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Arzneibuch des Ortolf von Baierland

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Ortlof von Baierland, "Aderlassbüchlein". (Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 558, 027v)
Ortolf von Baierland, Arzneibuch. (Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 574, 1r)
Ortolf von Baierland: Arzneibuch, Fragment aus dem 14. Jahrhundert, Kapitel 165/166. (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5153 h)

von Ortrun Riha

Etwa im 13. Jahrhundert verfasste der Würzburger Arzt Ortolf von Baierland (ca. 13./14. Jh.) das unter seinem Namen bekannte Arzneibuch. Das 167 Kapitel umfassende Werk basiert stark auf vorangehenden und zeitgenössischen Vorlagen. Es deckt alle Bereiche der mittelalterlichen Medizin ab und stellte bis in die Frühe Neuzeit ein medizinisches Standardwerk im deutschsprachigen Raum dar.

Der Verfasser

Die wenigen Hinweise zur Biografie Ortolfs stammen aus dem Arzneibuch selbst: Dort bezeichnet sich der Verfasser als Arzt in Würzburg sowie als "mayster"; sein Beiname verweist auf die Herkunft aus dem (noch ungeteilten) Herzogtum Bayern. In zwei Urkunden ist ein Chirurg namens Ortolf, der möglicherweise einen universitären Magister- (und nicht nur einen handwerklichen Meister-)titel führte, 1339 als früherer Bewohner einer spitaleigenen Liegenschaft in der Nähe des Würzburger Doms belegt (Dünninger, Haus). Dies spricht für ein gewisses Ansehen und macht eine herausgehobene Tätigkeit als Leibarzt von Bischof und Domherren wahrscheinlich. Ortolf verfügte sowohl über wundärztliche Kompetenz als auch über Lateinkenntnisse. Er hat vermutlich in Frankreich studiert, denn die von ihm gebrauchten Vorlagen sind typisch für den dortigen Schriftenkanon: Speziell in Paris gehörte Ortolfs wichtigste und gleichzeitig jüngste Quelle, das etwa 1240 verfasste "Compendium medicinae" des Gilbertus Anglicus (um 1180-1250), zum Unterrichtsstoff. Für eine genauere Beschäftigung mit der italienischen Medizin bzw. Chirurgie gibt es dagegen keinen Anhaltspunkt. Die Lebensdaten Ortolfs dürften also zwischen 1220 und 1320 liegen; das Arzneibuch ist Ende des 13. Jahrhunderts während (oder nach) Ortolfs Würzburger Zeit entstanden.

Das Arzneibuch

Die Bezeichnung von Ortolfs Werk als "Arzneibuch" kennzeichnet es als "Buch über die Arzneikunst", also als Lehrbuch der Medizin. Es umfasst 167 Kapitel, ist in sieben Teile gegliedert und deckt alle Bereiche der mittelalterlichen Heilkunde ab: Die Kapitel 1-30 beschreiben die theoretischen Grundlagen (Elementen-, Säfte- und Temperamentenlehre, Prinzipien der Diätetik und Therapie). Die Kapitel 31-54 informieren über die Harnschau, Kapitel 55-66 über die Pulsdiagnostik. In Kapitel 67-71 findet sich eine Auswahl aus den bekanntesten hippokratischen Aphorismen und Prognosen, dazu kommt mit Kapitel 72 eine pseudo-hippokratische Prognostik ("Capsula eburnea"). Das lange Kapitel 73 enthält einen dreiteiligen Aderlasstraktat, der allgemeine Hinweise mit einer Blutschau und einem indikationenbezogenen Lassstellenkatalog verbindet. Die vom Kopf bis zu den Füßen geordnete Krankheitslehre mit Behandlungsempfehlungen (Kapitel 74-140) ist der umfangreichste Abschnitt. Abgeschlossen wird das Lehrbuch mit 27 chirurgischen Kapiteln, die teilweise nur aus einem längeren wundärztlichen Rezept bestehen.

