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Heißer Sommer (Uwe Timm, 1974)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Uwe Timm (geb. 1940). Das Foto entstand 2013 auf der Frankfurter Buchmesse. (Foto von Lesekreis lizensiert durch CC0 via Wikimedia Commons

von Ulrich Dittmann

Timms Erstlingsroman spielt zur Zeit der Studentenbewegung nach 1967 in München und in seiner Geburtsstadt Hamburg. Trotz der zeitlichen Nähe zum Stoff gelingt dem Autor dank einem hohen Reflexions- und Gestaltungsniveau ein gültiges Zeugnis und zugleich sehr lesbares Buch. Es ist das am weitesten verbreitete zum zentralen Thema der 68er-Bewegung. Uwe Timms Roman (geb. 1940) "Heißer Sommer" erschien 1974 in der von 1973 bis 1978 zum Bertelsmann Verlag gehörenden AutorenEdition, einem in München lokalisierten, von Timm mitbegründeten und wesentlich auch von ihm mitbetriebenen Kollektivunternehmen: Es stellte laut Vorspann ein "neues verlegerisches Modell" dar: "Autoren edieren Autoren", die sich "an einen großen Leserkreis" wenden und in "einer neuen realistischen Prosa" die "gesellschaftlichen Probleme anschaulich und unterhaltsam" darstellen wollen.

Biographischer Horizont

Der gebürtige Hamburger Uwe Timm absolvierte nach der Volksschule mit großem fachlichen Erfolg eine Kürschnerlehre, legte auf dem zweiten Bildungsweg 1963 das Abitur ab und studierte in München und Paris Philosophie und Germanistik; 1971 wurde er an der Ludwig-Maximilians-Universität München bei Max Müller (1906-1994) mit einer Arbeit über Albert Camus (1913-1960) zum Dr. phil. promoviert. Zusammen mit seiner Frau Dagmar Ploetz (Hochzeit 1969), Roman Ritter (geb. 1943), Klaus Konjetzky (geb. 1943) und Jürgen P. Stössel (geb. 1939) bildete er die "Wortgruppe München", die ab 1971 für fünf Jahre die "Literarischen Hefte" mit gesellschaftskritischer Lyrik und Kurzprosa von Friedrich Christian Delius (geb. 1943), Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929), Martin Walser (geb. 1927), den Redakteuren u. a. herausgab. Von 1973 bis 1981 war Timm Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP).

Timm lebt mit seiner Familie als freier Schriftsteller in München, wo er "den Großteil seines bewussten Lebens" (Uwe Timm in: Daniel Lenz/Eric Pütz [Hg.], Lebensbeschreibungen. Zwanzig Gespräche mit Schriftstellern, München 2000, 96) verbringt, und in Berlin. "Er hat sich nie wieder zurück nach Hamburg gesehnt", schreibt sein Biograph Martin Hielscher (geb. 1957; Martin Hielscher, Uwe Timm, München 2007, 47).

Inhalt

Mit dem für Studentenromane traditionellen Dreiklang von Wein, Weib, Musik setzt das Buch ein; die Geschichte des Studenten Ullrich Krause erfährt früh einen Einschnitt mit der Radionachricht vom Tod eines Berliner Studenten bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien: Der damals von einem Polizisten erschossene Benno Ohnesorg (1940-1967) war ein Freund von Uwe Timm und steht im Zentrum von dessen 2005 erschienener Erzählung "Der Freund und der Fremde". Mit der anschließenden Politisierung Ullrichs werden die Gattungsgesetze des traditionellen Universitätsromans gesprengt. Anstelle ausgelebter akademischer Freiheit und studentischer Späße treten als Hauptmotive die kritische Selbstwahrnehmung und distanzierende Reflexion über Familie und Kindheit. Damit ist auch eine Zuordnung zur Tradition des Bildungsromans ausgeschlossen und der Grundstein für eine neue Gattung, den akademischen Zeitroman, gelegt. Mit der beginnenden politischen Orientierung des Helden verändert sich seine Haltung zu Universität und Wissenschaft sowie auch zu deren Gegenstand - hier eine den Roman durchziehende Beschäftigung mit Friedrich Hölderlin (1770-1843). Leitmotivische Oden-Zitate treten im zweiten und dritten Teil allerdings hinter Polit-Slogans, Herbert Marcuse-Zitate (1898-1979) und Texte der Pop-Kultur zurück. Ullrich beteiligt sich an politischen Aktionen, wie z. B. der Demontage des Hamburger Denkmals eines deutschen Kolonialhelden. Seine Suche nach Solidarität mündet in die Teilnahme an durchaus humoristisch geschilderten studentischen Diskussionen und Teach-ins in Hamburg und München. Dorthin kehrt er nach einer Reise ins eigene Elternhaus und das seiner Freundin mit einem konkreten Berufsziel zurück: Er will Lehrer werden.

