bavarica" als die "bayerische Liberalität".
Hausensteins und Schindlers Übersetzung verdienen diesen Namen nicht; der Pollinger Inschrift wird teils ein Sinn untergeschoben, den sie niemals hatte. Was Hausenstein unter bayerischem Wesen verstand, ist im Einzelnen verschwommen und unklar. Aber so etwas wie einen bayerischen Nationalcharakter mit ausgeprägt positiven Zügen zu konstruieren, lag durchaus im Zeitgeist.
Falsche Form: "Liberalitas Bavariae"
Hatten Schindler und vor ihm Hausenstein den Wortsinn von "Liberalitas Bavarica" erweitert und verändert, so wurde wenig später sogar der Wortlaut der Pollinger Inschrift verfälscht. Aus der "Liberalitas Bavarica" wurde die "Liberalitas Bavariae". Jetzt war nicht mehr eine bestimmte Ausprägung von "Liberalitas" durch das Adjektiv "Bavarica" als bayerisch bezeichnet, sondern sie erschien jetzt durch den attributiven Genitiv "Bavariae" als besondere Eigenart Bayerns, gewissermaßen als Stammeseigenschaft. Diese Version hat wohl Georg Lohmeier (1926-2015) erfunden. 1971 ist erstmals seine Aufsatzsammlung mit dem Titel "Liberalitas Bavariae" erschienen. Liberalitas Bavariae, schreibt Lohmeier sachlich unzutreffend, stehe in ehernen Lettern über dem Portal der ehrwürdigen Stiftskirche der Augustinerchorherren zu Polling. Und seine Interpretation: "Aber ausgerechnet über der Kirche eines bayerischen Stiftes verklärt sich das Wort zu einem dunklen Programm. Liberalitas ist aber kein dunkles Wort, sondern ein überaus lichtes, freundliches, denn es heißt wörtlich: die Freundlichkeit, die gütige edle Gesinnung eines Menschen" und die "hohe, edle Gesinnung eines vornehmen, gebildeten Herrn [...], der aber in seinem Wesen auch noch dazu voll der bayerischen Freundlichkeit und Gemütlichkeit ist" (Lohmeier, Liberalitas, 188).
Wandlungsfähiges politisches Schlagwort
Die "Liberalitas Bavarica" hat heute ihren ursprünglichen, vom Erfinder gemeinten Wortsinn, den Pollinger Sinn, abgestreift, hat gefühlsbetonte Nachbarbegriffe wie Liberalität, Freundlichkeit, Gemütlichkeit an sich herangezogen und sich mit diesen vereinigt. Das Schlagwort ist zu einem Symbol für eine Denk- und Verhaltensweise geworden, die, jeweils zeitgebunden, als ideal angesehen wird. Gerade die Verschwommenheit des begrifflichen Inhalts und die Möglichkeit, diesen Inhalt nach Bedarf zu verändern und zu erweitern, lassen das Schlagwort zu einer hervorragenden Waffe in der politischen Auseinandersetzung werden. Die "Liberalitas Bavarica" oder "Liberalitas Bavariae" ist Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts sogar zum politischen Kampfbegriff geworden, was beispielsweise 2010 in der Diskussion um eine strenge Rauchergesetzgebung zu beobachten war. Aufschlussreich ist schließlich die Internetrecherche: Über Google waren im April 2011 sage und schreibe 14.800 Einträge für "Liberalitas Bavariae" und vergleichsweise bescheidene 1.810 Einträge für das eigentlich korrekte "Liberalitas Bavarica" zu ermitteln.
Literatur
- Wilhelm Bauer, Das Schlagwort als sozialpsychische und geistesgeschichtliche Erscheinung, in: Historische Zeitschrift 122 (1920), 189-240.
- Richard van Dülmen, Propst Franz Töpsl (1711-1796) und das Augustinerchorherrenstift Polling, Kallmünz 1967.
- Egon Johannes Greipl, Liberalitas Bavarica. Von Polling ins Maximilianeum, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 81 (2018), 475-495.
- Hans Pörnbacher, Vom Mäzenatentum im alten Bayern. Überlegungen zum Begriff "Liberalitas Bavarica", in: Schönere Heimat 74 (1985), 10-16.
- Rupert Stettner, Liberalitas Bavariae. Staatsrechtlich gesehen, in: Bayerische Verwaltungsblätter 120 (1989), 513-521.
Quellen
- Johann Nepomuk Daisenberger, Memorabilia de Canonia Pollingana, o. O. 1818.
- Wilhelm Hausenstein, München. Gestern, heute, morgen, München 1947.
- Georg Lohmeier, Liberalitas Bavariae. Von der guten und weniger guten alten Zeit in Bayern, München 1971.
- Herbert Schindler, Bayerische Symphonie. 2. Band: Kunst und Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft, München 1968.
Weiterführende Recherche
liberalitas bavariae
Empfohlene Zitierweise
Egon Johannes Greipl, Liberalitas Bavarica, publiziert am 03.05.2011; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Liberalitas_Bavarica (8.12.2024)