Quellen

Wie bei volkssprachigen Fachtexten des Mittelalters üblich, benutzte Ortolf lateinische Vorlagen. Sein Verhältnis zu den Quellen ist in den einzelnen Abschnitten des Arzneibuchs allerdings unterschiedlich ausgeprägt. Am lockersten sind die Verbindungen zu den diätetischen Aussagen im 'Liber regius ad Almansorem' des arabischen Gelehrten Rhazes (ca. 865-932) im ersten Abschnitt. Am engsten folgt Ortolf den hippokratischen Merksätzen, die der im unteritalienischen Medizinzentrum Salerno tätige Konstantin von Afrika (ca. 1010-1087) aus dem Griechischen übersetzt hatte. Für den Harntraktat bilden der "Liber de urinis" des Isaac Judaeus (ca. 860-950) sowie das "Carmen de urinis" von Aegidius Corboliensis (ca. 1140-1224) die Grundlage. Von Letzterem stammt auch ein "Carmen de pulsibus", das Ortolf für die Kapitel 55-66 heranzog. Das seinerseits auf einer Vielzahl von Autoritäten beruhende Kompendium des Gilbertus Anglicus wurde bereits eingangs erwähnt; an ihm orientieren sich die Krankheitslehre sowie die wundärztlichen Kapitel.

Bedeutung

Bis zum Jahr 1300 sind nur wenige deutschsprachige medizinische Texte überliefert. Die meisten davon sind nur sehr kurz. Lässt man das älteste Kräuterbuch, den deutschen "Macer" (ca. 13. Jahrhundert), außer Acht, so sind vor 1250 nur zwei längere Arzneibücher entstanden: Der "Bartholomäus" (ca. 12. Jahrhundert) sowie das "Deutsche Salernitanische Arzneibuch" (Ende 13. Jahrhundert). Es handelt sich allerdings eher um Textsammlungen als um zusammenhängende Werke. Im Unterschied dazu ist Ortolfs Text klar strukturiert, durch Querverweise über die Abschnittsgrenzen hinweg vernetzt und in sich inhaltlich kohärent. Im Vergleich zu den Vorlagen ist das Interesse an Phänomenen und Lösungen größer als an Theorien. Souveränität und Eigenständigkeit zeigen sich durch Anpassung der Quellenaussagen an Ortolfs eigenes Konzept. Er formuliert didaktisch geschickt und neigt im Ausdruck zur aphorismenartigen Verdichtung in Form von Merksätzen, die komplexe Sachverhalte auf einen einprägsamen, einfachen Nenner bringen. Außerdem arbeitet Ortolf mit leitmotivartigen Wiederholungen, von denen die Zeichen eines Übermaßes an Blut im Körper (Blutfülle, Plethora) am häufigsten sind.

Überlieferung

Es sind über 60 Handschriften bekannt, die Ortolfs Arzneibuch fast vollständig enthalten, wobei komplette Vollständigkeit nur in acht Fällen vorliegt. Fast alle Manuskripte stammen aus dem 15. Jahrhundert; der regionale Schwerpunkt ist der bairische und alemannische Sprachraum. Dazu kommen sieben Druckauflagen, darunter eine niederdeutsche Fassung, die 1596 ins Dänische übersetzt wurde. Außerdem führte die Einteilung des Arzneibuchs in thematische Blöcke dazu, dass oftmals einzelne Wissensgebiete aus dem Werk herausgelöst und in einen anderen Zusammenhang eingerückt wurden. Insofern überwiegt die Teilüberlieferung mit weit über 100 Manuskripten: Der Harn-, der Puls- und insbesondere der Aderlasstraktat sind in der Überlieferung jeweils eigene Wege gegangen und wurden in entsprechende Kompilationen integriert. Man kann sogar behaupten, dass es schwierig sein dürfte, einen deutschsprachigen mittelalterlichen Text zu diesen drei Themen zu finden, in dem Spuren von Ortolf völlig fehlen.