Verbreitung

Der Roman wurde ins Holländische, Koreanische, Russische, Thailändische, Tschechische, Türkische und Ukrainische übersetzt, anders als die meisten der folgenden Timm-Bücher aber noch nicht ins Englische. "Heißer Sommer" erschien in einer Sonderausgabe für die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die sozialistischen Länder; nach der Hardcover-Ausgabe gab es drei Taschenbuchausgaben in der Bundesrepublik Deutschland (BRD); vier Buchgesellschaften boten den Mitgliedern den Roman an, dazu auch 2008 die Reihe "München erlesen" in der Bibliothek der Süddeutschen Zeitung (SZ), in der es als eines der ersten vergriffen war.

Literarische Bedeutung

Die dominierend roten Fahnen auf dem Buchumschlag der Erstausgabe signalisierten eine zur Zeit des Erscheinens bereits historisch gewordene Aktualität: "Heißer Sommer" liefert ein gültiges Dokument der Ursprünge der Studentenbewegung, die sich bei Erscheinen des Buches schon auf dem Weg in eine dogmatische Zersplitterung befand.

Zunächst in der Ich-Form begonnen, gewinnt der Text durch die vom lektorierenden Autor-Freund Gerd Fuchs (geb. 1932) vorgeschlagene Er-Form trotz aller autobiographischen Elemente eine objektivierende, über die begrenzte Ich-Perspektive hinausgehende Darstellung. Timm selber spricht von einer "Exploration", die er "beim Schreiben von 'Heißer Sommer'" durchlebte: Er habe angesichts der auslaufenden Studentenbewegung überlegt, "wie meine Situation war, wie ich mich verändert hatte" (vgl. Timm in: Lenz/Pütz [Hg.], Lebensbeschreibungen, 96f.).

Während die dominante zeitgenössische Kritik, die den "Tod des Erzählers" ausgerufen hatte, Timms "neuen Realismus", sein Bekenntnis zum Erzählen heftig beanstandete (Hermann Peter Piwitt, Rückblick auf heiße Tage. Die Studentenrevolte in der Literatur, in: Hans Christoph Buch [Hg.], Literaturmagazin 4. Die Literatur nach dem Tod der Literatur. Bilanz der Politisierung, 35-46, hier 41; Piwitt hat sich später entschieden von seinen Vorbehalten distanziert), behaupten sich bis heute jene Leser, die das Buch für seinen Zeugniswert und Humor schätzen. Aus der überzeugend belegten Sicht des englischen Germanisten Rhys W. Williams (geb. 1946) bildet das Werk Timms den wichtigen Gegenpol zu Peter Handke (geb. 1942). Mit dessen Programm hatte Timm sich schon 1970 essayistisch auseinandergesetzt, und "Heißer Sommer" - sicher der erfolgreichste Band der AutorenEdition - bot eine beispielhaft zeitgerechte Einlösung des eigenen Programms. Motive und Personen aus "Heißer Sommer" tauchen immer wieder in späteren Timm-Büchern auf; der Roman birgt Anregungen für deren Stoffe, für das in den Romanen der folgenden vier Jahrzehnten entfaltete, epische "Timm-Universum".

Literatur

  • Martin Hielscher, Der Tod und das Fest. Über Uwe Timm und das Nachleben der Studentenrevolte in seinem Werk, in: Peter Czoik/Nastasja S. Dresler (Hg.), 50 Jahre '68. "Blumenkinder" und "Revoluzzer" in Kunst, Literatur und Medien des 20. Jahrhunderts (Film-Medium-Diskus, Bd. 107), Würzburg 2020, 229-252.
  • Alois Prinz, Der poetische Mensch im Schatten der Utopie. Zur politisch-weltanschaulichen Idee der 68'er Studentenbewegung und deren Auswirkung auf die Literatur, Würzburg 1990.

Externe Links

Empfohlene Zitierweise

Ulrich Dittmann, Timm, Uwe: Heißer Sommer, 1974, publiziert am 26.11.2012; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Timm,_Uwe:_Heißer_Sommer,_1974> (28.03.2024)