Rezeption

Die Streuüberlieferung einzelner Kapitel gehört mehr in die Wirkungs- als in die Überlieferungsgeschichte. Insbesondere die wundärztlichen Kapitel mit ihren einfachen Rezepten waren erfolgreich und fanden bis in die Neuzeit Eingang in chirurgische Abhandlungen, z. B. bei Konrad von Eichstätt (gest. 1342), Peter von Ulm (15. Jh.), Hieronymus Brunschwig (1450-1512) und Oswald Gäbelkower (1539-1616). Einzelne Passagen wurden sogar ins Lateinische rückübersetzt und als Bildbeischrift zur chirurgischen Demonstrationszeichnung des sogenannten Wundenmanns benutzt, der auch im Buchdruck verbreitet wurde und auch in italienischer und spanischer Version belegt ist. In vielen frühneuzeitlichen "Hausbüchern" trifft man ebenfalls auf Ortolf-Splitter (z .B. "Iatromathematisches Hausbuch", "Promptuarium medicinae", "Hausarmenschatz", "Versehung eines Menschen Leib, Seel, Ehr und Gut"). Zur Rezeption gehören ferner untergeschobene Texte viel jüngeren Datums: In einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert erscheint Ortolf als Verfasser eines Traktats von "gebrannten Wässern", im Erstdruck von 1477 werden Ortolf Monatsregeln zugeschrieben und es gibt ein pseudo-ortolfisches Frauenbüchlein (1495 und 1525 gedruckt).

Forschungsgeschichte

In der Medizingeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde Ortolf falsch eingeschätzt, weil man nicht die Handschriften, sondern nur die Drucke kannte und nicht das eigentliche Arzneibuch, sondern seine Wirkformen (die Streuüberlieferung) beurteilte. Erst die zunächst unpublizierte Dissertation von James Follan von 1956 mit der Erstausgabe (veröffentlichte Neufassung von 1963) korrigierte diese Einschätzung. Parallel dazu konnten immer mehr handschriftliche Belege verbucht werden (Keil, Arzneibuch; Keil, Ergänzungen). Von 1984 bis 1992 wurden die Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte Ortolfs durch ein Teilprojekt im Rahmen des Würzburg-Eichstätter Sonderforschungsbereichs 'Wissensvermittelnde und wissensorganisierende Literatur im Mittelalter' bearbeitet (Keil, teutsch puech) und sein Verhältnis zu den Quellen geklärt (Riha, Quellen). 2014 sind eine kommentierte Neuausgabe (Riha, Arzneibuch) und eine Übersetzung (Riha, Heilkunde) erschienen.

Dokumente

Literatur

  • Hans Dünninger, Wo stand das Haus des Mag. Ortolf, "arzet in Wirzeburc"?, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 9 (1991), 125-133.
  • Gundolf Keil, Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland. Sein Umfang und sein Einfluß auf die "Cirurgia magistri Petri de Ulma", in: Sudhoffs Archiv 43 (1959), 20-60.
  • Gundolf Keil, Ortolfs Arzneibuch. Ergänzungen zu James Follans Ausgabe, in: Sudhoffs Archiv 53 (1969), 119-152.
  • Gundolf Keil, Ortolf von Baierland (Würzburg), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 7. Band, Berlin u. a. 2., völlig neu bearbeitete Auflage 1989, Sp. 68-82.
  • Gundolf Keil (Hg.), "Ein teutsch puech machen". Untersuchungen zur landessprachlichen Vermittlung medizinischen Wissens (Wissensliteratur im Mittelalter 11 = Ortolf-Studien 1), Wiesbaden 1993, 15-38.
  • Ortrun Riha, Mittelalterliche Heilkunst. Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland (um 1300). Eingeleitet, übersetzt und mit einem drogenkundlichen Anhang versehen (DWV-Schriften zur Medizingeschichte 15), Baden-Baden 2014.
  • Ortrun Riha, Ortolf von Baierland und seine lateinischen Quellen. Hochschulmedizin in der Volkssprache (Wissensliteratur im Mittelalter 10), Wiesbaden 1994.

Quellen

  • James Follan (Bearb.), Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland nach der ältesten Handschrift (14. Jahrhundert) (Stadtarchiv Köln W 4° 24*), Stuttgart 1963.
  • Ortrun Riha (Bearb.), Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland. Auf der Grundlage des von Gundolf Keil geleiteten Teilprojekts des SFB 226 zum Druck gebracht, eingeleitet und kommentiert (Wissensliteratur im Mittelalter 50), Wiesbaden 2014.

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Ortrun Riha, Arzneibuch des Ortolf von Baierland, publiziert am 13.05.2015; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Arzneibuch_des_Ortolf_von_Baierland (19.03.2024)